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Apfelbäume am Kulturforum. Zur Ausstellung "Food Revolution 5.0" zur Zukunft der Ernährung verwandelt sich die Piazza vor dem Kunstgewerbemuseum in einen Essbaren Garten.

© Kitty Kleist-Heinrich

Essbare Stadt: So schmeckt Berlin

Die Hauptstadt wird zum Ernteland – dank der wachsenden Zahl urbaner Gärtner und der Wiederentdeckung essbarer Wildpflanzen. Auch der Senat will grüne Freiflächen schützen.

Was werden wir morgen essen? Wie wird es aussehen? Und wo sollen die Lebensmittel herkommen? Diesen Fragen stellt sich die Ausstellung „Food Revolution 5.0“, die ab diesem Wochenende im Kunstgewerbemuseum zu sehen ist. Mehr als 30 internationale Designer stellen ihre Ideen für die Ernährung der Zukunft vor. Die Visionen reichen vom 3-D-Drucker für In-vitro-Fleisch über die Insektenfarm für den Hausgebrauch bis hin zu Indoor-Gewächshäusern und Algenreaktoren. Kuratorin Claudia Banz will mit der Ausstellung Denkanstöße für die aus ihrer Sicht dringend notwendige Revolution der globalen Ernährung geben. Und sie ist überzeugt, dass dazu auch die wachsenden Städte einen wichtigen Beitrag leisten müssen. Wie das aussehen könnte, ist vor der Tür des Kunstgewerbemuseums zu erfahren: Zur Ausstellung wurde die Piazza im Kulturforum zum „Essbaren Garten“ umgestaltet – inklusive Streuobstwiese. Für Besucher ist das Ernten ausdrücklich erlaubt.

Urbanes Gärtnern und Ernten sind schwer in Mode. In Berlin zählt die Stiftung Interkultur aktuell fast 100 Gartenprojekte – von kleinen Flächen mit fünf Gärtnern bis zu großen Projekten wie den Prinzessinnengärten oder dem Allmende-Kontor auf dem Tempelhofer Feld. Der Berliner Senat will „Urban Gardening in der Stadt verwurzeln“ – so steht es in der rot-rot-grünen Koalitionsvereinbarung. Vorbild dafür könnte die rheinland-pfälzische Kleinstadt Andernach sein, die sich vor knapp einem Jahrzehnt als „essbare Stadt“ neu erfand: Grünflächen wurden mit essbaren Pflanzen wie Mandeln, Pfirsichen und Äpfeln bepflanzt, die von der Bevölkerung frei geerntet werden können.

Diesem Beispiel folgend sollen neue Flächen zum Gärtnern einen festen Platz in der Berliner Freiraumstrategie erhalten, sagt Dorothee Winden, Sprecherin der Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz. Auch die Stelle eines Urban-Gardening-Beauftragten soll bald besetzt werden. Parallel werden seit drei Jahren Werkstattgespräche zum Stadtgärtnern organisiert, demnächst soll eine Charta für die Entwicklung des Berliner Stadtgrüns erarbeitet werden.

Unzählige essbare Pflanzen wachsen wild in Berlin

Die Pflanzer können die politische Hege gebrauchen, denn viele Gemeinschaftsgärten bangen um ihre Existenz: Neubauprojekte bedrohen die Freiflächen, die oft jahrzehntelang brachlagen. Und selbst wer nur eine Baumscheibe bepflanzen möchte, muss sich durch ein Dickicht behördlicher Auflagen schlagen. Dabei könnte Berlin längst eine essbare Stadt sein, sagt Kathrin Scheurich. Die Umweltpädagogin bietet seit vier Jahren Gärtnerseminare und Wildkräuterführungen in Berlin an und beobachtet: „Das Thema urbanes Gärtnern hat die Mitte der Bevölkerung erreicht.“ Vor ein paar Jahren noch hätte sie ungläubige Blicke geerntet, wenn sie sich ein Gänseblümchen in den Mund steckte, inzwischen sei das Wissen um essbare Blüten weitläufig bekannt. Und in Berlin wächst so einiges, das man ernten kann: Aus Lindenblüten lässt sich Tee kochen, die jungen Blätter etlicher Baumarten, neben der Linde etwa auch von Ahorn und Buche, bieten – maßvoll eingesetzt – eine gute Abwechslung für den Salat. Ein typischer Stadtbaum wie die Türkische Baumhasel trägt essbare Nüsse. Auch Walnussbäume und Esskastanien stehen an Berliner Straßen. In Parks und in Grünanlagen kann man wilde Erd-, Brom- und Heidelbeeren ernten, etwa entlang des Teltowkanals. In Parks und Stadtforsten wachsen Pilze und unzählige Kräuter, etwa der Berliner Wunderlauch, eine spezielle Bärlauchart, man muss nur wissen, wo.

Gärtnern auf dem Tempelhofer Feld. Das Allmende-Kontor vermietet Parzellen an urbane Freizeitpflanzer.
Gärtnern auf dem Tempelhofer Feld. Das Allmende-Kontor vermietet Parzellen an urbane Freizeitpflanzer.

© Doris Spiekermann-Klaas

Am einfachsten sei es, Kräuter und Pflanzen selbst zu ziehen. „Wer im Hinterhof gärtnern will, muss vor allem die Lichtverhältnisse beachten“, rät Scheurich. Schatten vertragen nur bestimmte Pflanzen. Sehr gute Erfahrungen machen viele mit robustem Feldsalat, der sogar im Winter angebaut werden kann. Andere experimentieren mit kleinen Tricks: Tomaten wachsen an der Hausfassade oft besser, weil diese Wärme abstrahlt. Städtische Gärtner müssen sich nicht nur gegen Ämter und Auflagen behaupten. In Biesdorf sorgt sich ein Gemeinschaftsgartenprojekt vor allem um die Wildschweine. Erst im Januar trat Pascal Grothe an das Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf mit der Idee für einen Bürgergarten heran – und kann bereits beobachten, wie sein Plan Form annimmt. „Ich habe mit meiner Oma früher noch Mais angepflanzt“, sagt Grothe. „Aber viele wissen ja heute gar nicht mehr, wie das geht.“ Das will der 25-Jährige ändern und Kindern Landwirtschaft nahebringen – mit all ihren Hindernissen. In der Nacht ist eine Horde Wildschweine über den frisch angelegten Weinberg hergefallen, die Ingwerknollen haben die Schweine schon ausgebuddelt. „Die haben aber offenbar nicht geschmeckt“, sagt Grothe.

Am Biesdorfer See entsteht auf 4000 Quadratmeter Fläche ein neuer Bürgergarten

Bis vor Kurzem war die 4 000 Quadratmeter große Fläche nahe dem Biesdorfer See Brachland, Gestrüpp wucherte neben wildem Rhabarber, ein Holunderstrauch neben Plastikmüll. Bald soll man hier Wein, Kartoffeln und Ingwer ernten können. „Wir wollen erst mal beobachten, was hier bereits natürlich wächst“, sagt die 64-jährige Mitgärtnerin Gerlinde, die neben Mann und Tochter auch den fünfjährigen Enkel mit zum Gartenprojekt bringt: „Damit er lernt, dass Fischstäbchen nicht im Wasser schwimmen und man einen Apfel auch noch essen kann, wenn an einer Stelle ein Wurmloch ist.“

Das Besondere an dem Gemeinschaftsgarten: Er steht allen für eigene Ideen offen, die dann gemeinschaftlich umgesetzt werden. „Da kann es sein, dass einer das Beet anlegt, ein anderer dort etwas pflanzt und ein Dritter das irgendwann erntet“, sagt Grothe. Der Garten ist als Modellprojekt gedacht: „Man muss heute in den Supermarkt gehen, um einen Apfel zu kaufen – dabei könnte der auch einfach vor der Tür wachsen“, sagt Grothe. Gleichzeitig können die freiwilligen Gärtner hier praktische Erfahrungen mitnehmen: „Ich habe immer überlegt, mir einen Bienenstock in den Garten zu stellen“, erzählt Gärtnerin Iris. „Aber irgendwie habe ich mich nie getraut.“ Vielleicht ändert sich das durch die Imkerin, die demnächst ihre Bienen nach Biesdorf bringen will.

Prinzessinnengarten. Robert Shaw (mit Mütze) gehört zu den Gründern des Kreuzberger Gemeinschaftsgartens. Hier betreut er einen Workshop mit Kindern.
Prinzessinnengarten. Robert Shaw (mit Mütze) gehört zu den Gründern des Kreuzberger Gemeinschaftsgartens. Hier betreut er einen Workshop mit Kindern.

© Doris Spiekermann-Klaas

Doch nicht jeder glaubt an die Zukunft einer „essbaren Stadt“, die sich selbst versorgen kann. „Man kann die Stadt nicht isoliert betrachten, sondern muss immer auch das Land mitdenken“, sagt Robert Shaw, Geschäftsführer und Mitgründer des Prinzessinnengartens am Moritzplatz. Das Kreuzberger Pionierprojekt zieht mittlerweile so viele interessierte Besucher an, dass die Gärtner vor lauter Fragenbeantworten gar nicht zum Säen und Jäten kommen. „Aber das ist ja auch die Idee“, sagt Shaw. Der Garten solle dazu dienen, Landwirtschaft zu vermitteln, „damit die Leute erleben, wie viel Arbeit eigentlich in den Bio-Radieschen für 29 Cent steckt“ – aber auf keinen Fall die Landwirtschaft auf dem Land ersetzen. Angesichts der knappen Flächen und steigenden Mieten sei es unsinnig, in der Stadt von Selbstversorgung zu träumen, sagt Shaw. Außerdem befürchtet er, dass bei einer Verlagerung nachhaltiger Anbaumethoden hinein ins Stadtgebiet auf dem Land „nur noch mehr Energiemais angebaut“ würde.

Urbanes Gärtnern kann zur Erhaltung der Artenvielfalt beitragen

Was in der Stadt aber gut funktioniere, seien Anbauformen und Produkte, die sich für die konventionelle Landwirtschaft nicht lohnen. Die Prinzessinnengärten setzen auf Vielfalt und seltene Arten: „Für kaum einen Bauern macht es finanziell Sinn, 72 verschiedene Tomatenarten anzubauen“, sagt Shaw. In der urbanen Landwirtschaft können seltene Arten aber einen wertvollen Beitrag zur Biodiversität leisten – und neuen Geschmack auf den Teller bringen. Man müsse jedoch bedenken, was ökologisch sinnvoll sei: Indoor-Gemüseanbau etwa sieht Shaw kritisch, da hier der Energieverbrauch in keinem Verhältnis zum Endprodukt stehe. „Pilze oder Sprossen dagegen wachsen auch mit wenig Licht oder auf Kaffeesatz.“ Die Prinzessinnengärtner erproben selbst immer wieder Neues: Kürzlich haben sie ein urbanes Landwirtschaftsprojekt auf einer Teilfläche des ehemaligen St. Jacobi-Friedhofes in Neukölln gestartet, mittelfristig ist ein Abo-Kisten-Projekt mit seltenen Obst- und Gemüsesorten geplant. Denn auch wenn seltene Arten sich zunehmender Beliebtheit erfreuen, sind sie kein Selbstläufer: „Etwa 40 Prozent unserer Ernte gehen an unser Restaurant, weitere 40 Prozent werden direkt geerntet – und für 20 Prozent finden wir keine Abnehmer“, sagt Shaw. Viele wüssten einfach nicht, was sie etwa mit einer Mexikanischen Mini-Gurke anfangen sollen. Urbane Landwirtschaft neu zu denken, für Shaw sollte das auch mit dem Anspruch verbunden sein, Sortenvielfalt zu erhalten und alternative Anbaumethoden zu fördern.

Dieser Beitrag ist auf den kulinarischen Seiten "Mehr Genuss" im Tagesspiegel erschienen – jeden Sonnabend in der Zeitung. Hier geht es zum E-Paper-Abo. Weitere Genuss-Themen finden Sie online auf unserer Themenseite.

Frischauf zur Ernte: Wege zum Urban Gardening

"Food Revolution 5.0" | Die Ausstellung "Food Revolution 5.0" zu Zukunftsszenarien der Ernährung ist bis zum 30. September im Kunstgewerbemuseum zu sehen. Der Eintritt kostet 8 Euro, ermäßigt 4 Euro, geöffnet Di-Fr 10-18, Sa/So 11-18 Uhr. Der Essbare Garten im Kulturforum ist frei zugänglich. Begleitend zur Ausstellung finden Veranstaltungen zu Themen wie „Essbare Stadt“, „Küche der Zukunft“ und „Food Design“ statt. Außerdem gibt es Workshops für Familien und Kinder mit dem Titel „Was essen wir morgen?“. smb.museum/ausstellungen/detail/food-revolution-50.html

Markthalle IX | Nutzpflanzen für den eigenen Balkon, Garten oder Hinterhof erhalten Sie unter anderem bei Pflanztauschaktionen im Prinzessinnengarten oder den gesamten Mai über jeden Samstag in der Markthalle 9 in Kreuzberg. markthalleneun.de

Allmende-Kontor | Wem weder Balkon noch Hinterhof zur Verfügung steht, kann sich auf vielen Flächen auch eine kleine Parzelle mieten: etwa beim Allmende-Kontor auf dem Tempelhofer Feld, einem der größten Berliner Landbauprojekte. allmende-kontor.de

Stadtbienenhonig | Naturbelassenen Honig von Berliner Bienen gibt es bei der Stadtimkerin Erika Mayr, die ihre Bienenstände unter anderem auf dem Zeughof Kreuzberg, dem Kraftwerk Mitte und auf dem Messegelände aufgestellt hat. stadtbienenhonig.com

Infarm | Gemüse ernten im Supermarkt? Das geht im Metro-Großmarkt in Friedrichshain sowie in einigen Edeka-Großmärkten, etwa dem Edeka-Center in Moabit. Hier wächst frischer Salat der Firma „Infarm“ direkt im Supermarkt und kann frisch gepflückt werden. infarm.de

Mundraub.org | Die Webseite Mundraub.org bietet einen Überblick über Orte, an denen man in der Stadt Obst, Gemüse und Kräuter ernten kann. Auf einer Karte können neue Fundorte von Obststräuchern oder Bäumen eingetragen werden. mundraub.org

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