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Produktion „Seziertisch“ von Jakob Böttcher. Videostream des Streichquartett-Abschlusskonzerts mit dem Sonar Quartett und dem Ensemble ilinx am 6. Juni 2021.

© Leah Muir

Ensemble ilinx: Im Rausch des Spiels

Seit sechs Jahren hat die UdK mit dem Ensemble ilinx eine Plattform für alle an Neuer Musik interessierten Studierenden. Eine Erfolgsgeschichte.

Bläser gehen schon mal gar nicht. Gesang? Auch schwierig. Die Abstandsbestimmungen für „musikalische Tätigkeiten mit verstärkten Aerosolausstoß“ werden in der Pandemie plötzlich zum Co-Kurator des Programms, das sich das je nach Projekt bis zu 16-köpfige Ensemble ilinx der UdK im Corona-Jahr vornehmen kann.

Doch die beiden Leiterinnen des Ensembles sind clever. Warum nicht aus der Not eine Tugend machen und den Fokus diesmal auf Streicher setzen? Neue Musik für Streichquartette, der seit Haydn wohl klassischsten Besetzung der Kammermusik. Auch ein Statement.

Schon die Gründung des Ensemble ilinx war ein Statement. Als die spanische Komponistin Elena Mendoza 2015 zur Professorin für Komposition an die Universität der Künste (UdK) berufen wird, ist ihre erste Amtshandlung die Bildung dieser Instrumentalistengruppe für Neue Musik mit und für Studierende.

Und Mendoza setzt gleich noch ein Signal hinzu: Statt mit Musikerinnen und Musikern aus der Institution oder mit professionellen Gastmusikern, wie es sonst gängige Praxis ist, bestreitet die Trägerin des spanischen Premio Nacional de Música 2010 und des Musikpreis Salzburg 2011 mit eben dieser soeben frischgegründeten Formation auch gleich ihr Antrittskonzert.

Lange gab es kein Ensemble für Neue Musik an der UdK

Ein programmatischer Einstieg. „An der UdK gab es zuvor seit rund 20 Jahren kein Ensemble mehr für Neue Musik“, sagt Mendoza. „Aber Komposition kann man nicht trocken studieren. Man muss hören, was man geschrieben hat, man muss sich ausprobieren, die eigene Klangvorstellung mit der Realität abgleichen.“ Die 1973 in Sevilla geborene Komponistin war vor ihrer Berufung viele Jahre Dozentin für Komposition und experimentelle Musik an der UdK und weiß daher, wie schwer es zuvor für Kompositions-Studierende war, ihre Stücke aufführen zu lassen.

„Man musste sich auf gut Glück Musiker suchen“, erzählt die perfekt deutsch-sprechende Spanierin. „Auch sind Komponisten nicht automatisch darin geübt, mit Musikern eine gute Kommunikation zu finden. Das muss man lernen, das gehört zur Ausbildung.“

Seit ihrem Amtsantritt gibt es nun also mit dem Ensemble ilinx ein Angebot für den Komponistennachwuchs an der UdK, und für alle an Neuer Musik interessierten Studierenden, für Instrumentalisten ebenso wie für angehende

Taktstockmeisterinnen und Taktstockmeister am Studiengang Dirigieren, dessen Lehrende Steven Sloane und Harry Curtis immer wieder gern mit dem Ensemble kooperieren. Es ist wohl das, was man in der Natur und Wirtschaft eine Synergie nennt, eine Win-Win-Situation, ein Vorteil für alle Seiten.

Lernen und Erfahrungen sammeln

Das findet auch die 25-jährige Kompositionsstudentin Mathilde Koeppel, deren Komposition „Unschärfe“ das Ensemble in diesem Jahr für ein gemeinsames Konzert mit dem Sonar Quartett einstudiert hat: „Die Möglichkeit durch das Ensemble ilinx direkt an einer Komposition zu arbeiten, ist großartig für uns Komponisten. So ein Ensemble ist der Kern, wo man viel lernt und Erfahrungen macht. Die Verbindung mit ilinx ist für mich geradezu das Wichtigste im Studium.“

Der Name des Ensembles stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet Rausch. Er soll das Spielerische der Musik betonen, die Irritation und neue Wahrnehmungsperspektive, die man in der Neuen Musik erfahren kann. Das Ensemble strebt nach dem Moment, in dem sich das Eingeübte und Kontrollierte im rauschenden Strom des gemeinsamen Spiels verselbständigt.

Das A und O des Ensembles

Doch damit das gelingt, braucht so ein Ensemble jemanden, der sich beständig kümmert, es koordiniert, coacht und leitet, was Mendoza neben ihrer Professur für Komposition allein nicht leisten könnte. Und so ist seit der Gründung von ilinx auch Leah Muir im Team, sie sei das „A und O des Ensembles“, so Mendoza.

Die 1978 in Kalifornien geborene Komponistin bringt die genau richtige Persönlichkeit mit. Schon in den USA hat Leah Muir ein Musikensemble gegründet und geleitet, bis 2006 war sie Dozentin für Komposition an der Universität Buffalo, New York, „Ich hatte immer einen Vermittlungsimpuls“, sagt die 2001 mit dem ASCAP-Preis für Komposition ausgezeichnete Musikerin.

Nach ihrer Dissertation geht sie nach Europa, „weil ich mich für eine Professur in den USA mit Ende 20 noch zu jung fühlte“. Doch vor allem sind ihr die Darbietungsformen für Neue Musik in ihrer Heimat zu elitär, wo es kein Festivalsystem für Neue Musik gibt. „Ich wollte immer Konzerte veranstalten, wo die Leute ohne Schwellenangst in Kontakt mit Neuer Musik kommen“, sagt Muir. 

In diesen Kontakt kann man bei den regelmäßigen Konzerten des Ensemble ilinx nun tatsächlich ohne weiteres kommen. Auftritte von ilinx gehören etwa bei „crescendo“, den Musikfestwochen der UdK sowie beim Neue-Musik-Festival der Berliner Musikhochschulen „Klangzeitort“ und dessen Tochterfestival „MehrLicht!Musik“ stets zum Programm. Aber auch außerhalb der UdK und deren Festivalkalender tritt das Ensemble ilinx auf, etwa in der Akademie der Künste Berlin.

„Die Praxis ist enorm wichtig für das Studium, ohne Praxis ist das kein Studium“, meint Elena Mendoza und betont zugleich: „Nicht erst wir, auch der Kollege Daniel Ott, der mehr vom Musiktheater kommt, hat darin schon vor uns an der UdK eine Menge bewegt.“

Illustre Namen der Neuen Musik

Die Arbeit mit Kompositions-Studierenden wie auch mit gestandenen Komponistinnen und Komponisten ist Prinzip des Ensembles. Es gibt ein kleines Budget, um Gastdirigenten einzuladen. „Da haben wir schon etliche, auch illustre Dirigenten und Komponisten einladen können“, sagt Mendoza nicht ohne Stolz. Und zu Recht: Die Liste der mit dem Ensemble ihre Werke probenden Komponisten liest sich wie ein kleines Who-is-Who der Neuen Musik: Helmut Lachenmann oder Toshio Hosokawa, in diesem Jahr auch eine Kooperation mit Musikern des renommierten Sonar Quartetts.

Mit einem Studierenden-Ensemble zu arbeiten, dessen Mitglieder sich divers vom Erstsemester bis hin zum angehenden Absolventen zusammensetzen, ist aber auch eine sportliche Aufgabe. „Man kann sich kaum vorstellen, was es bedeutet“, sagt Muir, „wenn man Stücke, die für ein hochkarätiges Ensemble wie das Sonar Quartett geschrieben wurden, mit Studierenden probt, die bislang keinerlei Erfahrung in Neuer Musik haben.“

So hatte ein Musikstudent, bereits im 8. Semester, noch nie etwas von den Bezeichnungen für Haupt- und Nebenstimme gehört, immerhin ein Standardbegriff der Neuen Musik seit Arnold Schönberg. „Das hat in seinem Studium bislang gar keine Rolle gespielt“, seufzt Muir, „da müssen wir manchmal wirklich bei Null anfangen.“

Es ist wie fliegen und dabei aus der Hüfte schießen, eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Doch das Unmögliche gelingt Muir und dem Ensemble immer wieder. So auch hier. Wer sich die im Juni als Live-Stream gesendeten Quartette anhört (www.livestream.udk-berlin.de), ist erstaunt, wie spielerisch die Streicher die ungewöhnlichen Partituren bewältigen. Im Wissen um die Ausgangslage folgt dem Staunen dann Bewunderung.

Aus der Komfortzone ausbrechen

Die zweite Violine spielt hier mit dem Spanier José Luis Perdigón ein Instrumentalist, der selbst auch Komponist Neuer Musik ist. Seine Komposition „one-act play“ wird im zweiten Teil des Abends vom Sonar Quartett aufgeführt. Ihn reizt „dass man in der Neuen Musik aus der Komfortzone seines gewohnten Instruments herausgelockt wird. Das macht einen am Anfang schon Angst und unsicher. Aber dann entdeckt man die ganz andere Spannung der Neuen Musik, die die klassische Musik nicht mehr in dem Maße hat. Wenn man ein Haydn-Streichquartett spielt, dann gibt es die Harmonie, die Melodie, alles Merkmale, die man versteht und kennt. Aber in der Neuen Musik erschafft jeder Komponist seine eigene Welt und Sprache, die man mitlernen muss.“

Auch der 30-jährige Argentinier Beltrán González, Komponist, Dirigent und derzeit Tutor im Ensemble, versucht in der Musik, wie er sagt, „Mikrowelten zu schaffen, mit eigenen Regeln und kleinen Geschichten“. Im Ensemble ist erstmals auch die 22-jährige Geigerin Quiyi Wu aus China.

Für sie ist das „Schöne an der Neuen Musik, dass man mit den Komponisten zusammenarbeiten kann, mit Haydn kann man das nicht mehr. Durch ihre Kommentare in den Proben verstehen wir genau, was gemeint ist. Diese Unmittelbarkeit ist spannend.“

Mut zum Risiko

Doch es gehört auch Mut zum Risiko dazu, wenn man sich auf die Neue Musik einlässt. Das gilt für alle Beteiligten, Instrumentalisten ebenso wie fürs Publikum. Schließlich klingen Kompositionen der Neuen Musik für an gängige Kadenzen gewöhnte Ohren mitunter wie ein aus dem Ruder laufender Kindergeburtstag. Ungewöhnliche Geräusche, Rhythmen und Texturen bestimmen die Klanglandschaft.

Doch das ergibt eben auch eine unerhörte Frische, die bisweilen sogar Popmusiker nutzen. Als Tom Waits 1987 sein Album „Frank‘s Wild Years“ aufnahm, ließ er die Musiker miteinander ihre Instrumente tauschen. Waits wollte den Aufnahmen mehr Frische verleihen, indem er Unsicherheit provozierte. Ähnlich kann es Instrumentalisten in der Neuen Musik ergehen. Statt ihres jahrelang bis zur Perfektion erlernten Instruments müssen sie mitunter ganz andere Instrumente spielen, Alltagsgegenstände, Tische, Früchte, oder sie müssen ihr Instrument plötzlich auf eine Art benutzen, die nicht im Lehrbuch steht. 

Ein Stück als Bodypercussion

So war es auch beim eingangs erwähnten Antrittskonzert von Elena Mendoza mit dem damals frisch gegründeten Ensemble ilinx, besetzt mit jungen Instrumentalisten, die sich meist erstmals im Feld der Neuen Musik ausprobierten. Auf dem Programm im Joseph-Joachim-Konzertsaal der UdK standen neben eigenen Werken von Mendoza auch zeitgenössische Kompositionen von Carola Bauckholt, Fabien Lévy und Francesco Filidei.

Bei Filideis Stück „I funerali dell'anarchico Serantini“, mit Muir als Dirigentin, sitzen sechs Instrumentalisten an einem langen Tisch – doch ohne ihre Instrumente. Das Stück besteht aus Bodypercussion. Die sehr schwierige Partitur verlangt von den Protagonisten leise Geräusche nur mit Gesten, choreographisch verrenkten Hälsen, Schnipsen, Schnalzen und Klatschen, alles sehr komplex.

Filidei war als Artist-in-Residence des Berliner Künstlerprogramms gerade in der Stadt. „Am Tag zuvor war er noch in Frankreich bei einer anderen Aufführung mit einem Profiensemble“, erzählt Mendoza. „Nach der Vorstellung kam er begeistert zu uns und sagte, die Aufführung der Studierenden des Ensemble ilinx sei viel besser gewesen, als die der Profis am Tag zuvor.“ Kann es ein größeres Lob geben?

Friedhelm Teicke

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