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Im Herzen von Dahlem: Edouard Louis nach seiner Antrittsvorlesung an der Freien Universität im Juli 2018.

© Freie Universität Berlin

Die Samuel-Fischer-Gastprofessur für Literatur: Weltberühmt in Dahlem

Vor 20 Jahren wurde am Peter-Szondi-Institut der Freien Universität Berlin die Samuel-Fischer-Gastprofessur für Literatur eingerichtet. Seitdem haben Hunderte Studierende die Gelegenheit genutzt, in Seminaren mit international bekannten Autorinnen und Autoren zu diskutieren.

László Krasznahorkai zum Beispiel. Der ungarische Autor, der im Sommersemester 2008 die Samuel-Fischer-Gastprofessur für Literatur besetzte, sprach mit den Studierenden über Anfänge, darüber, „wie und wann Dinge beginnen, ob nun eine Liebe oder ein Kunstwerk“. Zu oft gehe es allein um den Verfall, den Niedergang und den Verlust in der Literatur. „Vom Universum des Anfangs“ überschrieb Krasznahorkai deshalb sein Seminar.

Teresa Präauer nannte ihre Antrittsvorlesung „Tier werden“: Tauben als Briefboten, die Feder als frühes Schreibwerkzeug des Menschen – die Vogelkunde und die Literatur seien sich schließlich sehr nah, sagt die österreichische Schriftstellerin. In ihrem Seminar „Poetische Ornithologie – zum Flugwesen in der Literatur“ im Sommer 2016 wollte sie – „mit einem Augenzwinkern“ – die Gründung eines „Lehrstuhls für Poetische Ornithologie“ vorantreiben.

Oder Edouard Louis: in doppelter Hinsicht das jüngste Beispiel. Der durch seine autobiografischen Bücher „Das Ende von Eddy“ und „Im Herzen der Gewalt“ rasch zum Kultautor aufgestiegene Franzose war in diesem Sommersemester Gastprofessor an der Freien Universität. Auf dem Dahlemer Campus konnte man den knapp 26-Jährigen schon mal mit seinen Studierenden verwechseln. Mit ihnen las er in seinem Seminar „History of literature, history of violence“ Texte von Marguerite Duras, Michel Foucault, Toni Morrison und Swetlana Alexijewitsch; gemeinsam diskutierten sie darüber, ob man über Dinge schreiben könne, die man nicht selbst erlebt habe.

Der Begriff Autor ist offen

Krasznahorkai, Präauer und Louis sind drei von inzwischen 40 Autorinnen und Autoren, die seit 1998 am Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (AVL) der Freien Universität auf der Samuel-Fischer-Gastprofessur gelehrt haben, die in diesem Herbst 20-jähriges Bestehen feiert. Wobei der Ausdruck „gelehrt“ es im strengen Sinne nicht trifft: Die Professur ist keine Poetikdozentur, kein Creative-writing-Seminar, keine Schreibwerkstatt und kein Writers-in-Residence-Programm. Die Autoren sollen während ihres Dahlemer Aufenthalts weder Studierenden das Schreiben beibringen noch an ihrem eigenen Werk arbeiten – sie sollen vielmehr nach eigenem Interesse und auf eigene Weise Literatur vermitteln. Jeder Gast wählt die Thematik, den Stil und das Format seiner Veranstaltung selbst. Schriftstellerinnen, Publizisten und Filmemacher waren schon da: Auch der Begriff Autor ist offen.

Die gewährte Freiheit nutzten die Berufenen sehr unterschiedlich. So zeigte Vladimir Sorokin – der erste Samuel-Fischer-Gastprofessor im Sommersemester 1998 – in seinem Seminar sowjetische Schwarz-Weiß-Filme; Feridun Zaimoglu veranstaltete Mini-Talkshows, zu denen er mal einen Autor, mal eine Journalistin oder einen Filmemacher einlud; László Krasznahorkai interviewte wöchentlich einen ausländischen Künstler am Telefon. Und Marlene Streeruwitz behandelte in einem kulturkritischen Vortrag „Das Dirndl als Text“.

Entworfen wurde die 1998 eingerichtete Gastprofessur von Komparatistik-Professor Gert Mattenklott vom Peter-Szondi-Institut der Freien Universität und von Andreas Wilkes, Geschäftsführer des Veranstaltungsforums der Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck. Den Kontakt zur Freien Universität hatte der damalige Generalsekretär des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) Heinz Christian Bode hergestellt; gemeinsam mit Hans Jürgen Balmes, damals wie heute Lektor und Programmleiter für internationale Literatur im S. Fischer Verlag, schmiedeten sie eine enge Kooperation. Das Ziel der Gastprofessur, die programmatisch nach Samuel Fischer (1859–1934) benannt wurde, dem Verleger etwa von Thomas Mann, Henrik Ibsen, Virginia Woolf und Sigmund Freud: wie Fischer seinerzeit Weltliteratur nach Berlin zu bringen, außerdem das akademische Literaturstudium enger mit der schreibenden Zunft zu verbinden und deutsche und ausländische Schriftstellerinnen und Schriftsteller mit Studierenden der Freien Universität in einen direkten Austausch zu bringen.

Berlin gehört zur DNA des Verlags

Mission geglückt, lässt sich zum 20-jährigen Jubiläum sagen. Jedes Semester, winters wie sommers, reist seitdem ein international renommierter Künstler oder eine Künstlerin nach Dahlem. Auf diese Kontinuität und ihre enge Zusammenarbeit sind die Partner stolz: „Wir sind ein hervorragendes Team“, sagt Claudia Olk. Die Anglistikprofessorin am Peter-Szondi-Institut betreut die Gastprofessur seit 2011. „Die Veranstaltungen sind eine enorme Bereicherung für das akademische Leben an der Freien Universität.“ Mitinitiator Andreas Wilkes wertet die Professur als „gelungenes Beispiel für eine Public Private Partnership: mit einer hohen Akzeptanz bei den Studierenden und der an Literatur interessierten Öffentlichkeit“. Dem Erbe Samuel Fischers folgend gebe es immer wieder auch Verbindungen zum Theater, etwa zum Berliner Ensemble oder zur Schaubühne. Dort war im Sommer Edouard Louis’ Buch „Im Herzen der Gewalt“ inszeniert worden.

Für den S. Fischer Verlag sei die Samuel-Fischer-Gastprofessur eine Art Heimkehr, sagt Hans Jürgen Balmes: „Berlin ist in der DNA des 1886 gegründeten Verlags. Das und die Weltoffenheit des Gründers Samuel Fischer, der mit dem Blick über die Grenzen der zeitgenössischen Literatur einen Ort gab, haben uns bewogen, den Anstoß zu der Gründung der Gastprofessur zu geben. Es war ein Glücksfall, dabei auf die Freie Universität, den DAAD und das Veranstaltungsforum der Holtzbrinck Gruppe zu stoßen. Es macht uns glücklich, dass die Autorinnen und Autoren in den 20 Jahren den Studierenden einen anderen Blick auf die Literatur vermitteln konnten: nicht unter dem akademischen Brennglas von außen, sondern durch den Einblick in den künstlerischen Prozess von innen.“

Der DAAD vernetze durch die Förderung von Künstlerdozenturen die Arbeit seines Künstlerprogramms mit der von Berliner Hochschulen, sagt Silvia Fehrmann, Leiterin des Berliner Künstlerprogramms des DAAD: „Was für ein Gewinn für Berliner Studierende, politische wie ästhetische Fragestellungen im konzentrierten Austausch mit den Gastprofessoren erkunden zu können. Anhand literarischer Texte werden postkoloniale Perspektiven erörtert, digitale Entwicklungen kritisch untersucht, gesellschaftliche Fragen diskutiert und dabei immer wieder die Rolle von Literatur reflektiert.“

Jedes Seminar ein Experiment

Tatsächlich wirken die Autorinnen und Autoren mit ihren frei gestalteten Seminaren jenseits des Rahmenlehrplans im routinierten Unibetrieb als willkommene Impulsgeber. Für Lea Dahm etwa. Die Studentin hat 2016, damals im dritten Semester ihres Bachelorstudiums Publizistik- und Kommunikationswissenschaft sowie Literaturwissenschaft, das Seminar des afrikanischen Autors Abdourahman Waberi besucht. Obwohl ihr „Schulfranzösisch gerade so gereicht“ habe, um den Veranstaltungen folgen zu können, habe sie enorm profitiert: „Ich habe viel über afrikanische Literatur gelernt; das AVL-Institut legt den Schwerpunkt sonst vor allem auf europäische Literatur.“

Aljoscha Prange, Masterstudent im Fach Zentralasienstudien an der Humboldt-Universität, hat sich für Edouard Louis und die Möglichkeit, „die Person hinter den Büchern kennenzulernen“, regelmäßig auf den Weg nach Dahlem gemacht. Er schätzte den „sehr freien, lebendigen Gedankenaustausch“ mit dem französischen Starautor. Das Zusammentreffen mit Autorinnen und Autoren der Weltliteratur in nahezu privater Atmosphäre – das klingt in allen Gesprächen an – ist für die Studierenden ein Glanzpunkt ihres Studiums. An den sie der prominent unterschriebene Seminarschein erinnert – mehr Autogrammkarte als Teilnahmenachweis.

Jedes Seminar ein Experiment. Je weniger routiniert die Gäste als akademische Lehrer seien, desto besser, sagt Oliver Lubrich. Zunächst als Assistent von Gert Mattenklott, dann als Juniorprofessor am Peter-Szondi-Institut, hat der Wissenschaftler die Anfänge der Gastprofessur miterlebt und sie nach Gert Mattenklotts Tod weiterbetreut. Inzwischen ist er Komparatistik-Professor an der Universität Bern und hat dort vor fünf Jahren nach dem Berliner Vorbild die Friedrich-Dürrenmatt-Gastprofessur für Weltliteratur eingerichtet. Woran er sich aus seiner Dahlemer Zeit erinnert? An den Aufenthalt von V. Y. Mudimbe im Sommer 1999 zum Beispiel. Der kongolesische Schriftsteller lehnte es zwar ab, per E-Mail zu korrespondieren, setzte sich aber für eine Diskussion im Haus der Kulturen der Welt mit Peter Weibel, einem Medientheoretiker, aufs Podium. Damals eine kleine Sensation, erzählt Lubrich. Oder an Kenzaburo Ôe, den japanischen Literaturnobelpreisträger, der nach seiner Ankunft in Tegel erst einmal eine Bratwurst essen wollte. Auf dem Kurfürstendamm, wohin Lubrich ihn brachte, fand es der Japaner „beschaulich“ – da hatte er noch nicht einmal Dahlem gesehen.

Ist das die deutsche Hauptstadt?

Überhaupt Dahlem: Dass sie sich in dem idyllischen Bezirk in einer Metropole befinden sollen, mag mancher Gast nicht glauben: „Und wo ist Berlin?“, fragte sich Yann Martel. „Diese Ansammlung von Bäumen, Seen und Villen konnte doch nicht die deutsche Hauptstadt sein? Ich wartete ja beinahe, dass ich Kuhglocken hörte“, schrieb der kanadische Autor später in seinem Essay „Berliner Monate“ über seine Ankunft in Dahlem.

Für die Gastprofessur angeworben werden die Autorinnen und Autoren aus vielen Orten der Welt und an vielen Orten. Und manchmal auch unter besonderem körperlichem Einsatz: David Hinton, der US-amerikanische Übersetzer aus dem klassischen Chinesisch, überredete Professorin Claudia Olk bei ihrem Besuch in Vermont zu einer Tour auf den Hunger Mountain – den Berg seines gleichnamigen Buchs. „It’s a moderate hike“, hatte der Schriftsteller angekündigt. „Es wurde bei Schnee und außerhalb der Wandersaison eine abenteuerliche Kletterpartie“, erinnert sich die Wissenschaftlerin.

In diesem Wintersemester übernimmt der haitianische Schriftsteller Louis-Philippe Dalembert die Samuel-Fischer-Gastprofessur. Mit den Studierenden will er über „Littérature et histoire“ sprechen. Das Projekt Weltliteratur in Dahlem geht weiter.

Am 5. November 2018 findet im Pierre-Boulez-Saal der Berliner Barenboim-Said-Akademie die festliche Jubiläumsveranstaltung „Konzert der Worte“ statt. Weitere Informationen im Internet unter sfischergastprofessur.de oder geisteswissenschaften.fu-berlin.de/fachbereich/gastprof/fischer

Christine Boldt

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