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Erforschung von Emotionen: Gefühlte Welten erkunden

In einem neuen Sonderforschungsbereich wird die Rolle von Emotionen in modernen Gesellschaften untersucht. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeiten in 16 Teilprojekten zusammen.

„Ich habe heute leider kein Foto für dich.“ Dieser Satz lässt junge Frauen weltweit in Tränen ausbrechen. In Deutschland spricht ihn Fotomodell und TV-Moderatorin Heidi Klum im Frühjahr allwöchentlich auf ProSieben. Ein Satz, der das Ausscheiden aus der Sendung „Next Topmodel“ bedeutet, die in mehr als 170 Ländern ein Millionenpublikum erreicht – auch auf Gefühlsebene.

„Arena der Emotionen“ nennt die Publizistik-Professorin Margreth Lünenborg deshalb solche Reality-TV-Formate. Im Rahmen des neuen Sonderforschungsbereichs (SFB) „Affective Societies“ an der Freien Universität untersucht Lünenborg, wie Emotionen in Dating- oder Castingshows in verschiedenen Teilen der Welt gezeigt werden. „In asiatischen Kulturen ist das Zur-Schau-Stellen von Gefühlen weniger verbreitet. Im chinesischen Fernsehen sind negativ angesehene Gefühlsäußerungen, etwa in Tränen auszubrechen, außerdem politisch ausdrücklich nicht erwünscht“, sagt Margreth Lünenborg.

Ihr Projekt ist eines von 16 Teilprojekten des kürzlich angelaufenen SFB, in dem die Dynamiken des Zusammenlebens in bewegten Welten analysiert werden. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus zehn sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen sind an dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zunächst für vier Jahre geförderten Vorhaben beteiligt. Untersucht werden beispielsweise auch Publikumsemotionen bei sportlichen oder religiösen Großveranstaltungen, die Massenmobilisierung im Arabischen Frühling oder die Wirkung von Märtyrerbildern und Hass- predigten in sozialen Netzwerken.

„Emotionen und Affekte sind die Grundlage menschlichen Zusammenlebens – das ist unsere zentrale These“, sagt die Ethnologie-Professorin und Sprecherin des SFB Birgitt Röttger-Rössler. In den Sozialtheorien spielten Emotionen bislang nur eine Nebenrolle; der Mensch werde als abwägendes und rational entscheidendes Wesen betrachtet. „Es sind aber vor allem emotionale Kräfte, die Menschen bewegen, und nicht die nüchterne Faktenlage“, sagt die Wissenschaftlerin. Hinzu kommt, dass heute nicht nur Personen über Länder- und kulturelle Grenzen hinweg reisen, sondern mittels neuer Medien und Kommunikationstechnologien auch Ideen, Praktiken und Informationen schneller Verbreitung finden. Welche Auswirkungen diese Mobilität auf Gesellschaften und etablierte Emotionskonzepte haben, wurde bislang nur wenig wissenschaftlich untersucht.

Können Menschen Emotionen neu lernen? Können also asiatische Topmodel-Kandidatinnen lernen, in der Öffentlichkeit zu weinen? Bislang stehen nur Vermutungen im Raum: „Wir gehen davon aus, dass Emotionen sehr beharrlich sind. Man kann sie sicher nicht so schnell ablegen wie Ernährungsgewohnheiten oder Kleidungsstile“, sagt Birgitt Röttger-Rössler.

Wie es sich anfühlt, emotional zwischen zwei Welten zu stehen, untersuchen in dem SFB gleich mehrere Projekte, die sich mit Themen der transnationalen Migration beschäftigen. Soziologieprofessor Jürgen Gerhards beispielsweise erforscht das emotionale Dilemma von Migranten bei der Namenswahl für ihr Kind.

„Wie immer Eltern ihr Kind nennen – ob Christian oder Mohammed –, die Entscheidung ist folgenreich“, sagt Gerhards. Studien belegen, dass Personen mit ausländisch klingenden Namen häufiger diskriminiert werden, etwa auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt. „Entscheiden sich die Eltern aber für einen Vornamen der Aufnahmegesellschaft, kann das zur Entfremdung gegenüber der eigenen Herkunftsgruppe führen“, sagt der Soziologe.

Bei der Betrachtung von Gefühlen ist immer der ganze soziale Kontext einzubeziehen, wie Ethnologin Röttger-Rössler erklärt: „Emotionen sind zwischenmenschliche Prozesse und existieren nicht isoliert. Sie entfalten sich in sozialen Interaktionen und sind geprägt durch sogenannte Gefühlsregeln, also soziale und kulturelle Werte.“ Affekte seien hingegen „Rohstoffe der Gefühle“, aus denen Kulturen und Gesellschaften ihre Emotionen meißeln, sagt sie. Wie dieser Rohstoff verarbeitet wird, lernen wir von klein auf, etwa wie man trauert oder was romantische Liebe ist. Diese Gefühlsregeln können weltweit unterschiedlich ausfallen. „Es gibt etliche Gesellschaften, in denen es keine Verliebtheit gibt, so wie wir sie kennen“, sagt Birgitt Röttger-Rössler. Die Symptome – wie das sich stark Hingezogenfühlen zu einer Person, seien zwar gleich, würden dort aber unterschiedlich gedeutet: „Diese Menschen halten sich für verhext und für ernsthaft erkrankt“, erklärt die Ethnologin.

Was die asiatischen Topmodel-Kandidatinnen betrifft: Auch hier fließen beim Ausscheiden aus dem Wettbewerb Tränen. „Es sind aber keine authentischen Gefühle, sondern performative Leistungen, ebenso wie der perfekte Catwalk“, konstatiert Margreth Lünenborg. Mit dem Format lernten die Kandidatinnen und auch das Publikum also, Emotionen so zu regulieren, dass sie den Erwartungen entsprechen. Für Reality-TV-Formate heißt das: Tränen lügen doch.

Annika Middeldorf

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