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Michael Spandau behandelt Frauen „von 13 bis 53“ quer durch alle sozialen Schichten.

© imago stock&people

Frauenarzt in Niederbayern: Der letzte, der es wagt, abzutreiben

Michael Spandau, 71, macht seit 15 Jahren vor allem: Schwangerschaftsabbrüche. Weil er der einzige Gynäkologe in ganz Niederbayern ist, der sich das traut.

Alles in der Wohnung des Arztes ist sehr weich. Das flauschige Fell auf der Couch und von seinem Hund Diego, selbst seine Stimme. Als sei das gesamte Setting eines Gesprächs mit ihm am Stadtrand Passaus darauf angelegt, eine Zahl abzufedern: 4.500. So viele Kinder hat der Gynäkologe Michael Spandau auf die Welt geholt, sagt er – und zwar tot und allein in den letzten 15 Jahren. Er wird sagen, er müsse es tun, weil es sonst keiner mache. Er wird sagen: „Ich töte nicht.“ Und: „Ich bin prinzipiell gegen Schwangerschaftsabbrüche.“

Spandau, 71 Jahre alt, wird all diese Sätze erklären, aber erstmal klingelt sein Handy. Schon der achte Anruf heute, sagt er, kurz vor Weihnachten sei Ausnahmezustand, er wisse auch nicht, woran das liege. Dran ist eine Frau, die zu ihm will, zu ihm muss, schließlich hat sie keine Wahl, seit Spandau der Einzige ist, zu dem sie überhaupt kann.

Spandau, der sein ganzes Berufsleben der Gesundheit von Frauen gewidmet hat, könnte sagen: Lasst mich in Ruhe, ich will meine Rente genießen. Aber die nächstgelegenen Kollegen von Spandau, die Schwangerschaften abbrechen, sitzen in Regensburg und München, 120 und 170 Kilometer entfernt. In Niederbayern, wo 1,2 Millionen Menschen leben, ist Michael Spandau allein und macht weiter – was eigentlich?

Ungewollte Schwangerschaften abbrechen, sagen die Frauen, die ihm dankbar sind, weil er sie aus einer Notlage rettet. Abruptio graviditatis nennen es seine Kollegen, die glücklich sind, dass es wenigstens ihn gibt, der eine Arbeit macht, die sie nicht machen wollen. Für seine Gegner ist er ein Mörder.

Niemand wollte die Aufgabe übernehmen

In seiner Wohnung bekommt er nun Empfangsprobleme. Er kann die junge Frau am Telefon nicht mehr hören, die ihn angerufen hat. Spandau stellt sich an die Terrassentür, da geht’s besser. Am Tisch sitzen bleibt seine Frau Gabi. Einst hat Spandau ihre Kinder entbunden, die sie in der Ehe mit ihrem ersten Mann bekam. Über die Jahre mochten sich Arzt und Patientin immer mehr. Als Spandau 50 Jahre alt wurde, schrieb sie ihm eine Karte und bedankte sich. Ein paar Monate später, Spandaus erste Ehe war kaputt, rief er sie an. Sie verliebten sich, 21 Jahre ist das her. Es war ihre Idee, dass aus dem Ehepaar Spandau das OP-Team Spandau wurde. Sie nimmt die Patientinnen auf, er operiert sie.

Erst gingen Spandaus Kollegen, einer hörte auf, weil er sich zu alt fühlte, um weiterzuoperieren. Einer verunglückte tödlich, einer ging zurück in die Slowakei. Spandau hatte, da war er 62, seine Praxis verkauft und in den Vertrag geschrieben, dass er bei den neuen Betreibern weiter Abbrüche machen werde. Fünf Jahre tat er das als Angestellter, niemand wollte die Aufgabe anschließend übernehmen. So schloss er, statt mit 67 in Rente zu gehen, wieder eine Haftpflichtversicherung ab, die ihm erlaubt zu operieren, er kaufte sein altes Ultraschallgerät zurück und machte sich wieder selbstständig. Seit 2011 beendet Spandau, der früher „die ganze gynäkologische Palette“ gemacht hat, ausschließlich Schwangerschaften.

Die Straffreiheit müssen Arzt und Schwangere sich erarbeiten

Er erklärt der jungen Frau am Telefon, sie müsse einen Tag vorher zur Untersuchung kommen, bei der er sicherstellen werde, dass sie maximal in der zwölften Woche schwanger sei. Das ist die gesetzliche Frist, bis zu der Spandau Abbrüche machen darf. Sonst macht er sich strafbar. Und die Frau ebenfalls. So steht es im Strafgesetzbuch in §218, eingeklemmt zwischen §211 (Mord) und §222 (fahrlässige Tötung): „Wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“

Beide – Arzt und Schwangere – müssen sich ihre Straffreiheit erarbeiten, die in §218a geregelt ist. Spandau, der Arzt, indem er sich eine Genehmigung des Landes Bayern besorgt, die Frauen vor dem Eingriff untersucht, sich erklären lässt, warum sie einen Abbruch möchten und sie über die Risiken aufklärt. Die Schwangeren, indem sie mindestens drei Tage vorher zu einer sogenannten Konfliktberatung gehen und sich einen Schein abholen, der ihren Besuch bestätigt. Eine der Stellen, an die sich Frauen in Passau wenden können, heißt pro familia.

Thoralf Fricke, Leiter der Beratungsstelle, hält die Versorgungslage für Frauen, die sich für einen Abbruch entscheiden, für „völlig unzureichend, um nicht zu sagen, katastrophal schlecht“. Er hat sich deswegen an die Landesregierung gewandt. Die sagt: Es gibt eine ausreichende Versorgung im Freistaat. Tatsächlich ist die Lage in München gut, in Franken ebenfalls. Und überhaupt, sagt Fricke, „ausreichend“ – das ließe sich nur schwer in Kilometern oder Fahrtzeit bemessen.

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Kein Frauenarzt darf gezwungen werden

Die Landtagsabgeordnete und frauenpolitische Sprecherin der Grünen, Eva Lettenbauer, sagt: „Frauen müssen organisieren, dass sie sehr weite Strecken, nicht selten über 100 Kilometer, zurücklegen – und zwar mehrmals. Das macht ihre Situation, die ohnehin schon belastend ist, noch schwieriger.“

Bayern verfügt kaum über eigene Gesundheitseinrichtungen, im Grunde bloß die wenigen Universitätskliniken. Thoralf Fricke wünscht sich, dass Kommunen, die Träger der städtischen Krankenhäuser, aktiv nach Frauenärzten suchen, die bereit sind, den Eingriff zu machen. Auf Wunsch und nicht nur im medizinischen Notfall.

Doch in Passau darf, wie in ganz Deutschland, kein Frauenarzt gezwungen werden, Schwangerschaften abzubrechen. Jeder Arzt folgt seinem eigenen Gewissen. Je katholischer ein Landstrich geprägt ist, desto eher entscheiden Ärzte sich für das sogenannte „gottgewollte Leben“. In Niederbayern sind fast 80 Prozent der Menschen katholisch.

In seinem Wohnzimmer schlägt Michael Spandau einen Ordner auf, das Handy und die junge Frau am Ohr, fährt mit dem Kugelschreiber ein paar vollgeschriebene Zeilen nach unten und trägt handschriftlich den Termin für ihre Operation ein.

Er schafft zwölf Abbrüche am Tag

Er kennt einen Anästhesisten, der einen OP angemietet hat, den er wiederum Ärzten zur Verfügung stellt. Der Anästhesist betäubt die Patientinnen, und Michael Spandau macht einmal in der Woche Abbrüche. So ein Eingriff dauert keine zehn Minuten, er ist medizinisch vergleichsweise einfach. Zwölf davon schafft er theoretisch an einem Tag.

Eine typische Patientin gebe es nicht, sagt Spandau. Er habe „von 13 bis 53“ schon Frauen in jedem Alter und aus sämtlichen sozialen Schichten operiert. Er untersucht und belehrt sie und anschließend gibt er ihnen zwei Tabletten mit nach Hause, die das Hormon Prostaglandin enthalten. Am Abend vor der Operation müssen sie sich die Tabletten in die Vagina einführen. Dort löst das Prostaglandin den Abbruch aus. Er saugt am kommenden Tag ab, was übrig ist. Die Patientinnen machen den Abbruch, nicht er. Deshalb sagt er: „Ich töte nicht.“

Michael Spandau hörte zum ersten Mal davon, dass es bald zu seinem Beruf gehören könnte, ungeborene Leben zu beenden, als Senta Berger und Romy Schneider im „Stern“ bekannten: „Wir haben abgetrieben!“ Im Juni 1971 war das, ein ganzes Land stritt bald darüber, ob es Schwangerschaftsabbrüche legalisieren sollte. Spandaus Professor hielt in der Vorlesung einen Fötus hoch, abgetrieben in der zwölften Schwangerschaftswoche. Der Professor schimpfte über die Frauen aus dem „Stern“. Der Student Spandau bewunderte sie für ihren Mut.

„Prinzipiell“, sagt Michael Spandau, sei er gegen Abbrüche. Aber jede Frau habe „nur ein Leben“.
„Prinzipiell“, sagt Michael Spandau, sei er gegen Abbrüche. Aber jede Frau habe „nur ein Leben“.

© picture alliance / dpa

Wann ist der Mensch ein Mensch?

Laut dem Statistischen Bundesamt werden in Deutschland jährlich rund 100.000 Schwangerschaften beendet, gut 11.000 davon in Bayern, fast alle nach einer Beratung bei Stellen wie pro familia. Was ist das, wogegen sich die Frauen entscheiden? Wann ist ein Mensch ein Mensch?

Sobald eine Eizelle befruchtet ist, beziehungsweise sich in der Gebärmutter einnistet, sagen konservative Christen.

Sobald die zwölfte Woche vorbei ist, sagt der Gesetzgeber, der in den Siebzigerjahren diese Zahl bestimmt hat, weil ein Fötus gewissermaßen „fertig“ ist. Körper, Gliedmaßen und Organe sind angelegt, danach wachsen sie nur noch. Sobald ein Fötus außerhalb des Körpers der Mutter überleben könnte, sagt Thoralf Fricke von pro familia, also um die 24. Woche. Das Bürgerliche Gesetzbuch sagt: Mit Abschluss der Geburt ist der Mensch ein Mensch – im juristischen Sinne. Der Arzt Michael Spandau sagt: Sobald der Embryo ein funktionierendes Großhirn hat, ein Bewusstsein und Schmerzempfinden. Neulich las er in einem Fachmagazin, dass all dies wohl erst um die 30. Woche gegeben sei. Bis dahin sei ihm das Leben der Mutter näher als das des Embryos.

Eigentlich wollte er Pfarrer werden

„Prinzipiell“, sagt er, sei er gegen Abbrüche. Aber jede Frau habe „nur ein Leben“. Darüber selbst zu bestimmen, sei für ihn wichtiger. Spandau denkt trotzdem, dass der §218 nicht abgeschafft werden müsse. Nur modifiziert. „Rechtswidrig“ würde er aus dem Gesetzestext tilgen, das sei ein Stigma. Für die Frauen, die zu ihm kommen. Und für ihn, der sie behandelt.

Michael Spandau sagt, er wollte nie der sein, den Studentinnen der Universität Passau einladen, weil sie seine Erfahrungen interessieren und den Fernsehteams besuchen, weil er „der Einzige“ ist. Eigentlich wollte Spandau nicht einmal Frauenarzt werden. Sondern evangelischer Pfarrer. Auf dem Gymnasium war er Teil einer sogenannten Jungschar, organisiert von einer Kirche in Braunschweig, wo er aufgewachsen ist.

Dann begann er „seinen eigenen Verstand einzusetzen“. Er las, der Biologie Richard Dawkins überzeugte ihn von der Evolutionstheorie, wegen des Physikers Stephen Hawking ist er heute Agnostiker. „Ich kann Humanist sein, ohne an Gott zu glauben“, sagt er. Da bleibt er sich treu.

Einmal, erzählt er, kam eine Frau zu ihm, da holte er noch Kinder lebendig auf die Welt. Achte Schwangerschaft, achter Kaiserschnitt, fortgeschrittenes Alter. Spandau warnte sie. Die Frau sagte: Wenn Gott will, dass ich schwanger werde, werde ich schwanger. Wenn Gott will, dass ich bei der Geburt sterbe, sterbe ich. „Da war ihr die restliche Familie egal, ihre sieben Kinder, die ohne Mutter dastünden. Das war ihr Glaube.“

Niederbayern, der Katholizismus und die Politik – diese Zutaten ergeben eine Mischung, die manchmal gefährlich wird. Spandau sagt: „Im Moment kocht es über.“

Ein „Massen- und Völkermörder“ sei er

Er meint die „Lebensschützer“, Menschen, für die ein „gottgewolltes“ Leben immer mehr wert sein wird als die Frau, die es austrägt. Gerade schlägt Spandau sich vor Gericht mit so einem herum. Der hatte ihn als „Massen- und Völkermörder“ beleidigt, Spandau zeigte ihn an. Auch Thoralf Fricke von pro familia kennt den Mann. Er stand im Herbst 40 Tage lang, täglich von 10 bis 15 Uhr, vor Frickes Einrichtung, hielt Poster hoch und verteilte Flyer. Ein antifaschistischer Blog aus Passau hielt im Foto fest, wie sich ein lokaler AfD-Politiker dazugesellte.

Fricke, Spandau und auch die Grünen-Abgeordnete Lettenbauer sagen alle, etwas habe sich verändert, seit die AfD im Herbst 2018 in den bayerischen Landtag eingezogen ist. Lettenbauer merkt es daran, dass sich die politische Debatte verschärft hat. Fricke daran, dass während der Belagerung durch die Lebensschützer vermehrt Termine in seiner Beratung nicht wahrgenommen wurden. Spandau daran, dass er vor Gericht zieht. „Damit muss ich leben“, sagt er voller Gleichmut. Wütend macht ihn eher, wenn er Patientinnen mehrfach im OP sieht, wenn erwachsene Frauen „mit der Methode Spandau verhüten“.

Nur bis zur neunten Woche

Einen Ausgleich findet Spandau, wenn er mit seiner Frau im Wohnmobil nach Kärnten fährt. Das machen sie jedes Jahr. Aber: „Eine Woche im OP kann ich überspringen“, sagt Spandau. „Mehr nicht.“ Also fährt er während seines Urlaubs die gut 350 Kilometer nach Passau, operiert einen Tag lang und fährt zurück.

Spandau sagt: „Es wäre mir wichtig, dass jemand da ist, der weitermacht.“ Neulich hat er von einem Kollegen gehört, der in Landshut, Niederbayern, Abbrüche macht. Anders als Spandau, der operativ arbeitet, führt der Kollege Abbrüche durch, bei denen er ausschließlich Medikamente benutzt. Diese Methode ist in Deutschland nur bis zur neunten Schwangerschaftswoche zugelassen. Mindestens für die restlichen drei Wochen müsste also wieder einer einspringen: Michael Spandau.

Niclas Seydack

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