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Der Liberalismus ist in Bedrängnis wenn Populisten wie Donald Trump Grenzen schärfer ziehen. Polizisten bewachen den Grenzzaun zwischen Mexiko und Kalifornien.

© picture alliance / Reuters / Carlos Jasso

Exzellenzcluster „SCRIPTS“: Masterplan für freie Gesellschaften?

Die Eröffnungskonferenz des Exzellenzclusters „Contestations of the Liberal Script“ (SCRIPTS) stellt Grundsatzfragen zum Liberalismus.

Was ist nur schiefgelaufen? Der Liberalismus war einmal eine revolutionäre Idee!“, sagt Kalypso Nicolaïdis. Die Professorin aus Oxford steht auf der Bühne des Audimax der Freien Universität Berlin, neben ihr die Autorin Luise Meier und der Journalist Jens Bisky.

Zu dritt sollen sie sich eine Welt ohne Liberalismus vorstellen – und beschreiben die Welt von heute: Bisky warnt vor journalistischer Routine, die Kriminalität von Migranten zum Topthema macht und das Leid in Flüchtlingslagern ignoriert. Meier prangert Ausbeutung, mangelnde Solidarität und nicht eingelöste Freiheitsversprechen an.

„Der Liberalismus ist eine Idee, die zu nah zur Sonne des Kapitals geflogen ist“, sagt die Autorin zu den Zuhörerinnen und Zuhörern im gut gefüllten Saal, unter ihnen mehr als 250 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die zur Konferenz nach Berlin gereist sind.

Diese „mehrstimmige Keynote“ ist der unkonventionelle Beginn einer unkonventionellen Konferenz. Statt fertige Studien zu präsentieren, prüften die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Grundthese des neues Clusters „Contestations of the Liberal Script“, kurz SCRIPTS.

Gegen Rechtspopulismus. Die italienische Sardinen-Bewegung wendet sich gegen Matteo Salvini und seine Lega Nord.
Gegen Rechtspopulismus. Die italienische Sardinen-Bewegung wendet sich gegen Matteo Salvini und seine Lega Nord.

© Andrea Pirri / Nur Photo

Was ist das liberale Script?

Sie besagt, dass die großen Konfliktlinien der vergangenen Jahre – der Populismus von Orbán bis Trump, der Autoritarismus in Russland und China, der Fundamentalismus des sogenannten Islamischen Staats, die antikapitalistische Reaktion auf soziale Ungleichheit –, dass all diese Phänomene die liberale Ordnung grundsätzlich infrage stellen, dass sie Kontestationen des liberalen Skripts sind.

„Wir wollen herausfinden, was diese Herausforderungen des liberalen Skripts weltweit verbindet und welche Ursachen sie haben“, sagt Tanja Börzel, Professorin für Politikwissenschaft und Europäische Integration an der Freien Universität und Sprecherin des Clusters, anlässlich der Eröffnung.

Der Begriff des „Skripts“ beschreibt dabei das Zusammenspiel der Elemente eines gesellschaftspolitischen Ordnungsmodells, die beteiligten Institutionen, Normen und Akteure. Auf diese Weise können verschiedene Ordnungsmodelle gleichberechtigt nebeneinander untersucht werden.

SCRIPTS ist einer der Exzellenzcluster, die im Rahmen der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder gefördert werden. Die Förderung in Millionenhöhe für zunächst sieben Jahre ermöglicht es, große Themen anzugehen.

Das Thema hat einen Nerv getroffen

Das Vorhaben von SCRIPTS ist ambitioniert: Angesiedelt an der Freien Universität, soll ein weitreichendes Netzwerk aufgebaut werden – regional mit der Humboldt-Universität, dem Wissenschaftszentrum Berlin und fünf weiteren Forschungszentren, weltweit mit gut 20 Universitäten auf allen Kontinenten.

Mehr als 40 Forschungsprojekte sollen entstehen; Politikwissenschaft, Soziologie, Geschichtswissenschaft, Regionalstudien, Ökonomie und weitere Disziplinen arbeiten zusammen.

Das Thema hat einen Nerv getroffen, glaubt Michael Zürn, Professor für Internationale Politik und Recht an der Freien Universität und Direktor der Abteilung Global Governance am Wissenschaftszentrum. Gemeinsam mit Tanja Börzel ist er Sprecher von SCRIPTS:

„Viele renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den unterschiedlichsten Ländern sind zur Eröffnung gekommen – nicht, weil wir ihnen einen Vortrag angeboten haben, sondern allein, weil sie das Projekt spannend finden. Das hat uns stolz gemacht.“

Tanja Börzel, Professorin für Politikwissenschaft und Europäische Integration an der FU (links) ist Sprecherin des Clusters; Michael Zürn Professor für Internationale Politik und Recht an der FU, Direktor der Abteilung "Global Governance" am Wissenschaftszentrum.
Tanja Börzel, Professorin für Politikwissenschaft und Europäische Integration an der FU (links) ist Sprecherin des Clusters; Michael Zürn Professor für Internationale Politik und Recht an der FU, Direktor der Abteilung "Global Governance" am Wissenschaftszentrum.

© Bernd Wannenmacher

Individuelle Selbstbestimmung als Ziel

Was das liberale Skript genau ausmacht, ist schwer zu fassen. Darüber, dass das Individuum Ausgangspunkt aller liberaler Überlegungen ist, bestand in den Diskussionen während der dreitägigen Konferenz weitgehend Konsens: Individuelle Selbstbestimmung sollte das Ziel von Politik sein, und Legitimität politischen Handelns basiert auf der Zustimmung der Individuen, etwa in einem Gesellschaftsvertrag oder durch Wahlen.

Und doch ist der Liberalismus selbst geplagt von Widersprüchen. „Eine historische Analyse kommt zu schockierenden Ergebnissen“, sagte Christian Reus-Smit, Professor für Internationale Beziehungen an der University of Queensland, bei einer Diskussion zu einer möglichen Typologie der Herausforderungen des Liberalismus.

Im Namen des Liberalismus seien im 18. und 19. Jahrhundert Sklaverei und Imperialismus gerechtfertigt worden. „Was vormals Teil des liberalen Skripts war, ist heute damit unvereinbar – die Grenze verschiebt sich ständig.“

Folglich wurde auch auf der Konferenz kontrovers darüber diskutiert, wo die Grenze zu ziehen ist. Ein Theorienetzwerk soll die Basis für die Beantwortung solcher Fragen legen und für die vier Forschungseinheiten des Clusters (siehe Kasten) eine gemeinsame Grundlage schaffen.

Der angloamerikanische Liberalismus mit seinem Fokus auf individueller Wahlfreiheit und Eigentumsrechten sei eine neue Erscheinung, sagte Helena Rosenblatt, Historikerin an der City University in New York. „Die direkte Linie, die von der Magna Carta über John Locke, Adam Smith und die amerikanische Unabhängigkeitserklärung bis heute gezogen wird, ist ein Mythos.“

Das Verständnis von Liberalismus hat sich gewandelt

Tatsächlich habe der Liberalismus mehrere Phasen durchlaufen, in denen er jedes Mal Antworten auf andere Phänomene bot: Während der Französischen Revolution etwa sollte ein liberaler Rechtsstaat den Einfluss der Religion einschränken, im Deutschland des 19. Jahrhunderts hingegen forderten Sozialliberale staatliche Intervention für mehr Chancengleichheit und zur Armutsbekämpfung.

Im 20. Jahrhundert gewann die Idee des Liberalismus in den USA an Einfluss und wurde dort von beiden Seiten des politischen Lagers beansprucht. Erst als im Kalten Krieg die Abgrenzung zum Totalitarismus in den Vordergrund trat, sei der Liberalismus gleichbedeutend geworden mit Demokratie, Marktwirtschaft und dem Westen, sagte Rosenblatt.

Auch heute ist das liberale Skript keineswegs einheitlich. So ist bis heute umstritten, ob der Liberalismus nationalstaatliche Grenzen rechtfertigt und wie ungleich eine liberale Gesellschaft sein darf.

Außerdem lassen sich liberale Prozesse und liberale Werte nicht immer in Einklang bringen, etwa wenn demokratische Entscheidungen den im Liberalismus universellen Menschenrechten widersprechen oder wenn die Meinungsfreiheit für antiliberale Ideen verwendet wird.

Diese Spannungen seien dem Liberalismus eigen und müssten immer wieder neu ausgehandelt werden, sagt Zürn: „Jede einseitige Auflösung dieser Spannungen fiele aus dem liberalen Skript hinaus.“

Für die Unabhängigkeit der Justiz. Demonstranten erinnern im Januar 2020 in Warschau beim „Marsch der 1 000 Roben“ an europäische Rechtsstandards.
Für die Unabhängigkeit der Justiz. Demonstranten erinnern im Januar 2020 in Warschau beim „Marsch der 1 000 Roben“ an europäische Rechtsstandards.

© picture alliance / Aleksander Kalka

Der Liberalismus wird inklusiver

Einige der Variationen des liberalen Skripts hätten sich wie ein Pendel mal in die eine oder die andere Richtung bewegt, argumentiert Politikwissenschaftler Zürn. So hätten Liberale zu bestimmten Zeiten den freien Markt, zu einer anderen Zeit die Solidarität betont; ebenso sei das Denken mal nationalistischer, mal kosmopolitischer ausgefallen.

Bei einer Kerndimension dagegen sei das anders. Bei der Frage, welche Personen individuelle Selbstbestimmung verdienen und als gleiche, freie, moralische Subjekte angesehen werden, gebe es eine klare Richtung: Der Liberalismus werde mit der Zeit immer inklusiver.

Galten früher nur weiße Männer als Menschen mit Rechten, kamen mit der Abschaffung der Sklaverei, mit der Emanzipation der Frau und der Erklärung der allgemeinen Menschenrechte immer mehr Bevölkerungsgruppen hinzu.

Ihnen diesen Status wieder abzuerkennen, gilt heute eindeutig als illiberal. „Da kann man die Zeit nicht zurückdrehen“, sagt Zürn. Es handele sich um die Entfaltung einer inhärenten Logik – anders ausgedrückt: um Fortschritt.

Zum Austausch ins Auswärtige Amt

Da das Thema von SCRIPTS auch für die Öffentlichkeit jenseits von Universitäten und Forschungsinstitutionen bedeutsam ist, arbeiten in einem „Knowledge Exchange Lab“ Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Verantwortlichen aus der Politik und Nichtregierungsorganisationen sowie Kunstschaffenden zusammen.

Gregor Walter-Drop, Direktor des Labs, erklärte auf der Konferenz, dass es nicht nur um Wissenstransfer, sondern um Austausch gehe.

Dieser war auch Teil des Tagungsprogramms: Am zweiten Abend fuhren alle Konferenzteilnehmerinnen und -teilnehmer ins Auswärtige Amt zu einer Podiumsdiskussion, die nach den politischen Konsequenzen fragte, die sich aus der Krise des liberalen Skripts ergeben: Sind Deutschland und die EU zu „widerwilligen Protagonisten“ geworden?

Rüdiger König, der im Außenministerium die Abteilung „Krisenprävention, Stabilisierung, Konfliktnachsorge und Humanitäre Hilfe“ leitet, diskutierte mit drei Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern: der SCRIPTS-Sprecherin Tanja Börzel, der indischen Professorin und Europaexpertin Umma Salma Bava und dem amerikanischen Professor für Internationale Beziehungen Michael Barnett.

Moderiert von der Journalistin Judy Dempsey, ging es um die Frage, was Deutschland und ein innerlich gespaltenes Europa tun können, um der Krise der liberalen Ordnung etwas zu entgegnen.

Luise Meier (l.), Jens Bisky (M.) und Kalypso Nicolaïdis (r.) am Eröffnungsabend des Exzellenzclusters.
Luise Meier (l.), Jens Bisky (M.) und Kalypso Nicolaïdis (r.) am Eröffnungsabend des Exzellenzclusters.

© Katy Otto

Die Idee des Fortschritts nicht aufgeben

Die Diskussion fand unter den sogenannten Chatham-House-Regeln statt, nach denen keine Zitate in Medien oder Publikationen erlaubt sind, die man Personen zuordnen könnte.

Die Vertraulichkeitsklausel ermöglichte eine offene Aussprache der Beteiligten auch zu sensiblen Themen: etwa dem Prinzip der internationalen Schutzverantwortung, das militärische Interventionen zu humanitären Zwecken legitimiert – ein kontrovers diskutiertes Instrument zur Verteidigung liberaler Werte.

„Die Welt ist aus den Fugen geraten“, hatte schon der ehemalige Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier festgestellt. Wird das liberale Skript sich verändern oder verdrängt werden? Oder wird der Liberalismus sogar gestärkt aus den Anfeindungen hervorgehen?

Auch ein solch großes Forschungsprojekt wie der Exzellenzcluster werde diese Fragen vermutlich nicht abschließend beantworten können, sagt Michael Zürn. Er sei sich aber sicher, dass das Thema noch lange wichtig sein werde.

Journalist Jens Bisky, einer der Redner bei der „kollektiven Keynote“ zum Konferenzauftakt, riet trotz allem zu Optimismus: „Er ist zwar weder unaufhaltsam noch unumkehrbar und kommt auch nicht zwangsläufig. Aber wir sollten dennoch die Idee des Fortschritts nicht aufgeben.“

Jonas Huggings

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