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Vertreterinnen und Vertreter der Indigenen Universität Venezuela sichten Federkopfschmuck und Körbe aus ihren Herkunftsregionen.

© N.P. Camargo/D. Graf/ Ethnologisches Museum Berlin

Ethnologie: Die Welt vor unserer Haustür

Ethnologe Hansjörg Dilger zu den aktuellen Themen seines Fachs und der Debatte über das Humboldt-Forum.

Wie wollen wir leben? Wer gehört warum zu welcher Gruppe? Wie entstehen Zugehörigkeiten in einer Welt, die zugleich zusammenwächst und auseinanderdriftet? Die Fragen, mit denen sich Ethnologinnen und Ethnologen beschäftigen, haben sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert. Ihr Forschungsblick richtet sich nicht mehr allein auf ferne Länder und Kulturen, sondern direkt auf unseren Alltag. Denn durch die Globalisierung und die Migrationsbewegungen sind die Themen, mit denen sich das Fach beschäftigt, längst vor unserer Haustür angekommen.

Heute geht in Berlin eine internationale Tagung der seit 1929 bestehenden Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde (DGV) zu Ende. Ein Gespräch mit dem Ethnologieprofessor und DGV-Vorsitzenden Hansjörg Dilger über die Rolle von Religionen und Nationalismen in einer vernetzten Welt, über das Smartphone als Freiheitsinstrument und die Rolle der Ethnologie für das Humboldt-Forum.

Herr Professor Dilger, Europa wird zum Zufluchtsort für immer mehr Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten aus aller Welt. Wie deuten Ethnologen diese Flucht- und Migrationsbewegungen?

Sie bilden ab, wie stark sich unsere Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten durch die Globalisierung verändert hat – und wie sehr das Zusammenwachsen der Welt unseren Alltag berührt. Manche Aspekte der Globalisierung haben wir gern von uns ferngehalten. Durch den Zuzug der Geflüchteten sind die politischen und religiösen Konflikte, die wir bisher immer anderswo verortet haben – im außereuropäischen Ausland, weit weg – gewissermaßen vor unserer Haustür angekommen. Das ist für eine Gesellschaft eine Herausforderung, aber es birgt auch Chancen. Weil sich grundsätzliche Fragen stellen, die beantwortet werden müssen: Wie soll unsere Gesellschaft aussehen? Wie wollen wir zusammenleben? Wer hat seinen Platz wo in unserer Gesellschaft?

Durch die große Mobilität der Menschen scheinen ethnische oder nationale Zugehörigkeiten eine immer kleinere Rolle zu spielen. Welche Kategorien entscheiden heute über den Platz in einem sozialen Gefüge?

Die Zugehörigkeit zu einer Ethnie ist längst nicht mehr das wichtigste Kriterium. Es gibt viele Möglichkeiten, sich zu verorten und einer Gruppe zugehörig zu fühlen: über die Familie, über religiöse Gruppierungen, über eine oder mehrere Nationen, über soziale Klasse und Bildung. Diese Vielfalt an Zuordnungen und Zuschreibungen schafft Freiheiten – aber auch Zwänge und Ausschlüsse.

Hansjörg Dilger ist Professor am Institut für Sozial- und Kulturanthropologie der Freien Universität.
Hansjörg Dilger ist Professor am Institut für Sozial- und Kulturanthropologie der Freien Universität.

© Bernd Wannenmacher

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?

Nehmen wir einen Migranten, der sein Land und seine Familie verlässt. In dem Land, in das er immigriert, hat er theoretisch viele Möglichkeiten, sich in das bestehende soziale Gefüge einzuordnen. Praktisch jedoch ist er längst festgelegt: durch seine Herkunft, durch seine ganz persönliche Flucht- oder Migrationsgeschichte, durch die Politik. Sein Leiden etwa, das ihm das Recht gibt, in Deutschland Asyl zu beantragen, ist ja keine frei gewählte Kategorie, sondern festgeschrieben durch rechtliche, politische und ökonomische Bedingungen.

Durch das Smartphone und über die sozialen Medien können Menschen auf der ganzen Welt miteinander in Kontakt treten – ist das ein Gewinn an Freiheit?

Über den Zugang zu Medien kommt man an Informationen, es eröffnen sich viele Möglichkeiten, das ist richtig. Aber nicht alle Menschen können in einer globalisierten Welt mobil sein, auch wenn gerade die sozialen Medien gern unbegrenzte Möglichkeiten vorspiegeln. Mobilität – tatsächliche und mediale – hängt von der wirtschaftlichen Situation eines Menschen ab und von dessen Bildung. Nur wer überhaupt Zugang zu Medien hat, beispielsweise ein Smartphone besitzt und darüber Zugang zu sozialen Medien hat, kann über Grenzen hinweg kommunizieren. Diese Ungleichheit spiegelt das Machtgeflecht unserer globalisierten Welt wider: Manche Menschen haben mehr Privilegien als andere in derselben Gesellschaft oder als Menschen in anderen Teilen der Welt.

Überfordert uns die Globalisierung?

Überfordern würde ich nicht sagen. Aber nicht alle empfinden sie als große Freiheit. Das Aufbrechen der Welt, die Möglichkeit der globalen Vernetzung aller mit allen kann auch zu Verunsicherung führen, was die eigene Identität angeht.

Ist das Wiedererstarken des Nationalismus in vielen Ländern eine Reaktion darauf?

Die Verunsicherung über die eigene Identität kann zu Abschottungsbewegungen führen: zum Rückzug des Einzelnen ins Private, in ethnische oder lokale Identitäten. Aber sie kann auch zu nationalen Abgrenzungen führen. Das ist eine Entwicklung, die wir eigentlich mit der Globalisierung glaubten, überwunden zu haben.

Welchen Beitrag können Ethnologen leisten, um die Begleiterscheinungen der Globalisierung gewissermaßen zu lindern?

Die Ethnologie macht Stimmen hörbar, die oft nicht gehört werden: Sie zeigt, wie Menschen in afrikanischen, asiatischen, lateinamerikanischen Ländern leben, sie macht deren Perspektiven und Erfahrungswelten sichtbar und zeigt alternative Lebensentwürfe. Dadurch wird beispielsweise deutlich, dass Afrika nicht nur ein Kontinent des Leidens und der Armut ist, sondern auch einer der aufsteigenden Mittelschichten mit einer rapiden Urbanisierung und einer großen kulturellen und religiösen Vielfalt. Dieses Wissen macht die Welt nicht einfacher. Aber es macht sie für den Einzelnen besser nachvollziehbar. Und es zeigt, wie wichtig es ist, voneinander zu lernen.

Tintenfischmaske von den Tlingit in Südalaska, vor 1881.
Tintenfischmaske von den Tlingit in Südalaska, vor 1881.

© SMB/SPK, 1999

Welche Rolle spielen Religionen in einer globalisierten Welt – man hat den Eindruck, dass ihre Bedeutung in den vergangenen Jahren zugenommen hat.

Religion war nie völlig aus der Öffentlichkeit verschwunden, auch wenn das vielleicht im Westen so wahrgenommen wurde. Hinter der Vorstellung, die Religion hätte sich ins Private und Persönliche zurückgezogen, steckt eine westliche Ideologie der Säkularisierung. Was aber stimmt, ist, dass Religionen in den vergangenen Jahrzehnten, seit den achtziger, neunziger Jahren, einen gewaltigen Aufschwung erfahren haben. Neue Bewegungen sind entstanden, sie haben sich über die Medien stark verbreitet und sind dadurch sichtbarer geworden: zum Beispiel die Pfingstkirchen oder muslimische Reformbewegungen. Diese boomen nun nicht mehr nur in den urbanen Zentren Afrikas, Asiens oder Lateinamerikas, sondern sind mit den Migrantinnen und Migranten in die europäischen Städte gewandert und dort präsent. Darauf richten wir Ethnologen unseren Blick. Wir zeigen Seiten des urbanen Lebens, die oft nicht wahrgenommen werden. Vielleicht weil sie nicht so stark in den Medien sind.

In den Medien präsent ist die Ethnologie derzeit über das Humboldt-Forum: Die geplante Ausstellung von Teilen der ethnologischen Sammlung aus den Dahlemer Museen im Schlossneubau hat eine heftige Debatte über die Herkunft der Kunstwerke und ihr koloniales Erbe ausgelöst. Auch auf der Tagung wurde über das Ausstellungskonzept debattiert. Weshalb?

Weil die ethnologische Fachperspektive bei der Konzeption der Ausstellung unserer Ansicht nach bisher eine zu geringe Rolle spielt. Die öffentliche Diskussion um das Humboldt-Forum wird von Historikern und Kunsthistorikern dominiert. Das liegt daran, dass sie sich derzeit stark auf die Provenienz der Sammlungsstücke konzentriert. Aber auch wir Ethnologen beschäftigen uns mit der Geschichte eines Gegenstandes und fragen: Woher kommt er, wie ist er zu uns gekommen? Die Herkunft muss selbstverständlich geklärt werden. Aber wir fragen auch: Welche Bedeutung haben diese Objekte heute in ihrer Herkunftsgesellschaft, welche Rolle spielen sie für die Nachkommen der früheren Eigentümer? Sind sie rituell nach wie vor wichtig? Wir arbeiten eng mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus den Ländern zusammen, aus denen die Stücke stammen. Indem wir die Geschichte des Sammelns mit der Bedeutung der Gegenstände heute verknüpfen, schlagen wir den Bogen von der Geschichte zur Gegenwart.

Deshalb verstehen wir ethnologische Ausstellungen grundsätzlich als Vermittlungs- und Begegnungsort, an dem Menschen unterschiedlicher Herkunft über die dort gezeigten Stücke miteinander in Kontakt kommen. Dieser wissenschaftliche Ansatz sollte im Humboldt-Forum verankert werden und sichtbar sein – die bisherigen Ausstellungen und Konzepte haben das noch nicht gezeigt.

Konnte die universitäre Ethnologie ihre Expertise denn einbringen?

Wir brauchen eine noch stärkere Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen den ethnologischen Museen und dem Fach an der Universität. Es gibt punktuelle Kontakte, aber in Bezug auf das Humboldt-Forum fehlt die Verbindung. Da muss sich die universitäre Ethnologie noch mehr einmischen.

Was wünschen Sie sich als Vorsitzender Ihrer Fachgesellschaft mit Blick auf das Humboldt-Forum?

Eine stärkere strukturelle Verankerung der ethnologischen Fachperspektive – sowohl im Beirat und der Leitung als auch im Ausstellungskonzept. Denn die Ethnologie beschäftigt sich mit allen wichtigen Globalisierungsthemen: mit Migration, Religionen, postkolonialen Begegnungen – das sind die zentralen Themen, um die es auch im Humboldt-Forum geht. Die Debatte über die koloniale Vergangenheit Deutschlands war längst überfällig. Sie gehört ins Humboldt-Forum, an diesen Ort, an dem Geschichte, verschiedene Kulturen und Gegenwart aufeinandertreffen werden: Wo sonst setzen wir uns mit diesem Teil unserer Geschichte auseinander? Das Humboldt-Forum ist deshalb eine große Chance – auch für die Dahlemer Sammlung und für das Fach Ethnologie mit seinen vielfältigen Themen, seinen Perspektiven und Antworten für unsere globalisierte, postkoloniale Welt.

Die Fragen stellten Christa Beckmann und Christine Boldt.

Christa Beckmann, Christine Boldt

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