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Michael Rath führt durch die Energiewerkstatt auf dem Euref-Campus.

© Sven Darmer

Energiewende in Berlin: Die Zukunft beginnt in Schöneberg

Die Energiemengen von Wind und Sonne schwanken stark. Auf dem Schöneberger Euref-Campus entwickelt ein Pilotprojekt dafür smarte Lösungen.

Er prägt das Stadtbild, aus allen Himmelsrichtungen. Der Schöneberger Gasometer bietet einen beeindruckenden Anblick, auch als bloßes Gerüst, wahrscheinlich gerade deshalb. Nach umstrittenen Plänen soll sein Inneres demnächst komplett mit Eventflächen und Büros bebaut werden, das wird sein Aussehen und seine Ausstrahlung völlig verändern. Bis es soweit ist, steht der Gasometer als Symbol für die „alte“ Energieerzeugung. Er diente von 1913 bis 1995 als Zwischenlagerstätte für Stadtgas aus Kohle, also aus einem endlichen und sehr klimaschädlichen fossilen Energieträger. Die neue Zeit kündigt sich zu seinen Füßen an. Auf dem Campus des Europäischen Energieforums (Euref) haben sich viele Institute und Unternehmen angesiedelt, die an einer grüneren Zukunft arbeiten.

Auch die Gasag Solutions Plus ist auf dem Euref-Campus zu Hause, eine Tochtergesellschaft der Gasag, Think Tank der Energiewende – und mehr als das: Hier werden nicht nur theoretisch Ideen entwickelt, sondern auch praktisch zur Anwendung gebracht. Das kann man konkret beobachten in der Energiewerkstatt, die den Campus mit Wärme und Kälte (etwa zur Kühlung von Servern) sowie teilweise auch mit Strom versorgt. Hier arbeitet unter anderem ein Blockheizkraftwerk, das mit Biomethangas aus nachwachsenden Rohstoffen, darunter Mais, betrieben wird.

Ein zentrales Problem der Energiewende

„Die Bürogebäude auf dem Euref- Campus werden bereits heute größtenteils bilanziell CO2-neutral beheizt“, erklärt Michael Rath. Der promovierte Physiker leitet bei Gasag Solutions Plus ein Pilotprojekt, das sich mit einem der zentralen Probleme der Energiewende auseinandersetzt: Der Abhängigkeit von natürlichen Schwankungen. Kohle-, Gas- oder Atomkraftwerke sind vergleichsweise flexibel, die Energieträger sind ja vorhanden, sie erzeugen nur eben eine Menge klimaschädliches CO2 oder strahlenden Atommüll. Man kann diese herkömmlichen Kraftwerke je nach Bedarf mit einiger Vorlaufzeit recht unkompliziert hoch- oder runterfahren. Das ist bei erneuerbaren Energien komplizierter: „Wind und Sonne sind da, wenn sie da sind“, sagt Rath. Das heißt eben auch: Die Anlagen können zu viel Strom produzieren und müssen dann abgeschaltet werden. Warum ist das ein Problem? „Werden Windkraftanlagen abgeschaltet, wird wertvolle elektrische Energie, die umsonst geerntet werden könnte, nicht genutzt“, sagt Michael Rath. „Sie muss dann zu anderen Zeiten wieder teuer und CO2-behaftet erzeugt werden.“ Vor drei Jahren hat Gasag Solutions Plus in der Energiewerkstatt eine System installiert, das überschüssigen Strom aus erneuerbaren Energien in Wärme oder Kälte für den Campus überführen kann.

Michael Rath führt durch die Räume. Monitore sind an der Wand montiert, auf ihnen laufen Videos mit laienverständlichen Erklärungen. Grüne Pfade auf dem Fußboden weisen den Weg: Dieser Ort ist dafür angelegt, von Besuchern erkundet zu werden, als Schaufenster der Energiewende. Es wummert, die Temperaturen hier drinnen sind relativ hoch, also erstmal Jacke ausziehen. Herzstück der Anlage sind zwei große Speicher, sie fassen je 22 Kubikmeter Wasser. Mit überschüssigem Strom wird das Wasser erwärmt, das Prinzip heißt Power-to-Heat. „Der Erhitzer, der dafür zum Einsatz kommt, hat eine Leistung von 500 Wasserkochern“, erklärt Michael Rath. Gleich nebenan steht das Gegenstück, Power-to- Cold: Mehrere Kompressoren kühlen das Wasser auf sechs bis acht Grad Celsius herunter, mit dem gleichen Verfahren, das auch bei einem normalen Haushalts-Kühlschrank verwendet wird. In beiden Fällen geschieht dasselbe: Eine Energieform, hier Elektrizität, wird umgewandelt in eine andere, hier Wärme oder Kälte. Angewandte Sektorkopplung könnte man das auch nennen, um einen weiteren wichtigen Begriff der Energiewende ins Spiel zu bringen.

Jeder Durchlauferhitzer verwendet dasselbe Prinzip

Die Anlage auf dem Euref-Campus wurde drei Jahre im Rahmen des Windnode-Verbunds gefördert, in dem Projekte zur Entwicklung regenerativer Energiesysteme vor allem im Nordosten Deutschlands zusammengefasst waren – „node“ steht im Englischen für „Knotenpunkt“. Die Idee, Strom in Wärme zu überführen, ist an sich natürlich nicht neu, jeder Durchlauferhitzer verwendet dasselbe Prinzip. „Allerdings haben wir hier erstmals in Deutschland Power-to- Heat und Power-to-Cold an einem Ort vereinigt“, sagt Michael Rath.

Und noch etwas gibt es, was der Durchlauferhitzer in Omas 50er-Jahre-Küche so nicht zu leisten vermag: Ein relativ kleiner schwarzer Kasten, in dem es blinkt und fiepst, die „übergeordnete Steuerung“. Sie ist ein zentrales Element der gesamten Anlage. Denn sie entscheidet mittels KI und Algorithmen, wann welcher Energiewandler mit welcher Leistung laufen soll, wobei sie zum Beispiel Wetterprognosen und den Strompreis an der Börse miteinbezieht – und ist dabei selbstlernend. Damit steht sie im Grunde im Mittelpunkt der gesamten Diskussion um erneuerbare Energien, bündelt sie wie in einem Brennglas: Wenn wir uns in Zukunft von der starren und dabei auch relativ bequemen fossilen Energieerzeugung verabschieden und unser Schicksal in die Hände schwankender Energiequellen wie Wind und Sonne legen wollen, müssen wir deutlich flexibler reagieren können als bisher. Das wird nicht ohne künstliche Intelligenz und smarte Computerprogramme gehen. „Sie sehen hier im Kleinen das Energiesystem der Zukunft“, sagt Michael Rath zum Abschied. Mit dem Wissen, das hier gewonnen wird, will Gasag Solutions Plus künftig in ganz Deutschland Wohn- und Gewerbeviertel klimafreundlich umrüsten. In Mariendorf hat diese Zukunft in einem Quartier mit 800 Wohnungen bereits begonnen.

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