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Exiljournalisten schreiben zur Bundestagswahl: Das kleine rote Büchlein

Die große Wahlfreiheit? Zwei unserer Autoren sind seit Kurzem deutsche Staatsbürger und dürfen heute ihre Stimme abgeben. Die anderen beiden gucken zu

Vier Perspektiven auf die Bundestagswahl: Wer in einer Diktatur aufgewachsen ist, weiß die Demokratie stärker zu schätzen, schreibt Massoud Paydari. Aora Helmzadeh möchte für alle mitwählen, die noch nicht abstimmen dürfen. Hareth Almukdad hat bisher nur in der Kita seiner Tochter an einer Wahl teilgenommen - und Isa Can Artar freut sich auf einen geselligen Wahlabend.

HARETH ALMUKDAD

Wenn ich durch die Straßen Berlins laufe, sehe ich überall Dutzende Bilder mit lächelnden Gesichtern, begleitet von schönen Sprüchen und Versprechen, die hoffentlich in Erfüllung gehen und nicht im Müll landen. Parteimitglieder an den Ständen bestehen darauf, mir Infoblätter mit den Programmen ihrer Parteien zu geben, und ich nehme sie mit einem Lächeln, das bedeutet: „Ich bin immer noch nur ein halber Bürger und habe keine Stimme für Ihre Partei.“

Ehrlich gesagt bin ich nicht in der Lage, über Wahlen oder Demokratie zu urteilen. Denn was ich in meinem Land, in Syrien, erlebt habe, hat nichts mit Wahlen zu tun und hat daher für die Demokratie keinerlei Bedeutung. Die ersten echten Wahlen, an denen ich in meinem Leben teilgenommen habe, waren vor einem Jahr die Wahlen zum Elternsprecher im Kindergarten meiner Tochter. Das war eine neue Erfahrung für mich und ich hatte damals das Gefühl, dass ich zum ersten Mal das Wahlrecht hatte, auch wenn es nur auf dem Niveau des Kindergartens war.

Seit ich in Deutschland angekommen bin, versuche ich, die Reste der Diktatur in meinem Kopf loszuwerden. Ich bemühe mich, zuerst mich und dann mein Kind zur Demokratie zu erziehen. Ich trainiere mich darin, das Wort „Warum“ zu gebrauchen, auch wenn es nur darum geht, mich für ein Essen, ein Kleidungsstück oder einen Freizeitort zu entscheiden. Denn in Syrien wurden wir dazu erzogen, keine Fragen zu stellen.

Die Teilnahme an den Wahlen ist für mich die letzte Stufe im demokratischen Prozess – ich mache noch meine ersten Schritte auf diesem Weg und es gibt noch viel zu lernen, bevor ich eine Partei oder einen Kandidaten wähle. Das Wahlrecht stellt aus meiner Sicht eher eine Verantwortung als einen Vorteil dar. Wird dieses Recht falsch genutzt, bringt es Parteien mit rassistischer Tendenz oder Parteien an die Macht, die wichtigen Themen wie Umwelt und alternativen Energien keine Bedeutung beimessen. Die Partei, die ich heute wähle, muss nicht nur für mich, sondern auch für meine Kinder in Zukunft gut sein.

Wer das Wahlrecht hat, sollte auch an die Menschen denken, die kein Wahlrecht haben, wie Kinder, Zuwanderer und Flüchtlinge, die Teil dieser Gesellschaft sind und in Deutschland leben. Diese Wahl wird ihr Leben positiv oder negativ beeinflussen. Vielleicht werde ich in vier Jahren das Wahlrecht haben. Dann gebe ich meine Stimme der Partei, die sich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt einsetzt und Stabilität erreicht und gegen Diskriminierung und Rassismus kämpft, damit sich alle als Teil dieses Landes mit gleichen Rechten und Pflichten fühlen.

AORA HELMZADEH

Ich komme aus einem Land, dem Iran, da bedeutet wählen gehen, dass man die Wahl hat zwischen schlecht und noch schlechter. Das Prinzip, dass man das Schlechte wählt, um das noch Schlimmere zu verhindern, gibt dem Schlechten die Chance, noch schlechter zu werden. Trotzdem habe ich die Wahlurnen nicht aufgegeben. Ich habe jedes Stück Papier genutzt, um meine Meinung zu sagen. Mal waren es Wahlzettel, mal das Papier der Prüfungen und mal das Papier einer Zeitung, in der meine Artikel erschienen.

Seit einigen Jahren lebe ich nun in der Wiege der Demokratie, und dieses Jahr darf ich zum ersten Mal mitwählen. Meinem kleinen roten Büchlein sei Dank, das meine Nationalität definiert. Es ist noch ungewohnt. Ich stelle mich noch immer nicht als Deutsche vor. Aber als was sonst: eine Bürgerin, die Steuern zahlt, die Nachrichten verfolgt und Demonstrationen besucht. Also, ja, ich bin deutsch. Dieses rote Büchlein zu bekommen, war nicht leicht. Nicht nur für mich, sondern auch für alle, die nicht das Glück haben, dass schon seit ihrer Geburt ein so herrliches Dokument in der Schublade ihrer Eltern auf sie wartet.

Also will ich stellvertretend für all jene wählen, die es noch nicht so weit geschafft haben. Ich werde meine Stimme für all jene mit abgeben, die vor den blutigen Grenzen des grünen Europas ihre Jugend verplempert haben und darüber alt geworden sind. Ich werde für sie wählen! Ich werde wählen für all jene, die sich nichts sehnlicher wünschen, als an meiner Stelle im sicheren Berlin zu sitzen. Statt ihr Leben im Mittelmeer zu verlieren. Also, lasst uns optimistisch sein und davon ausgehen, dass Wahlen etwas verändern können, und wenn es nur der Bruchteil eines Prozents Veränderung ist.

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Ich schaue mir die Kandidaten an. Mein Mund ist ganz trocken. Sie alle sagen, dass sich 2015 nicht wiederholen darf. Sie sehen Flüchtende nicht als Menschen mit Würde, sondern als Statistiken und Zahlen. Sie stehen für Kosten, kulturelle Unterschiede, Terrorismus.

Es macht also keinen Unterschied, dass man als Immigrant ganz gut integriert ist und sogar das kleine rote Buch bekommen hat! Denn du spielst keine Rolle in der politischen Gemengelage. Da ist es egal, dass ein Viertel der Menschen in diesem Land eingewandert sind.

Selbst jene Parteien, die sich tatsächlich für die Aufnahme von Asylbewerbern aussprechen, lassen sie ihren schönen Worten auch Taten folgen? Gibt es einen Plan? Wo bleiben die Hinweise auf die ökonomischen und politischen Zusammenhänge, die dazu führen, dass Menschen fliehen müssen? Nicht zuletzt spielen deutsche Waffenexporte eine Rolle, die Konflikte anzuheizen, die Menschen ihrer Heimat berauben. Es sind die gleichen Waffenexporte, die zur deutschen Wirtschaftskraft beitragen. Und ist nicht der Wohlstand zugleich Grundlage für die Stabilität des demokratischen Systems in Deutschland? Trotz alledem will ich wählen. Doch ist es nicht wieder eine Wahl zwischen schlecht und schlechter?

MASSOUD PAYDARI

Diese Wahl ist für mich etwas ganz Besonders, da ich zum ersten Mal in Deutschland wahlberechtigt bin und aktiv an einer Demokratie mitwirken darf. Als ich im Oktober 2019 eingebürgert wurde, dachte ich als erstes an mein Wahlrecht – und habe mich sehr darüber gefreut. Unwillkürlich erinnerte ich mich an einen Artikel, den ich im Jahr 2002 in einer Zeitung in Teheran gelesen hatte und der das deutsche Wahlsystem und die Parteien erklärte. Als Schüler der elften Klasse konnte ich mir damals nicht vorstellen, dass ich eines Tages an einer deutschen Bundestagswahl teilnehmen würde! 19 Jahre später habe ich nun zum ersten Mal in meinem Leben die Möglichkeit, in einem demokratischen System zu wählen.

Ich bin in einem autokratischen System aufgewachsen und habe erlebt, wie die Rechte und Meinungsfreiheit der Bürger systematisch missachtet werden. Daher beobachte ich tiefer und sensibler die Wahlprogramme der politischen Parteien in Deutschland in Bezug auf Menschenrechtspolitik vor allem gegenüber repressiven Regimen.

Das Leben in Deutschland und Iran hat es mir ermöglicht, die Unterschiede zwischen demokratischen und autoritären Systemen klarer zu erkennen. Ich habe im Iran gesehen, wie der Mangel an Demokratie die Legitimität des politischen Systems geschwächt hat. In Deutschland ermöglicht die Demokratie mit den freien Wahlen vor allem einen Feedback-Mechanismus für das politische System, der zu permanenten Lernprozessen verhilft. Im Iran dagegen ist es für das Regime und den islamischen Klerus ganz egal, was der Wille der Mehrheit der Bevölkerung ist. Somit entziehen sie sich den Feedback-Mechanismen der Demokratie, und sie versuchen die fehlende Unterstützung der Bevölkerung durch eine repressive Politik zu ersetzen.

Demokratie und freie Wahlen sind nichts Selbstverständliches! Im Iran konnte ich mich nicht dazu durchringen zu wählen. Es war grotesk, dass die Menschen nur zwischen den Kandidaten, die vom Wächterrat nominiert wurden, auswählensollten. Außerdem war es für mich unerträglich, dass das Regime die Wahlbeteiligung als Beweis der Loyalität der Bevölkerung und als Legitimation wertete. Dabei ist die Konfrontation zwischen dem Regime und der Mehrheit des Volkes ganz offensichtlich und die Menschen lehnen den Wahlzirkus des Regimes ab. Die Unterschiede zwischen einem Rechtsstaat und einer Autokratie sind für mich deutlicher denn je. Ich freue mich über unsere Demokratie und Volkssouveränität in Deutschland, und ich wünsche mir auch für mein Herkunftsland Volkssouveränität und Demokratie.

Unter www.tagesspiegel.de/stimmendesexils finden Sie weitere Texte von Exiljournalist:innen und ein Video von „Amal-Berlin“-Redakteurin Amloud Alamir über die Initiative NESWA, die syrische Frauen motivieren möchte, sich in Deutschland politisch zu engagieren.  

ISA CAN ARTAR

Ich erinnere mich noch an den Wahltag, an dem ich mit meiner Mutter zum Wahllokal gegangen bin. Ich war neun Jahre alt. Meine Mutter erlaubte mir, die bevorzugte Partei auf dem Wahlzettel zu stempeln. Danach wollte ich sogar meinen Zeigefinger mit Wahltinte färben lassen, wie alle anderen. Damals war Wahltinte die Sicherheitsmaßnahme gegen Wahlbetrug. Ich glaube, es gibt keine Wahl in der Türkei, an die ich mich nicht erinnere. Jedes Mal war es wichtig, und nicht nur für meine Familie, die schon immer Sozialdemokraten gewählt haben, sondern für alle.  

An jedem Wahltag war ich vor dem Fernseher, guckte die Wahlergebnisse. Auch als ich Wahlhelfer war und von 6 Uhr früh bis 21 Uhr abends im Wahllokal beschäftigt war, habe ich mich danach mit meinen Freund*innen getroffen und wir haben uns die Wahlergebnisse angeschaut. Es war doch immer ein schöner Abend, man sieht die Ergebnisse und diskutiert darüber, wie das Land sich morgen ändern könnte. 

Ich weiß nicht genau, was man am Wahltag in Deutschland macht. Guckt man zusammen Fernseher? Wartet man am Fernseher ab, bis die ersten Ergebnisse kommen? Ich weiß aber, was man in der Türkei macht: Familien, Verwandte, Freunde treffen sich und sitzen vor dem Fernsehen, haben ihre Getränke und Snacks und schauen gerne Wahlergebnisse. 

Ich weiß, falls Corona uns erlaubt, was die Neuankömmlinge aus der Türkei machen. Auch wenn sie nicht wählen dürfen, sitzen sie zusammen in einer Bar oder zu Hause, schauen sich die Wahlergebnisse an Auch wenn man nicht alles versteht, was im Fernseher gesagt wird. Und es wird auch auf Türkisch diskutiert: Wer wird Bundeskanzler*in? Baerbock, Scholz oder Laschet? Welche Koalitionsmöglichkeiten gibt es? Ampel, Rot-Rot-Grün oder wieder GroKo? Was bedeutet die Stimmenanzahl der AfD für Migrant*innen? Welche Parteien in Deutschland sind ähnlich wie die in der Türkei? 

Das Wählen ist eine wichtige Sache, wo ich herkomme. Ich bin sehr froh, dass es auch hier eine wichtige Sache ist. Mir ist klar, dass es mich angeht, auch wenn ich - noch nicht - wählen darf. 

Aber ich freue mich sehr darauf, dass ich vermutlich bis zur nächsten Bundestagswahl eingebürgert werde und mitwählen darf. Ich fühle mich zu Hause in Berlin und bin schon Teil dieses Landes, auch wenn es für einige ‘sehr früh’ sein mag. Dann soll man auch mitwählen dürfen, um diese Zugehörigkeit zu stärken. Denn ich will in dem Land die Politik mitbestimmen, in dem ich lebe und weiterhin leben werde.

Dieser Text erscheint im Rahmen des gemeinsamen Projekts "Stimmen des Exils" von Tagesspiegel und Körber-Stiftung. Der Tagesspiegel hat seit 2016 regelmäßig Texte von Exiljournalist:innen unter dem Titel #jetztschreibenwir veröffentlicht. Die Körber-Stiftung führt Programme durch, mit denen die journalistischen, künstlerischen und politischen Aktivitäten exilierter Menschen in Deutschland gestärkt werden. Dazu zählen Kooperationen mit den Nachrichtenplattformen "Amal, Berlin!" und "Amal, Hamburg!" Weitere Formate sind das "Exile Media Forum", die "Tage des Exils" und "Exil heute".

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