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Fotostrecke: Herr Wolle hält die Stellung

Mitten in Berlin-Mitte, zwischen Start-ups und Coffeeshops, lebt Herr Wolle seit Jahrzehnten in seiner kleinen Wohnung, in seiner kleinen Welt. Die Fotografin Julia Luka Lila Nitzschke besucht ihn regelmäßig - und hat ihn porträtiert.

Immer wenn ich Herrn Wolles Wohnung betrete, ist es, als ob ich heraustrete aus dem Alltag, aus dem Heute, aus dem Berlin, wie wir es heute alle kennen. Eben war ich noch in Mitte, voll drin in der ganzen Hektik, zwischen den hippen Leuten und den schicken Läden und den Autos und Trams am Rosenthaler Platz - dann gehe ich durch die Tür und da sind nur noch dieser unglaublich liebe alte Mann und seine tausend Mitbewohner.

Eine gute Freundin von mir hat uns einander vorgestellt, sie kennt Herrn Wolle von ihrer Arbeit bei der Lebenshilfe. Ich liebe ja spezielle Menschen, und Herr Wolle ist einfach jemand ganz Besonderes, ich war gleich total begeistert und wollte ihn näher kennenlernen - und natürlich auch fotografieren.

Ich war dann immer wieder zu Besuch, mal zusammen mit meiner Freundin, mal allein. Wir sind mit Herrn Wolle im Kiez spazieren gegangen oder in den Park oder zum Kiosk, Cola kaufen, die liebt er. Irgendwann kam dann auch die Kamera dazu. Andere hätten das vielleicht gewöhnungsbedürftig gefunden: diese vielen Kuscheltiere! Man muss aber sagen, dass regelmäßig jemand zum Saubermachen kommt, es kommt täglich warmes Essen, Herr Wolle verwahrlost nicht. Nur lässt er eben niemanden an seine Lieblinge heran, einige sind darum ziemlich verstaubt.

Ich habe Herrn Wolle zweieinhalb Jahre lang begleitet, manchmal hatte er Lust auf Bilder, manchmal nicht. Ich bin oft auch ohne Kamera hingegangen und habe einfach nur Zeit mit ihm verbracht. Später ist manchmal meine Tochter mitgekommen, sie ist sieben und liebt ihn total, und er freut sich immer, wenn sie da ist. Dann fragt er sie zum Beispiel: "Und, hast du schon einen Freund?" Er hat den Schalk im Nacken - das sieht man schon an seinem schelmischen Grinsen.

Er lebt seit seiner Kindheit in dieser Straße, welche genau, ist vielleicht gar nicht so wichtig. Es muss ja nicht unbedingt jemand an seine Tür klopfen - darum habe ich auch seinen Namen geändert. Früher hat Herr Wolle mit seinen Eltern und zwei Brüdern zusammengelebt, die sind aber längst nicht mehr da. Wie lange er schon diese Wohnung hat, ist nicht ganz klar, es müssen Jahrzehnte sein, seit frühen Ost-Berliner Zeiten.

Die Veränderungen um ihn herum beobachtet er genau und wundert sich bestimmt auch über vieles - aber er arrangiert sich. Er ist ja regelmäßig allein im Kiez unterwegs, manchmal sogar bis zum Alex. Die Leute kennen ihn. Ich glaube sogar, dass es gerade eine schöne Zeit für ihn ist. Er hat hier ja noch die Nachkriegszeit miterlebt, die grauen DDR-Jahre. Jetzt ist alles bunt und lebendig. Und wenn es ihm mal zu viel Trubel ist, zieht er sich eben in seine Wohnung zurück.

Er wirkt nicht einsam auf mich, auch wenn er keine Verwandten mehr hat. Er lebt in seiner Traumwelt, die Plüschtiere und Dinos und Gartenzwerge sind seine Familie, er gibt ihnen viel Liebe und Aufmerksamkeit. Ich glaube, manchmal spricht er auch mit ihnen. Herr Wolle ist aber auch regelmäßig bei Lebenshilfe-Veranstaltungen, bei Weihnachtsfeiern, Geburtstagen. Da ist er sehr integriert, die Menschen mögen ihn. Wie könnten sie nicht? Herr Wolle ist mir sehr ans Herz gewachsen in den letzten Jahren. Wir haben alle unsere kleinen Macken, und er ist einfach eine gute Seele, kein verbitterter Opa, sondern jemand, der sich an den kleinen Sachen freut.

Ich besuche Herrn Wolle immer noch regelmäßig. Wir unterhalten uns immer total nett: übers Wetter, über aktuelle Tagesgeschehnisse, Herr Wolle guckt Fernsehen und ist auch über seine Betreuer gut informiert. Außerdem weiß er extrem gut Bescheid über Dinosaurier, kennt die verschiedenen Arten. Meine Tochter hatte neulich eine Jacke mit Dino-Muster an, da hat er sich gefreut. Er war bestimmt schon fünfzig Mal im Dinosaurierpark Germendorf bei Oranienburg, oft mit uns. Da sind lebensgroße Figuren ausgestellt. Und es gibt mehrere Shops, die eine große Auswahl an Plastikmodellen anbieten...

Wenn man es sich jetzt anschaut, wirkt Herr Wolle wie aus der Zeit gefallen. Sein Haus stand lange leer, über 80 Wohnungen. Vor ein paar Jahren hat die Polizei dann alle rausgeworfen, die hier untergekommen waren: Obdachlose, Wanderarbeiter, Punks. Jetzt ist das Haus leer, die Sanierung ist voll im Gang: alles eingerüstet, Arbeiter laufen herum, es ist halt eine begehrte Lage. Herrn Wolles Wohnung bleibt aber unangetastet, das ist ein großes Glück.

Ich finde es beeindruckend, dass er der Letzte ist, der die Stellung hält. Jeder andere hätte sich rauskaufen lassen und wäre in eine andere Wohnung gezogen. Aber Herrn Wolle ist Geld egal, er ist fast achtzig, er will in seinem Kiez bleiben, in seiner Wohnung, auf seiner Insel. Seine neuen Nachbarn, wenn sie dann kommen, sollten sich freuen.

Julia Luka Lila Nitzschke, Jahrgang 1983, lebt und arbeitet als freie Fotografin in Berlin. Sie studierte an der Ostkreuzschule für Fotografie. Mehr unter zoooi.de

Protokoll: Jan Oberländer 

Julia Luka Lila Nitzschke

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