zum Hauptinhalt
Stilles Gebet. Zahlreiche Menschen versammelten sich am 11. März 2020 in einer Gedenkstätte im Hibiya Park von Tokio.

© picture alliance / ZUMAPRESS.com

Energiewende in Deutschland: Atomausstieg in 999 990 Jahren

Zehn Jahre nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima und 35 Jahre nach Tschernobyl: Deutschland nimmt einen neuen Anlauf bei der Suche nach einem Endlager für hoch radioaktiven Atommüll.

Eigentlich war es zunächst nur ein Seebeben, das am 11. März 2011 um 14.46 Uhr Ortszeit vor der Ostküste Japans begann. Doch schon 23 Sekunden später trafen die Wellen des Bebens das Kraftwerk Fukushima I, 250 Kilometer nordöstlich von Tokio. Zwei Minuten lang dauerten die Eruptionen, weniger als eine Stunde später erreichten 15 Meter hohe Tsunamiwellen die Atomanlage. Sie überschwemmten die Siedewasserreaktorblöcke 1 bis 4, zerstörten die Meerwasserpumpen und mehrere der laufenden Notstromaggregate. Weil die Brennelemente nicht mehr gekühlt werden konnten, überhitzten die Reaktoren und die Abklingbecken. Es kam zu Kernschmelzen in den Blöcken 1 bis 3, schließlich zu Explosionen und Bränden, die die Reaktorgebäude beschädigten und Schutt auf das Kraftwerksgelände schleuderten. Hoch radioaktive Stoffe gelangten als Dampf in die Luft und als kontaminiertes Wasser ins Meer.

Hundert Milliarden Euro Folgekosten

Es war eine menschengemachte Katastrophe, die sich in Fukushima ereignete. Die Folgekosten werden auf mehrere Hundert Milliarden Euro geschätzt, die Aufräumarbeiten werden noch Jahrzehnte andauern. In Deutschland führte das Unglück von Fukushima dazu, dass die schwarz-gelbe Bundesregierung unter Angela Merkel (CDU) eine spektakuläre Kehrtwende vollzog: Der Atomausstieg, den man weniger als ein Jahr zuvor gekippt hatte, sollte nun doch wieder und in verschärfter Form kommen. Merkel selbst sagt, die Katastrophe von Fukushima habe ihre Einstellung zur Atomenergie verändert: Weil sich gezeigt habe, dass „selbst in einem Hochtechnologieland wie Japan die Risiken der Kernenergie nicht sicher beherrscht werden können“.

Spätestens am 31. Dezember 2022 muss deswegen in Deutschland auch der letzte Reaktor abgeschaltet werden. Doch damit ist der Atomausstieg noch nicht vollzogen, das Thema Kernenergie in Deutschland ist dann längst noch nicht Geschichte.

Nicht nur produzieren Fabriken wie die EDF-Tochter Advanced Nuclear Fuels (ANF) im niedersächsischen Lingen hierzulande weiterhin Brennelemente für Atomkraftwerke (AKW) und exportieren sie. Auch die Frage nach dem Wohin mit dem Abfall ist nach Jahrzehnten der Nutzung von Atomenergie nach wie vor ungeklärt.

Teams aus Deutschland und der Schweiz

Damit stehe Deutschland übrigens nicht alleine da, sagt Politikwissenschaftler Achim Brunnengräber vom Forschungszentrum Umweltpolitik (FFU) der Freien Universität Berlin. Er leitet ein Teilprojekt des Verbundvorhabens „Transdisziplinäre Forschung zur Entsorgung hoch radioaktiver Abfälle in Deutschland“ (TRANSENS), an dem 17 Forschungsteams aus Deutschland und der Schweiz beteiligt sind: „Die Frage der Endlagerung ist weltweit ungelöst. Tatsächlich gibt es noch in keinem Land ein Endlager für hoch radioaktiven Abfall aus Atomkraftwerken.“

Brunnengräber erforscht zusammen mit seinen Teamkolleginnen und -kollegen Rosaria Di Nucci, Dörte Themann und Lucas Schwarz, wie Gesellschaften sich zu Kernenergie verhalten, derzeit in Form von „teilnehmender Beobachtung“. Denn über die Frage, wo in Deutschland ein Endlager für hoch radioaktiven Atommüll gebaut werden soll, wird dieser Tage neu debattiert. Grundlage dafür ist das 2013 beschlossene und 2017 reformierte Standortauswahlgesetz, das die Suche nach einem möglichen Endlagerstandort unter umfangreicher Beteiligung der Öffentlichkeit vorsieht.

"Reallabor“ mit über 1600 Menschen

Bürgerinnen und Bürger sollen dem Gesetz zufolge nicht nur Bedenken äußern können, sondern den Entscheidungsprozess „mitgestalten“. „Man muss sich vergegenwärtigen, dass die Atomkraft in Deutschland historisch von staatlicher Seite von oben und gegen den Willen vieler Bürgerinnen und Bürger durchgesetzt wurde“, sagt Brunnengräber. „Heute wissen wir, dass ein Standort für ein Atommüllendlager ohne eine ambitionierte Bürgerbeteiligung nicht gefunden werden kann.“ Genau dieser Prozess läuft gerade an; es wurde eine für die Öffentlichkeit konzipierte „Fachkonferenz Teilgebiete“ organisiert. Der erste Termin fand Anfang Februar in digitaler Form statt, Teil zwei und drei folgen im April und Juni. Der Politikwissenschaftler bezeichnet das als in seiner Form „einmaliges und anspruchsvolles Reallabor“: Über 1600 Menschen haben nach Angaben der Veranstalter am ersten Termin digital teilgenommen.

Wegweiser zu den Orten, die untrennbar mit der Atomkraft verbunden sind.
Wegweiser zu den Orten, die untrennbar mit der Atomkraft verbunden sind.

© picture alliance / dpa

Achim Brunnengräber merkt allerdings an, dass der Begriff der „Mitgestaltung“, wie er im Gesetz angeführt wird, „unpräzise“ sei. Was bedeutet Mitgestaltung, wie weit reicht sie, und welche Einflussmöglichkeiten hat die Öffentlichkeit? Letztendlich entscheidet der Bundestag über den Endlagerstandort, es wird kein Veto und kein Referendum geben. Zugleich werden die Abgeordneten nicht ignorieren können, wohin die Öffentlichkeitsbeteiligung und die dadurch angestoßene Debatten geführt haben werden.

1700 Castor-Behälter

Bis 2031 soll ein Endlagerstandort feststehen, um von 2050 an damit zu beginnen, den derzeit noch in 1700 Castor-Behältern aufbewahrten Atommüll einzulagern. 2080 sollen die insgesamt 16 000 Tonnen hochradioaktive Abfälle aus Deutschland endgültig in einer tiefengeologischen Formation deponiert sein. Wenigstens für die nächsten eine Million Jahre, bis die Strahlung so weit abgeklungen ist, dass sie kein Gesundheitsrisiko mehr für den Menschen darstellt. Der Zeitplan ist ebenso anspruchsvoll wie die Öffentlichkeitsbeteiligung.

Achim Brunnengräber sagt, die Frage nach einem Atommüll-Endlager sei vertrackt, weil jeder Lösungsversuch neue Fragen aufwirft: Soll das Endlager unterirdisch oder überirdisch gebaut werden? Ein überirdisches Lager hätte den Vorteil, dass es leichter zugänglich ist, falls man es sich in 10 000 Jahren doch wieder anders überlegt. Zugleich ist es aber weniger geschützt vor Unfällen oder vor terroristischen Angriffen. In welchen Behältern soll der Atommüll endgelagert werden? Das wiederum hängt davon ab, für welchen Untergrund man sich entscheidet: Ton, Salz oder Granit. Sollen die Anwohner eines Endlagers Kompensationsleistungen oder gar Ausgleichszahlungen erhalten? Oder würde das womöglich als „unmoralisches Angebot“ gewertet werden?

Gretchenfrage

Die Gretchenfrage aber ist, welches Risiko grundsätzlich von einem Atomendlager ausgeht. Die großen Nuklearkatastrophen in Tschernobyl und Fukushima hätten gezeigt, dass es in Sachen Atomenergie keine hundertprozentige Sicherheit gibt, sagt Achim Brunnengräber: „Das ist das Einzige, was man mit Sicherheit sagen kann.“

Pepe Egger

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false