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Marie-Julie und ihr Mann Jhonny 2013. Beiden geht es für haitianische Verhältnisse gut, aber ihnen gefällt das Leben in ihrem Land nicht. Sie benutzt keine der beiden Prothesen, die sie von internationalen Organisationen bekommen hat.

© Ingrid Müller

Eine Prothese für Bebenopfer Marie-Julie: Zu schwer, zu schwarz

Marie-Julie Guerrier-Dumé wurde beim Beben in Haiti verschüttet, verlor einen Arm. Sie erkämpfte sich zwei Prothesen. Keine davon trägt sie - aber sie wünscht sich noch eine dritte.

Nun also Amerika. Stolz nestelt Marie-Julie Guerrier-Dumé ihren dunkelblauen Pass mit dem goldenen Aufdruck aus ihrem Dokumententäschchen. Sie macht das so selbstverständlich, dass ein Beobachter auf den ersten Blick nicht bemerken würde, dass sie nur ihre rechte Hand benutzen kann. Die linke fehlt ihr seit dem verheerenden Erdbeben, das ihre Heimat Haiti am 12. Januar 2010 traf und die Laborantin in den Trümmern der Uni begrub. Als man sie schließlich fand, musste ihr linker Arm oberhalb des Ellbogens amputiert werden. Ihren mit einer beigen Bandage kaschierten Stumpf hält sie heute meist leicht abgewinkelt nach hinten, wenn sie sich beobachtet fühlt. Ihr schwer verletztes Bein retteten deutsche Ärzte damals.

Jetzt im Sommer 2013 sitzt die 40-Jährige selbstbewusst in türkisfarbenem Shirt, geschlitztem Jeansrock und weißen Slippern mit ihrem Mann Jhonny unter einem Baum in der Hauptstadt Port-au-Prince. Gut sehen die beiden aus. Und sie machen gerade mal wieder neue Pläne. Dass sie dafür gut Hilfe brauchen könnten, machen sie sehr deutlich. Allein sei das zu schwer.

Sie wollte nur für internationalen Lohn arbeiten

Das Leben ist schwierig, klagen sie. Jhonny hat Marie-Julie inzwischen Englisch beigebracht, als Sprachlehrer verdient der gelernte Jurist auch etwas Geld. Sie hat im Jahr nach dem Beben einen Job in einem Labor abgelehnt, weil sie nicht internationalen, sondern in Haiti üblichen Lohn erhalten sollte. Die beiden haben inzwischen von ihrer Mietwohnung aus einen Laden aufgezogen. „Die Bestellungen schreibe ich in mein Orderbuch: Parfum, T-Shirts, Spaghetti, Öl, Tomaten, Trockenfisch. Ich mag das Geschäft“, sagt Marie-Julie. Ihre Wohnung ist groß, erzählen sie, sie hat mehrere Zimmer. Viele Familien in Haiti haben nur einen einzigen Raum. Sie haben aber kein

eigenes Bad, das stört besonders Marie-Julie. Sie mag auch die Gegend nicht, zu viele schlechte Menschen wohnen dort, sagt sie. Einig sind sie sich, dass die Wohnung nicht nah genug an der Hauptstraße liegt, um richtig gute Geschäfte zu machen. Immerhin läuft ihr Laden so weit, dass beide neue Sachen tragen. Und Marie-Julie konnte sich den Pass leisten, der hat 120 US-Dollar gekostet. „Ich will meinen Bruder in Amerika besuchen, nur zwei Wochen“, sagt sie, doch mit dessen Frau verstehe sie sich nicht, darum habe sie keine Einladung. Ohne Einladung kann sie aber kein Visum beantragen. Sie will ihren Bruder überraschen, sagt sie und lächelt ihr bittendes Lächeln, leicht von unten nach oben. Es ist freundlich, aber es hat auch etwas Unerbittliches. Es dürfte auch eine Einladung nach Deutschland sein, sagt sie. Um ein Ticket zu finanzieren würden dann all ihre Freunde und Bekannten zusammenlegen. Die Haitianerin weiß, was sie will.

Es gibt bis heute keine zuverlässigen Zahlen

Schon als sie ein paar Tage nach dem Beben zwischen so vielen anderen Schwerverletzten in einem Feldbett auf dem Flur des Hospitals Espoir lag, verlangte sie nachdrücklich nach einem Arzt, der sich rasch um sie kümmern müsse. Sie blieb Monate im Krankenhaus und wurde von Humedica-Ärzten und -pflegern versorgt. Selbst Jhonny wohnte später auf einem Feldbett neben ihrem im „Damenzelt“ auf dem Hof des Krankenhauses. Der Vermieter hatte nach dem Beben ihre Wohnung für sich selbst gebraucht. Im Sommer 2010 übte Marie-Julie auf Krücken wieder zu gehen, auch Ergotherapeuten von Handicap International kümmerten sich um sie. Vor allem aber wollte sie eine Armprothese. Armprothesen allerdings sind teuer und schwer anzufertigen, es gibt nur wenige Spezialisten. In Haiti wurden nach dem Beben überhaupt keine solchen Hilfen angefertigt. Erst sollten diejenigen versorgt werden, die ein Bein verloren hatten. Wie viele Patienten Prothesen brauchten, wusste in den chaotischen ersten Monaten niemand zu sagen, die Schätzungen schwankten zwischen 1000 und 11 000. Der Chef der haitianischen Organisation Healing Hands, der sich in den Kliniken in Port-au-Prince umgesehen hatte, warnte schon bald, die internationalen Zahlen seien viel zu hoch, maximal 2000 Prothesen  nötig. Handicap und deren Partner Healing Hands schätzen heute: Es gab 2000 bis 4000 Amputationen infolge des Bebens, das umfasst große Operationen, aber auch einzelne Finger. „Es gibt noch immer keine zuverlässigen Zahlen“, berichtet die promovierte Berliner Apothekerin Eva Suhren, die im Prothesenzentrum der Johanniter in Leogane gearbeitet hat.

Gut dreieinhalb Jahre nach der Katastrophe sieht man auf der Straße nur wenige amputierte Menschen. Der Aberglaube spielt eine Rolle. Viele Haitianer sind überzeugt, wer einen Arm oder ein Bein verliert, wird damit für etwas Böses bestraft, das er getan hat. Darum werden Behinderte oft von ihren Familien versteckt. „Die Stigmatisierung zu ändern ist ein jahrzehntelanger Prozess“, glaubt Eva Suhren. In Leogane bilden verschiedene Organisationen inzwischen Prothesenmacher und Physiotherapeuten aus.

Marie-Julie Guerrier-Dumé kurz nach dem Beben im Januar 2010 im Hospital Espoir in Port-au-Prince. Ihr linker Arm war von Trümmern zerquetscht worden und musste amputiert werden.
Marie-Julie Guerrier-Dumé kurz nach dem Beben im Januar 2010 im Hospital Espoir in Port-au-Prince. Ihr linker Arm war von Trümmern zerquetscht worden und musste amputiert werden.

© Ingrid Müller

Marie-Julie machte wegen ihres Arms allen die Hölle heiß. Ihre Kraft und ihr Wille beeindruckten die Helfer. Als die Internationalen Werkstätten eingerichtet hatten, bekam sie eine Prothese. Doch sie fand es zu anstrengend, damit zu üben. Experten hatten ihr gesagt, dass es harte Arbeit sein würde, mit dem künstlichen Arm zurechtzukommen. Doch Marie-Julie befand, die Prothese sei viel zu schwer. Sie verschwand im Schrank. Aber Marie-Julie ist niemand, der aufgibt. Schließlich überredete sie eine weitere Hilfsorganisation, ihr einen Arm zu machen. Aber: „Er ist viel zu schwarz“, klagt die Frau mit milchkaffeebrauner Haut und legt den Kopf auf ihren Stumpf. „Schwärzer als ich“, sagt Jhonny und zupft an seiner sehr viel dunkleren Haut. Marie-Julie ging wieder nicht zur Physiotherapie, auch der zweite Arm landete im Schrank.

Eva Suhren ist heute noch wütend, wenn sie an Marie-Julie denkt. Denn die Prothesen kosten viel Zeit und „ein Schweinegeld“. Die 39-jährige, die von sich selbst sagt, sie sei „eine Helfersyndromleidende“, kam im März 2011 nach Haiti. Sie war zunächst Praktikantin bei der Organisation Landsaid. Als sie herausfand, dass Marie-Julie schon eine andere Armprothese hatte, „wollte ich ihr unseren Arm wieder wegnehmen.“ Denn unter ihren Patienten war auch ein Polizist „mit der gleichen Amputation, aber hoch motiviert.“ Sie nennt Marie-Julie „besonders dreist“. Sie habe immer versucht, mehr Geld als üblich für den Transport herauszuschlagen. „Sie war zickig und hat sich bei allem angestellt“, erinnert sich die schmale Apothekerin. „Dabei hat sie eigentlich was im Kopf und könnte wirklich etwas machen.“  Wäre Landsaid noch da, „ich würde ihn ihr jetzt noch wegnehmen lassen.“

Viele Prothesenträger haben keine Lust zum Üben

Allerdings ist Marie-Julie kein Einzelfall. Viele Patienten seien nicht motiviert, Arbeit in das Training mit ihrer Prothese zu stecken. Das ist neben vielen im Chaos nach dem Beben schlecht gemachten Amputationen das größte Problem. „Die Menschen kommen mit der Erwartung, dass sie sich mit der Prothese so bewegen wie ohne. Dann sind sie mit der ersten nicht zufrieden, nehmen halt die nächste und die dritte“, zuckt Eva Suhren leicht resigniert die Schultern. Einige allerdings machten enorme Fortschritte: „Es gibt auch Patienten mit Beinprothesen, denen man nichts davon ansieht und die sogar wieder Fußball spielen.“  Aber es gebe noch immer keine  Stelle, die die Hilfe koordiniere, auch wenn sich die haitianische Regierung langsam „berappelt“.

Inzwischen gehen die Johanniter mit unwilligen Patienten streng um. Wer bei der Physiotherapie keine Fortschritte macht, dem wird der Stopp der Hilfe angedroht. „Manche haben dann ganz aufgehört, aber einige sind jetzt die besten Patienten.“ Da viele Haitianer nicht sonderlich motiviert seien, glaubt Eva Suhren, dass die bisher aufgebauten Zentren reichen, auch wenn die Weltgesundheitsorganisation ausgerechnet hat, dass in Haiti eigentlich zehn bis 15 Prozent der Menschen Hilfe benötigen würden. „Manche bevorzugen es eben, mit Krücken zu gehen.“

Langsam fangen die Johanniter ran, ihr Rehazentrum mit hochwertigen Geräten der deutschen Prothesenspezialisten von Otto Bock an die haitianischen Adventisten zu übergeben. Aber das wird sich noch eine Weile hinziehen, denn der Betrieb ist teuer und die Patienten müssen daran gewöhnt werden, dass sie für die Hilfe auch etwas bezahlen müssen. Eva Suhren kehrt zurück nach Berlin. Mit Wehmut. Sie mag die Arbeit mit den Haitianern, und dass man sich auch über kleine Erfolge freuen kann und nicht wie in Deutschland „alles immer noch toller sein muss“. Aber nach all der Zeit braucht sie mal „eine heiße Dusche, ihre Freunde zuhause, will mal wieder draußen auf der Straße herumlaufen“.

Irgendwann mussten Marie-Julie und Jhonny die Klinik verlassen, sie erhielten einen Zuschuss für die erste Jahresmiete und zogen um. Er wollte sein Jurastudium schon damals bald mit einer Arbeit über die Rechte von Straßenkindern abschließen. Aber er müsse erst eine Betreuung für Marie-Julie finden, sagte Jhonny 2010. Bis heute hat er seine Arbeit nicht begonnen. Man brauche einen Mentor, der koste Geld, das habe er nicht. Aber er sei auch „kein Sklave meines Berufs“. Jemand hat ihm erzählt, dass man mit Computerkenntnissen etwas werden könne. So etwas will er jetzt lernen. Zwischendurch hilft er bei kleineren Fällen als Jurist und verdingt sich als Sprachlehrer, erzählt er.    

Dann platzt es doch heraus: „Wir wollen das Land verlassen.“ In den USA oder Großbritannien würde sicher jemand Marie-Julie eine Prothese in ihrer Hautfarbe machen. „Alle sagen, mit denen, die ich habe, sehe ich doof aus.“ Marie-Julie selbst findet ihre Prothesen einfach „sehr hässlich“. Schließlich war sie doch immer so sexy. Sie kramt ihr Hochzeitsfoto aus der Handtasche. „Siehst Du?“ Dann streicht sie versonnen darüber: „Meine schönen Hände.“     

Wehmut liegt jetzt über dem Tisch. Sie würde auch gern ein Baby haben, sie macht eine Bewegung, als schaukele sie eins vor ihrer Brust. Doch Jhonny sagt knapp: „Ich will kein Baby. Marie-Julie und ich haben nicht die gleichen Vorstellungen.“ Sie lächelt wieder ihr Lächeln: „Ich bin eben eine Frau.“

Er sieht keine Zukunft für sie in Haiti. Auch nach zwei Jahren unter der neuen Regierung Martelly habe sich nichts zum Guten entwickelt. „Martelly kann das nicht allein machen. Entwicklung hängt von jedem im Land ab. Aber es gibt viele Reiche im Land, die wollen niemandem helfen.“ Für seine Ausbildung sei er Haiti dankbar, aber einen Job bekomme man nur über Verbindungen und Bestechung. Jhonny wird jetzt wütend. „Jeden Tag fahren offizielle Leute in meinem und in Julies Namen los und werben im Ausland um Geld. Wenn sie es kriegen, tun sie nichts für uns. Wenn ich krank bin, kriege ich keine Hilfe. Wenn ich fertig gelernt habe, kriege ich keinen Job. Also sollte ich wohl doch gehen. Vielleicht kann ich anderswo ein neues Leben finden.“  Er redet sich in Rage. „Für die bin ich ein Hund, so behandeln sie mich auch.“ Er wolle kein Geld vom Amt. „Ich will einen Job. Ich habe die Kraft, Geld zu verdienen. Aber das Leben in diesem Land ist verschwendete Zeit.“ Marie-Julie spielt mit ihrem Pass, er liegt wie die Eintrittskarte in eine bessere Welt auf dem Tisch. Sie legt ihre Stirn in Falten. Jhonny sagt: „Wenn sie geht, kommt sie nicht zurück.“  

Zum Abschied lachen Jhonny und Marie-Julie: „Du kannst nicht ohne Träume leben“, sagt er und schultert seinen Rucksack. Tags drauf kommt eine SMS: „Du bist wie eine Schwester für mich. Kannst Du mir bitte helfen, Geld für einen Pass zu beschaffen? Gott wird dir in deinem Leben weiterhelfen.“ 

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