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Die drei Gesprächspartnerinnen: Beate Hindermann, Sarah Hallmann, Mary Scherpe (v.l.n.r.)

© Mike Wolff

Frauen der Berliner Gastroszene: "Elternzeit ist in der Sterneküche nicht vorgesehen"

Eine Barkeeperin, eine Köchin und eine Bloggerin treffen sich zu einem kulinarischen Gipfeltreffen. Ein Interview über gastronomischen Feminismus und Berlins Szene.

Frau Hindermann, wir sitzen bei Ihnen in der Victoria Bar zusammen, um 18.30 Uhr wird geöffnet. Wann ist Ihre Schicht zu Ende?

Beate Hindermann: So gegen fünf Uhr früh. Dann gehen wir oft noch etwas trinken oder sitzen hier mit Kollegen zusammen, Manöverkritik – wo hat’s gehakt, was müssen wir vorbereiten? Zu Hause mache ich mir noch eine Kanne Tee, lese ein Buch.

Gesund klingt das nicht.

Hindermann: Die Krankenkassen berechnen ja die Lebenserwartung für alle Berufsgruppen. Die von Barkeepern liegt bei 64 Jahren. Klar, das ist Nachtarbeit, als junger Mensch steckst du das besser weg. Wichtig ist, dass man frische Luft abkriegt und Tageslicht. Da hilft ein Hund, der zwingt einen zum Rausgehen. Ich versuche, jeden Mittag eine Stunde im Wald zu spazieren. Denn sonst lebe ich gerade in den Wintermonaten nur noch im Dunkeln.

Sarah Hallmann: Das kenne ich. Küchen sind ja meistens ohne Tageslicht, das ist schon ganz schön hart. Ich habe deswegen auch kein Neonlicht in meiner Küche: Edelstahl und Neonlicht, das macht dich irgendwann völlig gaga. Natürlich muss ich Farben richtig erkennen können, ist das grün, hat das einen Grauton? Doch gut kochen kann ich nur, wenn ich mich wohlfühle, und da gehört Tageslicht dazu, jedenfalls warmes Licht.

Hindermann: Man braucht in unserem Job Disziplin – und Pflege. Beine pflegen, Füße pflegen, schlafen. Ich sage das jedem Berufsanfänger: Es reicht nicht, wenn du mit 45 anfängst, Einlagen zu tragen. Du musst es jetzt tun.

Hallmann: Kompressionsstrümpfe! Ich stehe ja 14 Stunden am Tag auf den Beinen. Mit Anfang 20 dachte ich, das geht auch locker so. Nix da, ich bekam sooo dicke Waden. Okay, fing ich lieber mal an mit den Kompressionsstrümpfen. Es hilft!

Im vergangenen Jahr hat die österreichische Fachzeitschrift „Rolling Pin“ eine heftige Diskussion ausgelöst, als sie „die 50 besten Köche Deutschlands“ kürte: 49 Männer, davon 48 Weiße, eine Frau. Der Michelin-Führer 2018 listet bei 300 mit Sternen ausgezeichneten Restaurants zehn Frauen. Sieht so aus, als würden es Frauen am Herd nicht bringen, und ...

Hallmann: … schon müssen wir alle heftig lachen. Das hat sich so entwickelt, die Frauen haben zu Hause gekocht und die Männer haben es als Beruf ausgeübt. Das Klima in den Küchen ist sehr männlich geprägt, auch mal testosterongeladen, das hat Frauen lange abgeschreckt. Und es ist körperlich sehr anstrengend. Damit will ich nicht sagen, Frauen könnten das nicht.

Mary Scherpe: Der große Teil des Essens wurde und wird ja von Frauen zubereitet, vor allem in Familien, aber auch in Imbissen, Kantinen, Fabriken. Erst wenn es um prämiertes Essen geht, um Sterneküche, mediale Anerkennung, übernehmen die Männer. Das war nicht immer so. Wann fing das denn an mit dem Michelin-Führer? Wann wurden Köche nicht mehr als jemand gesehen, der Nahrung zubereitet, sondern in den Rang von Künstlern erhoben? Erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts. Und diese Übermänner, in erster Linie Franzosen, prägen das Bild.

Der berühmteste ist Paul Bocuse, der sagte, Frauen gehören ins Schlafzimmer, nicht in die Profiküche. Dabei wurde er selbst von einer Frau ausgebildet, Eugénie Brazier. Sie hatte in den 30er Jahren sogar zwei Restaurants mit je drei Michelin-Sternen.

Scherpe: Wer kennt sie noch? Sie ist vergessen. Stattdessen hört man Argumente wie: Die Pfannen sind zu schwer, die Arbeitszeiten zu lang, das Klima in der Küche ist zu rau – Frauen halten das nicht aus. Ganz viele Mythen.

Die Arbeitszeiten in der Spitzengastronomie sind für Männer wie für Frauen stressig. Uns hat kürzlich ein Paar erzählt, sie hätten sich gegen Kinder entschieden, das ginge in diesem Job nicht.

Hindermann: Ooooh, als ob das so schrecklich wäre, sich bewusst gegen Kinder zu entscheiden. Wenn man einen Beruf wählt, der einen total fordert, und du willst ihn richtig gut machen, kannst du Familie vergessen. Als Mann und als Frau.

Scherpe: Ein Mann kann sich eine Frau suchen, die diesen Bereich abdeckt …

Hindermann: Wenn eine Dumme das mitmacht.

Scherpe: … und wenn er in Rente geht, sind trotzdem die netten Enkelkinder da. Theoretisch geht das für Frauen auch, praktisch ist es schwieriger.

Hallmann: Genau! Elternzeit ist in der Sterne-Gastronomie nicht vorgesehen. Teilzeit, sechs Stunden am Tag, das gibt es nicht. Wer etwas erreichen will, muss viel Erfahrung gewinnen. Du machst eine Lehre, fängst dann als Commis an, anschließend Demi Chef, danach Chef de Partie, die nächste Stufe ist Sous Chef – und irgendwann Chefkoch. Ein langer Weg, da bist du nicht mehr 25.

Scherpe: In anderen Branchen kann man Erfahrungen sammeln und trotzdem ein Sozialleben haben.

"Man rutscht schnell in die Rolle, ach, die armen Frauen"

"Ein Franzose würde nie den Preis von Champagner diskutieren", sagt Barkeeperin Beate Hindermann.
"Ein Franzose würde nie den Preis von Champagner diskutieren", sagt Barkeeperin Beate Hindermann.

© Mike Wolff

Aus der Gender-Perspektive fällt jedenfalls auf: Medial gefeiert wird das männliche Genie, das seine Küchenbrigade militärisch führt und eine künstlerische Attitüde hat. Die bekommen Auszeichnungen, Zeit im Fernsehen, Einladungen zu Diskussionen und Events.

Hallmann: Da ist schon ein Wandel im Gange.

Scherpe: Langsam, ganz langsam. Und er wird oft mit einem krassen Backlash beantwortet. Das war zu spüren bei dieser „Rolling Pin“-Diskussion …

… die in Sozialen Medien lief und „Rolling Pin Gate“ oder „Weißwurstparade“ genannt wurde.

Scherpe: Ich hab’s losgetreten. Ich wurde zu der Konferenz eingeladen, anlässlich derer die Liste vorgestellt wurde. Auf der Liste der Speaker standen nur die üblichen Männer. Als ich bei der PR-Agentur nachfragte, hieß es, das sei keine Absicht gewesen. Aber die Absicht, Frauen miteinzubeziehen, gab es leider auch nicht. Ausgehend von der Facebook-Gruppe des Feminist Food Clubs machte dann die Empörung die Runde in den Sozialen Medien. Die Zeitschrift selber reagierte damit, jede Kritik zu löschen und die Verfasser zu blockieren. Das hat natürlich nicht zur Beruhigung beigetragen.

Hallmann: Ich wurde vom Redakteur einer Wochenzeitung angerufen und gefragt, was ich davon halte. Es ist ein schwieriges Thema. Man rutscht schnell in die Rolle, ach, die armen Frauen. Jedes Wort bekommt rasch einen falschen Zungenschlag. Bei mir arbeiten einfach viele Frauen, und zum Glück haben sie die gleiche Idee von Küche und Gastronomie.

Scherpe: Ich verstehe das. Du, als Frau, hast ein Restaurant und sollst deshalb für alle Frauen sprechen und wirst immer wieder zu diesem einen Thema befragt: Wie kocht sich’s denn als Frau? Mit Frauen? Welcher Mann wurde je gefragt, wie er in einer komplett männerdominierten Küche zurechtkommt, und wie das den Geschmack seines Gemüses beeinflusst.

Hindermann: Ich habe wirklich lange gezweifelt, ob ich an dieser Gesprächsrunde teilnehmen soll. So gut wie jede Anfrage von Journalisten lautet: Lassen Sie uns über die Rolle der Frau hinter der Bar sprechen. Ich kann’s nicht mehr hören. Ich habe mich nie diskriminieren lassen, bin extra nicht in die Hotellerie gegangen, weil ich dafür zu rebellisch war und zu unabhängig bin. Deshalb haben wir unsere eigenen Arbeitsplätze geschaffen in einer eigenen Bar, mit unseren Drinks, unserer Barkultur, ohne dass einer blöd reinredet.

Hallmann: Man findet diese Küchen noch, alte Schule, wo heiße Pfannen geworfen werden, brutal, derbe Witze, auch sexistisch. Doch in Berlin gibt es eine Generation jüngerer Köchinnen und Köche, die wissen, man kann ohne Rumbrüllen auf den Punkt kochen. Da tut sich einiges.

Scherpe: Stimmt. Trotzdem bin ich immer wieder überrascht, wie das alte Denken in den Jungen steckt. Die 16-Stunden-Schichten, hey, die werden beinhart verteidigt. Sie gelten quasi als Voraussetzung für die großen Ehrungen.

Hallmann: Ich bin so supergeil, ich rocke das! Gibt’s schon noch, ja. Was sich aber auch ändern muss in dieser Gesellschaft, ist die Denkweise, wie viel Essen wert ist. Ich muss Gästen immer noch erklären, dieses Stück Sellerie auf dem Teller, das kommt aus einem Garten, das ist keine Massenware, die Knolle hat jemand von Hand gepflanzt, Unkraut gejätet, wachsen lassen, dann wurde sie aus dem Boden gezogen und vom groben Schmutz gesäubert, danach kommt sie in unsere Küche, da steht jemand, der putzt die Knolle, dann wird sie in Salz eingepackt, im Ofen gegart. Nun liegt ein Schnitz von diesem Sellerie auf dem Teller, dazu ein Stück Rehrücken, da war ein Jäger aktiv, ein paar Holunderbeeren und Selleriecreme, aus dem Knochen eine stark reduzierte Jus, ganz klassisch. Das alles kostet 25 Euro, und ich werde nicht reich dabei. Trotzdem muss ich mich rechtfertigen.

Der Lieblingsbegriff von Deutschen, wenn es um Essen und Trinken geht, ist Preis-Leistungs-Verhältnis.

Hindermann: Was, ich soll für einen Drink zwölf Euro zahlen, wo ich eine Tüte Apfelsaft für 89 Cent kriege? Solche Gäste haben wir nicht. Cocktails sind von jeher mit Luxus behaftet. Ein Franzose würde nie den Preis einer Flasche Champagner diskutieren.

Geben sich die Leute bei der Happy Hour die Kante?

Hindermann: Gegen Exzesse haben wir das Regulativ des pädagogischen Barkeepers. Dass junge Leute kommen und als Mutprobe trinken, das ist völlig ausgestorben.

"Wenn ein Menü 300 Euro kostet, steigen damit nicht die Gehälter"

"Man kann ohne Rumbrüllen auf den Punkt kochen", sagt Sarah Hallmann.
"Man kann ohne Rumbrüllen auf den Punkt kochen", sagt Sarah Hallmann.

© Mike Wolff

Frau Scherpe, Sie haben 2017 den Feminist Food Club gegründet. Was passiert da?

Scherpe: Wir wollen einen Raum bieten, wo Barkeeperinnen, Köchinnen, Frauen aus dem Service oder mit eigenem Laden sich austauschen können. Zu den monatlichen Treffen kommen 20 bis 50 Leute, es gibt Impulsvorträge, wir reden darüber, wie man Investoren und Lieferanten findet, mit denen verhandelt. Wir haben eine Reihe, in der wir große Köchinnen der Vergangenheit vorstellen …

Hallmann: Cool!

Scherpe: … weil wir festgestellt haben, wir kennen sie nicht. Der Club ist nur für Frauen. Wir haben gemerkt, das kreiert eine sehr viel offenere Atmosphäre, keiner muss sich erklären oder gar für Erfahrungen entschuldigen. Das ist kein Business-Netzwerk. Es geht mehr darum, die Situation für Frauen insgesamt zu verbessern und ihre Sichtbarkeit zu erhöhen. Wir hatten ein Panel beim Bar-Konvent und zwei Panels beim Berliner Coffee Festival, wo wir diese Themen einbringen.

Die Sterneküche halten Sie für „absurd“, Frau Scherpe.

Scherpe: Sie interessiert mich nicht besonders. Da essen Menschen mit viel Geld teure Menüs, und die in der Küche werden schlecht bezahlt. Oder gar nicht. Wir wissen vom „Noma“ …

… in Kopenhagen, das vier Mal zum besten Restaurant der Welt gekürt wurde ...

Scherpe: … dass 80 Prozent der Köche ohne Lohn gearbeitet haben. Weil das Label „Noma-Koch“ bei der Karriere hilft. Das kann sich nur leisten, wer einen entsprechenden Background hat, keine Familie, nie krank wird. Wenn ein Menü 300 Euro kostet, steigen damit ja nicht die Gehälter.

Hallmann: Ich hatte vor meiner Ausbildung einen Puffer angespart, und meine Eltern haben mich unterstützt, sonst wäre das finanziell unheimlich schwierig gewesen. Ich habe aber wahnsinnig viel gelernt. Unsere Gäste profitieren von dieser Top-Ausbildung. Das kommt auch dem Einfachen zugute. Unsere Pancakes fürs Frühstück sind so lecker, weil wir wissen, wie lange man Eischnee schlagen muss für die perfekte Fluffigkeit im Teig. Abends gibt es viel mehr Arbeit im Detail. Mit meiner fundierten Kenntnis weiß ich, wie ich ein schönes Mundgefühl hinzaubere.

Claudia Poletto hatte einen Stern in Hamburg und war das Gesicht vieler Koch-Shows im Fernsehen. Sie erzählte uns, sie könne schmecken, ob ein Mann oder eine Frau gekocht hat.

Hallmann: Einspruch. Ich habe seit Monaten einen Koch, da können selbst meine besten Freunde nicht erkennen, ob ein Gericht von ihm ist oder mir.

Hindermann: Wir arbeiten mit sehr exakten Rezepten, 0,3 cl Zimtsirup, 0,7 cl Limette, aber wir sind Menschen mit Empfindungen, Formtiefs, manchmal ist es dunkel und ich sehe im Messbecher nicht genau den Eichstrich, ich muss es fühlen. Da hat jeder Cocktail einen Fingerprint.

Nach Geschlecht?

Hindermann: Nach Persönlichkeit. Mary, du hast vorhin gesagt, wir Frauen brauchen eine Schutzzone, so was wie den Feminist Food Club. Einverstanden. Brauchen wir auch einen Frauen-Cocktail-Wettbewerb, die „Barmaid Olympics“?

Scherpe: Nein, nein, nein.

Hindermann: Ich halte es für falsch. Aber nach Gesprächen mit jungen Barkeeperinnen habe ich auch gemerkt, dass ich vielleicht zu sehr von meiner Position ausgehe, dass es nichts nutzt, zu sagen: Mädels, was ist los mit euch, die Typen mixen auch nur mit Wasser.

Scherpe: In unserer Gruppe können Frauen miteinander und untereinander ganz viel Selbstbewusstsein aufbauen. Doch ich bin nicht dafür, Sonderpreise für Frauen auszuloben. Wir wollen nicht, dass eine prämiert wird, weil sie als Frau gut kochen oder einen schönen Drink machen kann. Ich möchte nicht, dass sie prämiert werden, weil sie „für eine Frau“ gute Arbeit machen. Das ist gönnerhaft, vor allem, wenn sie nicht in den „normalen“ Listen auftauchen.

Hallmann: Mich fragen die Jungs, wie benutzt man einen Akkubohrer? Kannst du die Dichtung austauschen? Handwerk übernehme ich.

Scherpe: Ehrlich gesagt habe ich selbst wenige Diskriminierungserfahrungen gemacht. Doch Feminismus ist ja kein Individualprojekt, es geht darum, Probleme im System zu beheben.

Hindermann: Wer in einem guten Restaurant arbeitet oder in der Bar, ist schon eine sehr spezielle Spezies. Wer sich dem verschreibt, Gäste zu bewirten, hat ein großes Herz und eine soziale Funktion – das wird auch so wahrgenommen.

Hallmann: Es wird mega registriert, vor allem am Abend, wenn die Leute längere Zeit mit uns verbringen. Ich höre oft, hey, ihr seid ein tolles Team. Nicht: Du kochst fantastisch, du hast toll serviert. Wir haben Spaß an dem, was wir machen. Es gibt natürlich solche tellerfokussierten Köche …

Hindermann: … schönes Wort, tellerfokussiert. Hört sich an wie aus der Freudschen Kiste. Arbeiten bei dir nur Frauen?

Hallmann: Anfangs ja, jetzt liegt die Männerquote bei 20 Prozent. Es arbeiten im Vergleich zu anderen Restaurants sicherlich mehr Frauen bei uns, aber da steckt kein Konzept dahinter. Das hat sich zufällig ergeben und muss auch nicht so bleiben.

"Es gibt in Berlin kaum Dinnerrestaurants mit Küchenchefinnen"

"Zum zehnten Mal Avocado auf Toast - was soll ich da schreiben?", fragt Bloggerin Mary Scherpe.
"Zum zehnten Mal Avocado auf Toast - was soll ich da schreiben?", fragt Bloggerin Mary Scherpe.

© Mike Wolff

Berlin ist ungeheuer vielfältig geworden, Pop-up-Lokale, Streetfood, Fast Food de luxe, Craftbier, Catering, Frühstückscafés, Weinbars … Täuscht der Eindruck, dass da mehr Frauen mitarbeiten?

Hindermann: Berlins erste schicke Bar außerhalb eines Hotels war die Bar am Lützowplatz, the place to be, 1989 eröffnet. Wenn ich den aktuellen Mixology-Führer aufschlage, finde ich rund 120 ernst zu nehmende Bars. 120! Das sind jede Menge Arbeitsplätze, und da arbeiten selbstverständlich viele junge Frauen.

Scherpe: Ihr Anteil ist sicherlich gewachsen, dass er bei 50 Prozent liegt, glaube ich nicht. Das Schöne an Berlin war in den letzten Jahren die Atmosphäre, da wurde ohne viel Risiko getestet, wie kann ich das, wie läuft das? Mit den steigenden Immobilienpreisen ist diese experimentelle Phase vorbei. Die Investoren übernehmen die Szene. Interessanterweise gibt es kaum Dinnerrestaurants mit Küchenchefinnen und noch weniger, wo die Frauen Eigentümerinnen sind. Das bist du, Sarah, das „Tucholsky“ in der Torstraße; im „Panama“ an der Potsdamer Straße gibt es eine Küchenchefin, doch es gehört einem Mann, genauso im „Kin Dee“ an der Lützowstraße. Das ist zu wenig.

Hindermann: Ich höre schon mal, in der Victoria Bar arbeitest nur du als Frau. Das ist zu kurz gedacht. Da ist Karin, die die Gäste einlässt, empfängt oder auch abweist, wenn sie nicht zu uns passen. Und da ist Kerstin, die unsere Kunst kuratiert. Wir sind also drei Frauen, die die Bar mitprägen. Und es gibt Vorbilder. Zum Beispiel Audrey Saunders, Gründerin des „Pegu Clubs“ in New York, weltberühmt. Alle jungen Bartender der Stadt sind durch ihre Schule gegangen. Alleine für das Erfinden des Old Cuban gehört ihr ein Denkmal gesetzt. Rum, Minze, Zucker, Limette, ein paar Tropfen Angostura – und dann eiskalter Champagner. Ganz großartig! Sie ist dazu noch humorvoll und liebenswürdig, ihre Autorität beruht nicht auf Macht.

Hallmann: Von solchen Leuten habe ich am meisten gelernt, von ihrer Leidenschaft, von ihrer Liebe zu Produkten: Michael Kempf, Michael Hoffmann. Du siehst schon, wie jemand eine Zwiebel anfasst, was im Gesicht beim Abschmecken passiert. Wow!

Auffällig in Berlin ist die Zahl der Quereinsteiger in der Gastronomie, da versuchen sich Akademiker, Ex-Manager und …

Hallmann: … das erkennt man manchmal, ob fundiertes Handwerk dahintersteckt. Dafür sind Quereinsteiger vielleicht freier, gehen an Sachen und Gerichte mit einer anderen Perspektive heran.

Scherpe: Diese Leute haben der Stadt extrem viel hinzugefügt. Vorhin war ich mittagessen, chinesische Nudelsuppen, die Köchin hat das nicht „offiziell“ gelernt, sie kommt halt aus Schanghai und weiß, wie es schmecken muss. Dieses Nebeneinander finde ich wichtig, das macht Berlin so aufregend. Hier eröffnet etwas, und ein halbes Jahr später ist es weg, viele überstehen den Test der Zeit nicht. Das Niveau insgesamt ist allerdings sehr gestiegen. Es gab in Neukölln die Melbourne Cantine, ein australisches Frühstückscafé, schlimm, richtig schlechtes Essen, aber knallevoll, weil die ein paar Eier pochiert und auf ein Stück Toast gelegt haben. Es war halt neu! So etwas kannst du heute nicht mehr bieten.

Hindermann: Durch meine Arbeit kann ich die aktuellen Hypes und Pop-ups nicht selbst erleben. Dafür schicke ich meine Gäste los: Come back to report. Wir empfehlen Drinks, die aufeinander aufbauen, fragen, was hast du vorher gegessen? Doch ich will die Gäste nicht überfordern. Sie sollen einen genussvollen Abend verbringen und einen hübschen Rausch kriegen. Müssen sie dazu wissen, dass mein Zimtsirup hausgekocht ist? Eher nicht.

In einigen Top-Restaurants wird einem inzwischen erzählt, diese Möhre ist auf einem von Buchen verschatteten Acker in Brandenburg gewachsen, und den Cidre macht Jean-Claude, er hat Astrophysik studiert und sammelt sein Obst mit dem Eselskarren. Jeder Petersilienstängel bekommt sein großes Narrativ!

Hindermann: Albern. Aber verschattet ist ein schönes Wort.

Scherpe: Ich muss nicht alles auf Schieferplatten serviert bekommen. Essen und Trinken ist für mich etwas Emotionales, es schmeckt nicht oder es überwältigt einen intuitiv, du kannst dich gar nicht dagegen wehren.

Gehen Sie häufig auf Sterneniveau essen?

Scherpe: Selten. Wer macht das schon? Das ist nur eine kleine Klientel. Außerdem habe ich keinen Verlag hinter mir, der die Spesen bezahlt.

Blogger wie Sie stehen generell unter Korruptionsverdacht.

Scherpe: Die Restaurants, über die ich schreibe, bezahlen nicht dafür. Sie wissen häufig nicht einmal, dass ich über sie schreibe.

Auf den meisten Blogs ist alles lecker, köstlich, yummie! Kritik findet nicht statt.

Scherpe: Bei mir hat das einen einfachen Grund: Ich esse viel häufiger schlecht als gut, ich gehe also viel mehr essen, als ich darüber schreibe. Deshalb sind pro Woche etwa ein bis zwei Artikel auf meinem Blog. Meine Empfehlungen müssen sitzen, sonst verspiele ich das Vertrauen meiner Leser. Meine Kritik ist es, über ein Lokal nicht zu schreiben. Für einen Verriss müsste ich dort drei Mal essen gehen, um sicher zu sein, dass die nicht einfach einen schlechten Tag hatten oder zufällig zwei Leute in der Küche krank waren. Das kann ich mir finanziell nicht leisten.

"Euer Service war echt eine Katastrophe"

Treffpunkt Victoria Bar: Mary Scherpe (rechts) und Sarah Hallmann waren sich vorher nie begegnet.
Treffpunkt Victoria Bar: Mary Scherpe (rechts) und Sarah Hallmann waren sich vorher nie begegnet.

© Mike Wolff

Sie bezahlen das Essen, Ihre Artikel sind kostenlos zu lesen. Kein lukratives Geschäftsmodell.

Scherpe: Ich habe Werbeanzeigen auf dem Blog, und ich mache sogenanntes „native advertising“ oder Advertorials, wofür ich mit verschiedenen Marken zusammenarbeite. Außerdem gebe ich meinen eigenen Stadtführer heraus, übernehme Beratung, schreibe Texte. Das ist meine Mischkalkulation.

Spüren Sie in der Bar oder im Lokal die Wirkung von Blogs und Portalen wie Tripadvisor oder Yelp?

Hindermann: Wir sind mittlerweile in allen Reiseführern. Blogs verfolge ich nicht.

Hallmann: Die Portale sind nicht so wichtig, die Blogs schon. Es war zu Anfang sogar richtig heftig. Ich wollte den Laden aufmachen, gucken, wie es läuft, und langsam reinwachsen. Ich dachte, am Böhmischen Platz in Rixdorf ist nicht so viel los. Ich habe keine Werbung gemacht, dennoch haben viele Blogs über uns geschrieben, und es war vom ersten Tag an voll.

Scherpe: Euer Service war echt eine Katastrophe.

Hallmann: Ich hätte mir einige Monate mehr Zeit gewünscht. Heute, gut anderthalb Jahre später, bin ich natürlich auch dankbar für diesen Start. Der Einfluss ist jedenfalls enorm. Ich liebe es aber auch, wenn ältere Damen wie vor 70 Jahren am Platz sitzen, bei einer Tasse Kaffee und einem feinen Törtchen.

Scherpe: Deshalb gehe ich erst essen, wenn die Läden drei Monate oder besser sechs Monate alt sind. Anfangs ist viel Kraut und Rüben. Wenn ich im Blog hohe Erwartungen wecke, und die werden enttäuscht, bleiben die Leute weg, es ist auch nicht gut für meine Reputation.

Die Statistiken sind nicht sehr genau, aber geschätzt gibt es in Berlin weit mehr als 10 000 gastronomische Betriebe. Das wird Sie noch lange beschäftigen.

Scherpe: Die Themen gehen mir nicht aus. Doch die Trefferquote nimmt ab. Hinter neuen Eröffnungen stehen oft langweilige, Investoren-getriebene Konzepte, die auf überbewertete Trends bauen. Das nächste fancy Frühstückscafé, das zehnte Mal Avocado auf Toast – was soll ich darüber schreiben? Ich will auch keine Stadt, die sich alle fünf Jahre runderneuert, eine Sternschnuppe nach der anderen. Die etablierten Läden müssen sehen, dass sie sich nicht ausruhen und die Qualität halten oder verbessern. Ich wünsche mir, dass die Gastronomie auch die Vielfalt dieser Stadt abbildet.

Sie arbeiten alle viel – wo sind da die Quellen der Inspiration?

Hindermann: Reisen. Bei mir ist es meist die Karibik und Südamerika. Mein Thema ist Rum. Mein Mann ist Koch in der Victoria Bar, wir gehen viel auf Märkte. Leider lassen sich manche tropischen Drinks bei uns nicht anbringen, die funktionieren nur bei 37 Grad im Schatten und den Füßen im Wasser. Mit dem Frozen Daiquiri wird hier viel Schindluder getrieben, viel zu viel Eis und künstliche Fruchtpürees. Ich habe erst dort gemerkt, wie es gemeint ist. Wirkt wie eine innere Klimaanlage.

Scherpe: Essen ist oft ortsgebunden. Ich kann mittlerweile alles von überall her bestellen, aber es ist dann nicht reif, das Drumherum fehlt. Eine Pizza in Neapel schmeckt nun mal nur dort so gut. Da musst du hinfahren. Eine thailändische Mango hat in Thailand immer ein besseres Aroma, auch wenn ich hier zehn Euro dafür ausgebe.

Hallmann: Klima ist krass wichtig. Ich mache Brot selber, mit Sauerteig und Biohefe, wenn da ein Wetterumschwung ist – irre. Mal kann ich nach acht Stunden backen, mal nach zwei. Ich war in Äthiopien, da gibt’s superleckere Papayas und Avocados, das mixen die, etwas gesüßt, ein wenig zerstoßenes Eis rein, boah! Vor dem Heimflug habe ich alles frisch eingekauft und mitgebracht, um es Freunden zu kredenzen. Hat nicht so geschmeckt. Dieselben Früchte! Es fehlten die Umgebung, die warme, trockene Sonne, der Staub in der Luft und der Duft von Berbere, so eine Art Chili-Paprika, die überall zum Trocknen ausliegen. Essen ist immer mehrdimensional, da geht es um mehr als Geschmack.

Scherpe: Kokosnuss fand ich früher furchtbar, Bountyriegel, Drinks mit Kokos drin, damit kann man mich jagen. Bis ich in Hawaii war, frische Kokosnuss geschlürft: Ah, jetzt verstehe ich’s!

Frau Hindermann, mit Berlin hat sich die Potsdamer Straße arg verändert. Um die Jahrtausendwende eine heruntergekommene Billigmeile, liegt Ihre Bar inzwischen im Epizentrum der kulinarischen wie künstlerischen Hipsterei. Das muss Auswirkungen auf die Klientel haben.

Hindermann: Ich bin ganz froh über all die Galerien und Restaurants. Wir sehen jetzt Gäste wieder, die früher gern zum Trinken kamen, dann Karriere, Kinder, Haus gekauft … Die treiben sich jetzt wieder hier rum, sagen, die Victoria Bar gibt es immer noch, kommen rein und sehen die Barkeeper von früher, die wissen sogar noch, welches der Lieblingsdrink war.

Seufz!

Hindermann: Ich hatte letztens einen, der sagte, schon leicht angeheitert: Weißt du was? Mit euch möchte ich alt werden! Meine Rente bring’ ich euch auch noch.

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