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Trauer um die Opfer: Am 19. Dezember 2016 rast der Tunesier Anis Amri mit einem Lastwagen in eine Budengasse des Weihnachtsmarktes an der Gedächtniskirche. Zwölf Menschen verlieren ihr Leben, 55 werden verletzt.

© Maurizio Gambarini/dpa

Entwicklungspsychologie: Der leise Weg zum Terror

In einem europaweiten Projekt untersucht der Psychologe Herbert Scheithauer, warum sich Jugendliche radikalisieren – und was man dagegen tun kann.

Was muss im Leben eines Jugendlichen passieren, damit er nach Syrien reist und Mitglied einer terroristischen Vereinigung wird? Welche Motive stecken dahinter, wenn sich Menschen von Hasspredigern vereinnahmen und zu Gewalttaten hinreißen lassen? Wie kann man erkennen, dass sich Jugendliche radikalisieren? Und wie rechtzeitig einschreiten, um Schlimmeres zu verhindern?

Diesen Fragen widmet sich das interdisziplinäre und von der Europäischen Union für drei Jahre geförderte Forschungsprojekt „MINDb4ACT“. Hinter der Abkürzung steckt der englische Titel „Mapping, Identifying and Developing skills and opportunities in operating environments to cocreate innovative, ethical and effective ACTions to tackle radicalization leading to violent extremism“. Die Leitung des am Arbeitsbereich Entwicklungswissenschaft und Angewandte Entwicklungspsychologie der Freien Universität angesiedelten Teilprojektes hat Professor Herbert Scheithauer; der gesamte Forschungsverbund, an dem sich 18 Partner aus zehn europäischen Ländern beteiligen, wird vom Elcano Royal Institute in Madrid geführt. Auf Basis seiner früheren Studien zu schweren zielgerichteten Gewalttaten an Schulen – sogenannten school shootings – will der Entwicklungspsychologe insbesondere Möglichkeiten untersuchen, wie man Radikalisierungen von Jugendlichen vorbeugen kann.

Viele Parallelen zu Amokläufern an Schulen

Scheithauer geht davon aus, dass sich bei Amokläufern im Schulkontext und bei Attentätern von terroristischer Gewalt viele Gemeinsamkeiten finden lassen: „Wenn wir uns mit Taten in Deutschland beschäftigen, stellen wir fest, dass es in einigen Fällen terroristischer Gewalt vor der Tat ähnliche Entwicklungen wie bei Tätern von ,School shootings‘ gibt“, sagt er. Der Entwicklungspsychologe hat bereits detaillierte Studien an Schulen durchgeführt – und dabei erfolgreich ein Präventionsprogramm zur Früherkennung von Jugendlichen entwickelt, die ein erhöhtes Risiko haben, eine schwere Gewalttat an Schulen zu begehen. „Im Kontext von ‚School shooting‘ haben wir das Programm ,Netwass‘ (www.netwass-projekt.de) aufgebaut und Netzwerke an Schulen etabliert, die sich an gefährdete Schüler richten. Für radikalisierte Jugendliche wollen wir ein ähnliches Programm entwickeln“, berichtet Scheithauer.

Doch welche Anzeichen gibt es, welche Signale senden radikalisierte, gewaltbereite junge Menschen aus? Professor Scheithauer hat dazu eine erste Hypothese: „Es gibt ein paar Kriterien, die aufhorchen lassen: Die betroffenen Schüler erzählen zum Beispiel oft von Gewaltfantasien, fühlen sich marginalisiert. Sie weisen Verhaltensveränderungen auf: Sie kleiden sich anders, sie interessieren sich für Waffen, manche zeigen auch Anzeichen einer Depression. Es gibt viele Auffälligkeiten, die einer Tat vorausgehen.“ Wenn man diese Anzeichen frühzeitig erkenne, sagt Scheithauer, könne man einer gewaltbereiten Entwicklung vorbeugen.

Am Anfang stehen oft Verletzlichkeit und Ausgrenzung

Meist stehe am Anfang einer Radikalisierung keine langjährige politische Auseinandersetzung, häufig seien Verletzlichkeit und das Gefühl der Ausgrenzung entscheidend. „Oft findet auch keine intensive Beschäftigung mit religiösen Themen statt. Es geht eher um subjektive Motive: Gewaltbereite Jugendliche fühlen sich zum Beispiel an den Rand gedrängt, ungerecht behandelt. Das ist der Nährboden für ihre krisenhafte Entwicklung.“

Bestehende Ansätze zur Früherkennung beschränkten sich oftmals auf den nationalen Rahmen und erschwerten so den erfolgreichen Umgang mit diesem gravierenden, oftmals länderübergreifenden Problem, sagt Scheithauer. Deshalb sollen im Forschungsverbund der bisherige Wissensstand systematisch aufgearbeitet, Strategien der Deradikalisierung betrachtet und eine interdisziplinäre, internationale Zusammenarbeit etabliert und gefördert werden.

Abschließend soll getestet werden, ob das Präventionssystem in der Praxis taugt. Dem gesamten Forschungsverbund steht für die kommenden drei Jahre ein Budget von insgesamt drei Millionen Euro zur Verfügung.

Es gebe noch einige Fallstricke, die ausgeräumt werden müssten, sagt Herbert Scheithauer: Die Entwicklung eines Präventionsprogramms werde etwa durch den Umstand erschwert, dass sich die Wege in eine Radikalisierung verändern – beispielsweise durch den Einfluss neuer Medien oder aufgrund von aktuellen, weltpolitischen Ereignissen. Der Psychologe ist sich dennoch sicher, dass es einen hohen Bedarf an Präventionsprogrammen insbesondere im Schulumfeld gibt, nur noch keine verlässlichen Untersuchungen. Genau das soll sich durch das Projekt jetzt ändern.

Mehr zu "MINDb4ACT" finden Sie hier.

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