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Literatur ist überall. Seit jeher beschränkt sie sich nicht auf Bücher. Heute kommen viele über Poetry Slams oder Podcasts mit ihr in Berührung.

© Matthias Heyde

Exzellenzcluster Temporal Communities: Verflochtene Wortkunst

Durch Zeiten, Räume und unterschiedliche Medien – wie Literatur global wird.

Literatur schien lange Zeit ausschließlich mit Büchern verbunden zu sein. Doch zu Beginn des 21. Jahrhunderts kommen viele Menschen auf anderen Wegen mit ihr in Berührung, beispielsweise beim Bewältigen von Serienmarathons in Streamingportalen wie Netflix, durch Kinofilme oder per Hörspiel-Podcasts auf dem Smartphone. Dichter nutzen Twitter als Plattform, und der Literaturnobelpreis ging 2016 nicht an einen Schriftsteller, sondern an den Singer-Songwriter Bob Dylan. Leserinnen und Leser suchen sich ihre Lektüren quer durch Sprachen und Kulturen aus, frequentieren Fan-Foren und fühlen sich communities zugehörig, die sich in den Sozialen Medien atemberaubend schnell bilden.

„Literatur ist schon lange nicht mehr gleichbedeutend mit kanonischen Texten zwischen zwei Buchdeckeln“, sagt Anita Traninger, Professorin am Institut für Romanische Philologie der Freien Universität Berlin. Sie ist Sprecherin des interdisziplinären Exzellenzclusters Temporal Communities, dessen Ziel es ist, die Konzeption von Literatur in globaler Perspektive grundlegend neu zu denken und die traditionellen Kultur- und Sprachgrenzen in Frage zu stellen.

Die Forscherinnen und Forscher des Clusters gehen von der These aus, dass Literatur in ihrer langen, weltumspannenden Geschichte eher so funktionierte, wie wir sie in der Gegenwart beobachten: als Praxis zwischen Musik und Kunst, zwischen Aufführung, Rezitation und Ritual, zwischen Sprachen und Kulturen. „Dass wir wissenschaftlich zwischen unterschiedlichen Epochen und den verschiedenen Philologien, der Romanistik, der Germanistik, der Sinologie oder der Indologie unterscheiden, ist ein Produkt des 19. und 20. Jahrhunderts“, sagt Andrew James Johnston, ebenfalls Sprecher des Exzellenzclusters und Professor für mittelalterliche und frühneuzeitliche englische Literatur an der Freien Universität: „Literatur wurde im 19. Jahrhundert bewusst eingesetzt, um nationale Identitäten zu stiften, daher orientierte sich auch die Wissenschaft von der Literatur an nationalen Grenzen.“

Literatur hat immer Gemeinschaften gestiftet

Dass durch die Vorstellung von „Nationalliteraturen“ bestimmte Fächergrenzen in einer globalisierten Welt anachronistisch anmuten, hat auch die Wissenschaft längst erkannt. „Selbst der Begriff Weltliteratur ist stark von einer westlichen Perspektive geprägt“, sagt Traninger. „Die meisten verbinden damit Literatur, die es wert ist, überall gelesen zu werden – das ist aber eine sehr von den Vorstellungen der westlichen Welt geprägte Sicht, die der Vielfalt der Literatur nicht gerecht wird.“

Neu ist am Forschungsprogramm des Clusters, dass das Globale nicht primär räumlich, sondern vor allem zeitlich gedacht wird: Literatur hat immer Gemeinschaften gestiftet, und zwar nicht nur zwischen Zeitgenossen, sondern vor allem in der Zeit und durch die Zeit. Ein typisches Beispiel dafür, wie Literatur über Jahrhunderte hinweg immer neue Beziehungen stiftet, ist Homers Ilias. „Vergil adaptierte den Stoff in seiner Aeneis und schuf so den Gründungsmythos des Römischen Reiches“, sagt Johnston. Im Mittelalter ging die Rezeption weiter: Autoren in ganz Europa schmückten den Troja-Stoff märchenhaft aus und übertrugen ihn in die Welt der Ritter und Damen. „Heute lässt sich Wolfgang Petersen von Homer inspirieren und verfilmt das Epos modern interpretiert“, sagt Johnston.

Diese langfristigen, kulturelle Grenzen überschreitenden Perspektiven beim Blick auf die Literatur sind entscheidend für die Arbeit des Clusters. Es geht den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern dabei nicht um die Frage, ob die Texte „korrekt“ rezipiert wurden – vielmehr werden die Beziehungen untersucht, die Literatur durch die Zeit stiftet. Sie sind mit dem titelgebenden Begriff der temporal communities gemeint.

Berlin sei ein idealer Standort

Deshalb verfolgen die Forscherinnen und Forscher des Clusters diesen neuen Ansatz: Literatur soll global gedacht werden jenseits der Kategorien Nation und Epoche und in der ungeheuren Vielfalt ihrer Möglichkeiten und Beziehungen – zu anderen Künsten, zur Malerei und zur Musik, zu anderen Medien wie dem Film und zu anderen kulturellen Institutionen wie den Schulen oder den Universitäten. Wann immer Literatur in neue Beziehungen eintritt, entstehen auch Beziehungen in der Zeit, sodass Leserinnen und Leser der Gegenwart mit dem Theaterpublikum des antiken Athen verbunden sind.

Im Cluster arbeiten deshalb Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den alten und neuen Philologien, der Theater-, Kunst- und Filmwissenschaft zusammen, um die globalen Verflechtungen von Literatur zu beschreiben. Berlin sei ein idealer Standort, um diesen neuen Ansatz wissenschaftlich voranzutreiben, sagt Anita Traninger. Das internationale Partnernetzwerk des Clusters helfe dabei ebenso wie die Rolle Berlins als Hauptstadt der deutschen Literaturszene. „Über die sieben Jahre, die unsere erste Förderphase dauert, werden wir mehr als 100 internationale Gastwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler nach Berlin einladen. Und mit unserem regionalen Netzwerk – dazu zählen das Internationale Literaturfestival Berlin und das Literarische Colloquium – werden wir einen laufenden Dialog zwischen der Forschung und dem aktuellen Literatur- und Kulturbetrieb initiieren“, sagt Traninger. Auch die Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz und das Iberoamerikanische Institut sind mit an Bord: „Ein solches Projekt kann man nur gemeinsam in Angriff nehmen – wo, wenn nicht in Berlin.“

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