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Und irgendwo auch der Arc de Triomphe: Szene in der Avenue Foch.

© Roger Melis

European Month of Photography: Auftritt der schwarzen Katze

Die Kunst der Beiläufigkeit: Roger Melis beherrschte sie wie kein zweiter. 1982 verbrachte er einen Monat in Paris - jetzt sind seine legendären Fotografien wieder in einer Ausstellung zu sehen.

Mehr Frankreich geht kaum: Eine Frau, nicht mehr jung, mit übergeworfener, an den Rändern kordelbehängter Decke, etwas ärmlich, aber doch nüchterne Eleganz ausstrahlend, kommt dem Fotografen entgegen. In den verschränkten Händen hält sie das eben gekaufte Baguette, im Hintergrund klafft einer der typischen engen Straßencanyons von Paris. Ein Augenblick nur, eine Szene, aber in ihr blitzt etwas auf. Es ist der treffsichere Blick fürs Menschliche, fürs Alltägliche, der viele Fotos von Roger Melis auszeichnet. Der 1940 in Berlin geborene und ebendort 2009 gestorbene Melis konnte 1982 dank seiner Tätigkeit als Sektionsvorsitzender im Verband Bildender Künstler der DDR für vier Wochen in die französische Hauptstadt reisen. Das Glück, das er dabei empfunden haben muss, strahlt auch 40 Jahre später noch aus seinen Arbeiten. In Walter-Benjamin-Manier flanierte er durch die Stadt, legte jeden Tag Dutzende von Kilometern zurück, knipste und knipste.

Ergebnis war der 1986 erschienene Fotoband „Paris zu Fuß“, der dank der Entscheidung, nicht auf hochwertigem Papier zu drucken, in einer hohen Auflage von zwei Mal 20 000 Exemplaren erschien und sich in der DDR rasch zum Kultbuch entwickelte. „So etwas hat es vorher nicht gegeben“, erklärt Mathias Bertram, Stiefsohn von Melis, Publizist und Buchgestalter. „Natürlich erschienen Reiseführer, in denen Fotografien aber nur die Aufgabe hatten, Text zu illustrieren. Hier lag plötzlich ein reiner Bildband vor, der eine Sehnsucht stillte.“ Bertram hat das Buch jetzt neu herausgegeben, auf einige Abbildungen verzichtet und andere aufgenommen, die im Originalband nicht enthalten waren. Die Negative fand er im Nachlass.

[Roger Melis, „Paris zu Fuß/Paris by foot“, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2021, 151 Seiten, 30 €]

2010 hat C/O Berlin Melis eine große Retrospektive gewidmet. Im Rahmen des European Month of Photography ist eine Auswahl seiner Paris-Bilder jetzt wieder in einer kleinen Ausstellung zu sehen in der Galerie Argus Fotokunst (Marienstraße 26), kuratiert von Norbert Bunge. Hier hängen ausschließlich „Vintage Prints“, also Abzüge, die kurz nach der Aufnahme entstanden und die, Benjamins Thesen widersprechend, trotz ihrer Reproduzierbarkeit inzwischen die Aura eines einmaligen Kunstwerks entwickelt haben. Immer wieder sticht Melis’ Leidenschaft für die Menschen, für alles Lebendige ins Auge, die die großen Monumente von Paris zu Statisten werden lässt.

Selbst die Fassade des Louvre tritt in den Hintergrund, alle Aufmerksamkeit gehört dem älteren Paar, das die Straße überquert und deren Mäntel der Wind aufbauscht. Auf Père Lachaise hat Melis Oscar Wildes Grab fotografiert, doch im Zentrum steht die schwarze Katze, die gemächlich über die Friedhofsallee stolziert. Ein Mann und eine Frau in feinen Anzügen, offensichtlich in einer anderen Zeit groß geworden, stehen auf der Treppe des damals hypermodernen Centre Pompidou und blicken über die Dächer, die in der Ferne von Sacré-Cœur bekrönt werden. Was mag den beiden durch den Kopf gehen? Mit einer Kunst der Beiläufigkeit bricht Roger Melis das tausendfach fotografierte Klischee von Paris und erzählt seine ganz persönlichen Mikrogeschichten.

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