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Als bekannt wird, das sich im Krankenhaus auch Personal infiziert hat, holen die Eltern ihre Kinder in Panik aus der Klinik.

© Laurence Ivil

Erst Ebola, jetzt Coronavirus in Sierra Leone: „Wir leiden kollektiv an einer Posttraumatischen Belastungsstörung“

Wer an Ebola erkrankte, wurde abgeholt. Die wenigsten kamen zurück. In Sierra Leone sitzt das Trauma noch tief. Nun verbreitet das neue Virus alte Ängste.

Nellie Bell erinnert sich noch genau daran, wie sie den Koffer gepackt hat. Alles ist bereit für die nächsten zwei Wochen im Militärhospital. Als sie an jenem Tag Anfang April vom Koffer hochblickt, sieht sie durch ein Fenster, dass ein Krankenwagen vor ihrem Haus hält – gefolgt von vier Militärjeeps, die sicherstellen sollen, dass sie auch wirklich mitkommt.

Zu diesem Zeitpunkt weiß Bell bereits, dass sie sie sich mit dem Coronavirus infiziert hat. Sie ist 42 Jahre alt, gesund, Ärztin – Sorgen um ihre Gesundheit macht sie sich nicht. Doch die vier Militärjeeps vor ihrem Haus, so erzählt sie es später, machen sie nervös. Als sie ihre Wohnung verlässt, stehen die Nachbarn auf der Straße und schauen. Näher zu kommen traut sich niemand. Nellie Bell weint, genauso wie ihre zwei Kinder, drei und fünf Jahre alt. Dann steigt sie in den Krankenwagen.

Sie ist die zweite Person im Land, die positiv getestet wird

Ihr Heimatland Sierra Leone hat Szenen wie diese schon erlebt, die Coronakrise weckt schlimme Erinnerungen in dem kleinen westafrikanischen Staat. Zwischen 2014 und 2016 starben in Sierra Leone rund 4000 Menschen an Ebola, nur wenige Infizierte kamen damals lebend aus der Quarantäne zurück. „Man könnte fast sagen, wir leiden kollektiv an einer Posttraumatischen Belastungsstörung“, sagt Bell. Und das alte Trauma erschwert nun den Kampf gegen das neue Virus.

Als Bell sich infiziert – sie ist die zweite Person im Land, die positiv getestet wird –, hat das Militär bereits die Kontrolle in der Gesundheitskrise übernommen. Es setzt die Regelungen im Kampf gegen Corona durch, koordiniert die Logistik der Krankenversorgung und unterstützt die Krankenhäuser – medizinisch aber auch durch die Überwachung der Quarantäne-Maßnahmen. Denn ein Land, dessen Gesundheitssystem fragil ist, versetzen die Bilder von überlasteten Krankenhäusern in Europa in Alarmbereitschaft.

Schwerer Dienst. Ärztin Nellie Bell hatte Covid-19, nun berät sie den Präsidenten. Viele Patienten haben Angst vor Rettungswagen.
Schwerer Dienst. Ärztin Nellie Bell hatte Covid-19, nun berät sie den Präsidenten. Viele Patienten haben Angst vor Rettungswagen.

© Alicia Prager

Im Ola-During-Kinderkrankenhaus, in dem Nellie Bell arbeitet, werden alte Isolationsräume renoviert, die seit Ende der Ebolakrise nicht mehr benutzt wurden. „Der Bereich im Krankenhaus, den wir gerade herrichten, sieht genauso aus wie damals“, sagt Bell am Telefon. „Es fühlt sich sehr eigenartig an, so in die Zeit zurückversetzt zu werden.“

Ihre beiden Brüder arbeiten in Wolfsburg

All das erzählt die Sierra-Leonerin in fließendem Deutsch. So wie viele Ärzte hier hat sie ihre Ausbildung im Ausland gemacht. Bell war in Deutschland, insgesamt 14 Jahre lang. Sie absolvierte in Heidelberg und Berlin ihr Medizinstudium und arbeitete danach in einem Krankenhaus in Mannheim. Ihre beiden Brüder sind noch heute Oberärzte in Wolfsburg.

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Trotz eines sicheren Jobs in Mannheim entschied sie 2011, wieder in Sierra Leones Hauptstadt Freetown zurückzugehen. „Ich werde hier viel dringender gebraucht, wo die Strukturen viel schwächer sind als in Deutschland. Hier geht es jeden Tag darum, Leben zu retten”, sagt sie. Während der Ebola-Epidemie arbeitete sie im Notdienst. In der Coronakrise berät sie als Ärztin für Pädiatrie gemeinsam mit fünfzig anderen Experten verschiedener Fachbereiche das Gesundheitsministerium und den Präsidenten.

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Bisher hat Sierra Leone 585 Coronafälle diagnostiziert, davon sind 35 Menschen an dem Virus gestorben. Die Zahlen in den Nachbarländern entwickeln sich ähnlich. Auch wegen der Erfahrungen mit Ebola hat Sierra Leone den Kampf gegen das neue Virus schneller und entschlossener aufgenommen als die meisten anderen Staaten. Noch bevor ein einziger Corona-Fall diagnostiziert war, wurde der Flughafen am 22. März geschlossen, die Grenzen dichtgemacht, Veranstaltungen mit mehr als 100 Menschen abgesagt.

Ebola hat mit durchschnittlich 50 Prozent eine ungleich höhere Sterberate als das Coronavirus. Es ist aber auch einfacher, sich vor Ebola zu schützen: Es wird nur über direkten Körperkontakt mittels Körperflüssigkeiten übertragen. Trotzdem dauerte es damals zwei Jahre, bis das Land Ebola in den Griff bekam.

Die Pfleger schauen genau, wer das Krankenhaus betritt

Im Februar erzählt Bell von dieser Zeit, während sie Besucher durch das Krankenhaus in der Innenstadt von Freetown führt. Draußen auf den Straßen schieben sich dreirädrige Motortaxis durch die Menschenmenge, Händler bieten bunte Stoffe oder die neuesten Afrobeat-CDs an, andere verkaufen Bananen, Grapefruits oder Erdnusskuchen. Innerhalb der Tore des Krankenhauses ist es ruhiger: Da warten Patienten mit ihren Kindern geduldig im Warteraum, Pfleger schauen genau, wer das Krankenhaus betritt.

[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog ]

In ihrem Büro erzählt Bell davon, dass an Ebola mehr als 220 Ärzte, Pfleger und Hebammen gestorben sind, „ich habe Freunde und Kollegen verloren“. Hat man aus dem Kampf gegen Ebola gelernt? Ist das Land jetzt vorbereitet auf eine neue Krise? Bell schüttelt den Kopf. Oft seien Medikamente nicht vorhanden, immer wieder fallen Instrumente aus oder werden gar nicht erst geliefert. Wie ernst die Situation ist, zeigt die Mütter- und Kindersterblichkeit. Jede zehnte Frau stirbt bei der Geburt, jedes zehnte Kind erlebt seinen fünften Geburtstag nicht.

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Als Bells positives Testergebnis am 1. April bekannt wird, schickt das Ola-During-Krankenhaus sofort alle Mitarbeiter nach Hause, die Kontakt mit der Ärztin gehabt hatten. Viele Eltern von jungen Patienten reagieren panisch: Unabhängig vom Gesundheitszustand nehmen rund die Hälfte der 230 Familien ihre Kinder aus dem Krankenhaus.

Erst zwei Tage zuvor hat es den ersten Fall gegeben, ein 37 Jahre alter Mann war von einer Reise aus Frankreich zurückgekehrt und wurde nach einer 14-tägigen Quarantäne positiv getestet. Bell hat das Land in den Wochen zuvor nicht verlassen. Mit ihrem Testergebnis war klar, dass dasVirus im Land angekommen war.

Auf 100.000 Einwohner kommen zwei Ärzte

Alle Mitarbeiter des Krankenhauses wurden getestet, auch einige weitere waren positiv. Die gesamte Klinik, die größte und wichtigste Pädiatrie des Landes, wurde für zwei Wochen unter Quarantäne gestellt. In den normalerweise so belebten Krankensälen mit den petrol-farbenen Wänden wurde es ruhig. Die Metall-Rollbetten, über denen Malarianetze von der Decke baumeln, standen leer.

Dieser Wegfall ganzer Gesundheitseinrichtungen dürfte eines der größten Probleme der Krise werden. In einem Land, in dem es sowieso zu wenig medizinische Versorgung gibt, fällt er stark ins Gewicht. Auf 100.000 Einwohner kommen zwei Ärzte. In der Europäischen Union sind es durchschnittlich 350.

Die Ebolakrise hatte den Mangel weiter verschärft. Ärzte und Pfleger starben, zusätzlich stockte die Ausbildung neuer Fachkräfte, weil die Universitäten während der Krise geschlossen waren. Daraus hat die medizinische Universität gelernt und richtet jetzt Online-Kurse ein.

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„Aber jetzt müssen wir erst einmal so auskommen“, sagt Bell. Leicht ist das nicht. Nicht nur müssen viele Mitarbeiter im Gesundheitsbereich in die Quarantäne. Viele weigern sich aus Angst, zur Arbeit im Krankenhaus zu kommen. Um den Betrieb aufrechterhalten zu können, erhalten Mitarbeiter des Gesundheitsbereichs in den kommenden drei Monaten wöchentlich rund 100 Euro zusätzlich ausgezahlt, damit steigt ihr Gehalt im Durchschnitt um ein Vierfaches.

Aus Furcht wirft ihn der Vermieter aus der Wohnung

Obwohl Personal knapp ist, sind die Krankenhäuser nicht überlastet. Denn viele Menschen vermeiden es aus Furcht vor dem Virus, jede medizinische Hilfe zu suchen. „Als die Nachbarn erfuhren, dass ich positiv war, beobachteten sie ganz genau, wie sich meine Familie verhielt“, erzählt Bell. „Einmal, als meine Schwester das Haus verließ, schrien sie sie an, dass sie wieder zurück hineingehen solle.“ Bells Fahrer wurde aus seiner Wohnung geworfen – da seine Chefin Corona hatte, wollte der Vermieter ihn nicht mehr haben. „Dabei wurde er zweimal getestet, beide Male negativ!“, sagt die Ärztin. Die Nanny ihrer Kinder bekam in ihrer Nachbarschaft kein Essen ausgeschenkt, obwohl sie bereits zwei Wochen nicht mehr bei der Familie gewesen war.

In Freetown kleben immer noch Poster an Hauswänden, auf denen „Stop Stigmatization of Ebola“ steht – stoppt die Stigmatisierung von Ebola. Die Plakate sind vergilbt, ihre Botschaft ist heute relevanter denn je. „Es ist schon schwer genug, den Menschen in Deutschland zu erklären, wie ein Virus funktioniert. Stellen Sie sich vor, wie das in Land ist, in dem viele nicht zur Schule gegangen sind“, sagt Bell.

"Es braucht noch viel Zeit, Vertrauen zu gewinnen"

Auch Krankenwagen werden mit Ebola in Verbindung gebracht – wer damals mitgenommen wurde, kam häufig nicht mehr zurück. Das erschwert den Job von Riccardo Buson, Leiter der NGO National Emergency Medical Service (NEMS), die den Rettungsdienst des Landes betreibt. „Es braucht noch viel Arbeit, das Vertrauen des Menschen wiederzugewinnen“, sagt Buson.

Vor knapp zwei Jahren baute der Italiener NEMS auf, davor gab es keinen landesweiten Notruf. Als Folge der Ebolakrise wurde der Rettungsdienst zu einer Hälfte von der Weltbank und zur anderen vom Gesundheitsministerium finanziert. Heute transportiert die Organisation mit 80 Wagen monatlich etwa 2000 Patienten. Jetzt arbeitet Buson zusammen mit Bell in der Corona-Taskforce. Auch er hat gerade zwei Wochen Quarantäne im Militärhospital hinter sich – Corona-Patient Nummer sechs. Die beiden hatten an denselben Treffen teilgenommen.

Im Radio erfährt er, dass er positiv ist

Von seinem positiven Testergebnis erfuhr Buson über das Radio, dort hieß es, ein Italiener, der im Gesundheitssektor arbeitet, sei positiv getestet worden. Buson war klar, dass er gemeint war. Umgehend wurde er von einem seiner eigenen NEMS-Krankenwagen in dasselbe Hospital gefahren, in dem auch Bell in Quarantäne saß. Es ist eine der am besten ausgestatteten Gesundheitseinrichtungen des Landes, die Klinik war erst ein Jahr zuvor mit chinesischer Unterstützung eröffnet worden. Das ganze Gesundheitssystem funktioniert nur mit ausländischer Hilfe.

In der Rettungsstelle. Viele in Sierra Leone fürchten sich vor den Krankenwagen.
In der Rettungsstelle. Viele in Sierra Leone fürchten sich vor den Krankenwagen.

© Alicia Prager

An einem normalen Arbeitstag im Februar koordiniert Buson den Rettungsdienst im NEMS-Hauptgebäude in Freetown. Eine unasphaltierte Seitenstraße führt zu dem dreistöckigen Gebäude, durch das Buson im Februar führt. Sein Handy liegt stets in Reichweite, er ist quasi im Dauereinsatz.

Im Erdgeschoss deutet er auf einen großen Bildschirm, der eine Landkarte von Sierra Leone zeigt. Kleine Punkte bewegen sich entlang der Straßen. Hier behält die Organisation im Auge, wo sich ihre Rettungswagen gerade befinden. Im Nebenraum befindet sich das Call-Center, an acht Schreibtischen sitzen die Mitarbeiter mit ihren Headsets nebeneinander. Sie führen Buch, wann sie wie viele Notrufe erhalten. Im März, als sich die Nachrichten rund um das neue Virus verbreiteten, gingen sie um rund 20 Prozent zurück. „Wir wissen nicht, wie viele Menschen jetzt aus anderen Gründen als Covid sterben, weil sie keine medizinische Versorgung in Anspruch nehmen“, sagt Buson.

Viele haben Angst, sich im Rettungswagen anzustecken

Um die Menschen davon zu überzeugen, dass sie im Notfall ohne Bedenken die Rettung rufen können, verwendet NEMS einige Wagen nur für den Transport von Coronavirus-Patienten, während der Großteil ausschließlich für andere Notfälle eingesetzt wird. So will man der Bevölkerung die Angst nehmen, sich im Rettungswagen anzustecken.

Zweimal wurde in Sierra Leone ein dreitägiger Lockdown verordnet. Buson sagt, über lange seien solche Einschränkungen in einem so armen Land nicht machbar. „Hier wird die Pandemie erst mit einem Impfstoff gestoppt werden.“

Buson hofft, dass sich die Situation wieder normalisiert, je mehr Menschen lebend aus der Quarantäne herauskommen. Langsam spreche sich herum, sagt er, dass Corona eben doch nicht dasselbe wie Ebola sei.
Hinweis: Die Recherchereise wurde durch das European Journalism Centre mit dem Global Health Grant for Germany finanziert.

Saidu Bah, Laurence Ivil, Alicia Prager

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