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Rückkehr zu den alten Zeiten. Arye Sharuz Shalicar bei einem Besuch in Berlin. Er steht vor dem Diesterweg-Gymnasiums, seiner alten Schule in Wedding.

© dpa

Ein Weddinger in Israel: Vom Kleingangster zum Armeesprecher

Er war ein König der Kleingangster, damals in seiner Weddinger Jugend: Dealer, Sprayer, Messerstecher. Und er war Jude, angefeindet, bedroht. Arye Sharuz Shalicar suchte nach seiner Identität – und hat sie gefunden. Er ging nach Israel und ist heute Sprecher der Armee.

Arye Sharuz Shalicar wollte kein Jude sein. Der Nahost-Konflikt war ihm egal. Shalicar, damals ein Jugendlicher in Wedding, interessierte sich für wenig mehr als Fußball, Mädchen und den Respekt der Straße. Bomberjacke, Basecap. Ein golden schimmerndes Klappmesser in der Tasche. 15-Zentimeter-Klinge und keine Scheu, sie seinen Gegnern in den Leib zu rammen. Alles, was er wollte, war Anerkennung. Alles, was ihm entgegenschlug, war Hass.

Heute, mit 36 Jahren, sitzt Shalicar in einem Humus-Restaurant in Abu Gosh, einem kleinen Städtchen nahe Jerusalem. Keine 80 Kilometer vom Gaza-Streifen entfernt, wo sich die islamistische Hamas und Israel seit Wochen wieder schwerste Gefechte geliefert haben. Er trägt die Uniform der israelischen Armee. Die Haare kurz geschoren. Er ist einer der Sprecher der Israeli Defense Forces, wie sich die Armee nennt. Zuständig für den europäischen Raum und Asien. Der kleine Gangster von einst erklärt der Welt vor Fernsehkameras heute den Nahost-Konflikt. Zumindest die israelische Sicht darauf. Im Deutschlandfunk bezeichnet er die Hamas als Alleinschuldigen an den zahllosen zivilen Opfern in Gaza. Steht Rede und Antwort für die britische BBC und CNN, spricht zehn verschiedene Sprachen. Wie er den Konflikt sieht, beeinflusst die Sicht hunderter Journalisten, beeinflusst das Bild Israels in aller Welt. Wenn Worte Macht haben, dann kommt es auf seine besonders an. Normalen Soldaten ist es ohne Erlaubnis unter Strafe verboten, mit Journalisten zu sprechen.

Arye Sharuz Shalicar ist stolz darauf, Jude zu sein. Wenn er von Israel redet, spricht er vom „Gelobten Land“. Er bezeichnet sich als „Zionist mit Leib und Seele“. Lange Zeit hatte er sich gar nicht mit dem Judentum identifiziert. Er war der Sohn jüdischer Iraner. „Bei uns zu Hause wurde Persisch gesprochen und gekocht“, erzählt er. Sein Vorname war ebenfalls nicht jüdisch, sondern persisch: Nur Sharuz hieß er damals. Erst in Israel bekam er den jüdischen Vornamen „Arye“. „Wir gingen nicht in die Synagoge, und ich hatte keine Bar Mizwa. Und als wir in der sechsten Klasse eine Anne-Frank-Ausstellung besuchten, hatte ich null Interesse.“ Bis heute sei er nicht religiös, besuche noch immer nicht die Synagoge.

Dass er mit 23 Jahren Deutschland verließ, wo er geboren und aufgewachsen ist, um die Interessen Israels notfalls mit der Waffe zu verteidigen, war also nicht das Ergebnis einer religiösen Selbstfindung. Sein Kampf, auch heute noch, ist die Bewältigung eines Traumas.

„Was ich in Berlin erlebt habe, hilft mir, die Situation im Nahen Osten viel besser zu verstehen“, sagt Shalicar. Übrig geblieben aus seiner Zeit in Deutschland sind sein Berliner Dialekt und ein paar Narben. Er fährt mit seinem Zeigefinger leicht darüber. Eine Narbe auf dem Kopf, eine Narbe an der Schläfe, Überbleibsel eines Schlagstock-Hiebes. Unter seinem T-Shirt verbirgt er die Narbe eines Messerstichs. „Ich bin mit 13,14 angefeindet worden, nur weil ich Jude bin. Und ich fühle, dass das hier teilweise genauso ist. Nur weil wir Israel sind, weil wir ein jüdisches Land sind, werden wir angefeindet.“

"Kategorie Kanake", sagt ein Schuldfreund

Der Junge aus dem Wedding: Arye Sharuz Shalicar in den 90ern.
Der Junge aus dem Wedding: Arye Sharuz Shalicar in den 90ern.

© privat

Sein Trauma beginnt in einer Schule in Wedding. Diesterweg-Gymnasium. Schon damals war der Wedding geprägt von türkischen und arabischen Einwanderern. Shalicar, der mit seinen Eltern als 13-Jähriger aus Spandau weggezogen war, passte anfangs voll rein. Optisch. Der dunkle Teint, sein Kleidungsstil. „Kategorie Kanake“, sagt ein Schulfreund heute über ihn. Doch die neuen Freunde fragen immer wieder nach: „Bist du auch Muslim?“ Shalicar wusste nicht, wer er war. Ein Deutscher. Ein Deutscher mit iranischen Eltern. Ein Weddinger vielleicht, aber Religion – war das nicht egal?

Den Davidstern, den er zu dieser Zeit von seiner Großmutter geschenkt bekommt, trägt er voller Stolz. Hauptsächlich deshalb, weil er aus Gold ist, so schön protzig wirkt, der passt in den Bling-Bling-Schick der Kleinkriminellen aus dem Viertel, deren Respekt er sich erhofft. Was er bedeutet, weiß er nicht. Er wird es herausfinden.

Er ist 14, da sitzt er am Eingang des U-Bahnhofs Pankstraße mit einem Freund auf einer Bank. Schon von weitem sieht er die Gruppe kommen. Zwölf junge Männer zwischen 18 und 20 – allesamt Palästinenser. Sie nennen sich die PLO-Boys. „Da haben wir ja unseren Juden, sitzt hier und schämt sich nicht einmal“, hätten sie gesagt, erinnert sich Shalicar. Fadi, ihr Anführer, hat eine Schale Erdbeeren dabei. Er fordert Shalicar auf, den Mund zu öffnen. Schreit ihn an. Dann schiebt er ihm die Erdbeere in den Mund. „Friss, Jude, friss“, soll er gesagt haben.

„Es war wie eine Vergewaltigung“, sagt Sinan Coban, 22 Jahre später. Er war der Freund, der damals neben Shalicar auf der Bank saß. Der die Demütigung mit ansehen musste. „Ich glaube, das war der Moment, in dem sich für Sharuz alles änderte.“ Coban nennt Shalicar noch immer bei seinem persischen Vornahmen. Coban ist Deutsch-Türke, 38 Jahre alt, gläubiger Muslim, wie er sagt. Die kurzen braunen Haare sind zur Seite gegelt, auf der Nase sitzt eine eckige Brille mit dünnem Rand. Nur das hellblaue Schlabber-T-Shirt erinnert noch an die wilde Zeit, die er und Shalicar im Anschluss an den „Erdbeervorfall“, wie Coban ihn nennt, durchlebten.

Eine Zeit voller Drogen, Graffiti, Gangkriminalität und Musik, Hiphop. Coban und Shalicar wohnen nahe der Osloer Straße. Wirklich viel hat sich dort bis heute nicht verändert. Wer aus dem U-Bahnhof tritt, sieht den Weddinger Dreiklang. Sonnenstudio, Dönerladen, Matratzendiscounter. Spuren des Kleinkriegs von Jugendgangs und ihren Revierkämpfen finden sich an Stromkästen, Hauseingängen und Fassaden. Um sich Respekt zu verschaffen, besprühten Coban und Shalicar den halben Wedding mit ihren Graffiti. Coban unter dem Pseudonym „Frost“, Shalicar sprayte „Aro“. Jeder sollte seinen Künstlernamen kennen. „Es ging uns um Stolz und um Fame“, sagt Coban. Ruhm also.

"Ich zog mein Messer und stieß es dem Opfer in den Rücken"

Rückkehr zu den alten Zeiten. Arye Sharuz Shalicar bei einem Besuch in Berlin. Er steht vor dem Diesterweg-Gymnasiums, seiner alten Schule in Wedding.
Rückkehr zu den alten Zeiten. Arye Sharuz Shalicar bei einem Besuch in Berlin. Er steht vor dem Diesterweg-Gymnasiums, seiner alten Schule in Wedding.

© dpa

Damals ist Shalicar der unangefochtene König. Boss Aro, nennen sie ihn. Er vertickt Gras, hängt mit den Kolonie- Boys ab, den Jungen aus seiner Straße. Teil der Gang wird er nie, doch es sei besser gewesen, die Gefährlichen auf seiner Seite zu haben. Coban sagt heute: „Wir wollten dazugehören. Wären alle mit Block und Stift durch die Straßen gelaufen, hätten wir das auch gemacht.“

Doch das tat niemand. Stattdessen geht Shalicar nicht mehr ohne Gaspistole, Messer und Schlagring aus dem Haus. Mit 17 sticht er auf einen Türken ein, der seine Freunde von den Kolonie-Boys angemacht hat. Zu fünfzehnt verfolgen sie ihn, schlagen noch auf ihn ein, als er am Boden liegt. Shalicar soll ihm den Rest geben. „Ich zog mein Messer und stieß es dem Opfer zwei- bis dreimal in den Oberschenkel und in den Rücken“, erinnert sich Shalicar. Der Türke überlebt, Shalicar wird nicht von der Polizei erwischt. Doch von nun an ist klar, um anerkannt zu werden, würde Shalicar töten.

Eine Weile geht das auf. Die Judenwitze werden weniger, und wenn doch einer kommt, lächelt Shalicar ihn weg. Coban versteht nicht, warum er sich immer weiter radikalisierte. Erst in der Rückschau wird klar, wie es in Shalicar gebrodelt haben muss.

2010 hat er seinen inneren Konflikt in einem autobiografischen Buch verarbeitet. „Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude“, heißt es. Darin erzählt er von seiner Jugend in Wedding. Es ist eine Abrechnung mit dem Antisemitismus, wie er auch in jüngster Zeit, auch in Berlin wieder offen zutage tritt. Angeheizt vom Krieg zwischen Israel und der Hamas. Denn der Hass, der dem unreligiösen Straßengangster Shalicar entgegenschlug, war nicht der Hass der europäischen Antisemiten. Sondern der importierte Hass aus Nahost.

Von Israel aus beobachtet Shalicar die Proteste in seiner alten Heimat in den Medien. Sieht, wie Palästinenser über den Ku’damm in Berlin ziehen und rufen: „Jude, Jude, feiges Schwein“. Überrascht ist er darüber nicht. Was der Junge ihm damals an der Pankstraße gesagt habe, sei genau das, was er heute bei der Hamas erkenne: „Israel, wir wollen euch nicht in unserer Gegend haben.“

Zu seinen alten Freunden zählen Musiker wie "Die Atzen"

Rückkehr zu den alten Zeiten. Arye Sharuz Shalicar bei einem Besuch in Berlin. Er steht vor dem Diesterweg-Gymnasiums, seiner alten Schule in Wedding.
Rückkehr zu den alten Zeiten. Arye Sharuz Shalicar bei einem Besuch in Berlin. Er steht vor dem Diesterweg-Gymnasiums, seiner alten Schule in Wedding.

© dpa

Mit seinen Freunden aus der alten Zeit hat er noch Kontakt. Was er in seinem Buch auslässt, ist die Zeit um seine Gang „Berlin Crime“. Ein Zusammenschluss aus kleineren Gangs aus verschiedenen Bezirken. Dazu gehören Leute wie Manny Marc und Frauenarzt, die inzwischen als „Die Atzen“ durch die Lande touren und Liedzeilen singen wie „Hey, das geht ab. Wir feiern die ganze Nacht“. Im letzten Jahr war er mit seiner Familie auf Mallorca im Urlaub und traf die beiden am Ballermann. Shalicar ist verheiratet, hat einen zweijährigen Sohn und eine zwei Monate alte Tochter. Über die sinnlosen Texte seiner alten Freunde kann er jetzt schmunzeln. Damals waren harte Texte, Gangster-Rap ein wichtiges Ventil, um Frust abzubauen, sagt sein Freund Coban. Und Teil einer neuen Identität.

Shalicar, so schreibt er es in seinem Buch, reicht das nicht. Für die Deutschen ist er nur ein „Kanake“, für die Muslime „der Jude“ und für die jüdische Gemeinde in Berlin der „Kriminelle aus dem Wedding“. Viel ist seitdem passiert, viel, das kaum jemand mitbekommen hat, auch seine engsten Freunde nicht. Sinan Coban kann auch nicht verstehen, was seinen Kumpel geritten hat, eine Uniform überzustreifen und in ein fremdes Land zu ziehen. Shalicar selbst sagt, dass ihn Berlin nach dem Grundwehrdienst bei der Bundeswehr einfach nur noch „angekotzt“ habe. Er schreibt sich deshalb für einen fünfmonatigen Aufenthalt im Kibbuz Palmachin ein, trifft dort auf Menschen, die wie er auf der Suche nach ihren Wurzeln sind. Häufig besucht er in dieser Zeit auch seine israelischen Verwandten. Er fühlt sich wohl. Keiner feindet ihn an, weil er Jude ist. Und wie damals bei den Straßengangs beginnt er wieder, sich anzupassen, will dazugehören. Hält jetzt die jüdischen Essensvorschriften ein, nimmt den Sabbat ernst. Plötzlich muss auch seine Freundin jüdisch sein. Als seine Zeit im Kibbuz endet, hat er einen Entschluss gefasst. Gegen sein altes Leben, die Familie, die Freunde von früher: „Ich wollte so schnell wie möglich nach Israel zurück.“

„Er hat sich sehr verändert“, sagt Sinan Coban, der Shalicar das letzte Mal vor ein paar Monaten begegnet ist, als der zu Besuch in Berlin war. Shalicar traf sich mit einem Regisseur, das Buch soll verfilmt werden. Der Ruhm, der Fame ist Shalicar noch immer wichtig. Manchmal scheint er noch durch, der Graffiti-Sprayer aus Wedding. „Wenn ich ihn im Fernsehen sehe, dann sehe ich immer noch den kleinen Sharuz“, sagt Coban. „Manchmal ist da wieder dieser Gesichtsausdruck. Dann habe ich den Eindruck, er will seinem Gesprächspartner gleich eine reindreschen.“

Am 4. März 2001 lässt Arye Sharuz Shalicar in Schönefeld sein altes Leben hinter sich. Er steigt in ein Flugzeug Richtung Tel Aviv und geht zu den Fallschirmjägern der israelischen Armee. Er studiert Politik in Jerusalem, lernt Hebräisch. Von allen Identitäten, die ihm im Laufe seiner Jugend zugeschrieben worden waren, hat er sich für jene entschieden, die ihm am wenigsten bedeutet hatte und für die er am meisten gehasst wurde. Am Ende seines Buches schreibt er, wie er auf einem Hügel sitzt und über Israel blickt: „Da saß ich nun und sah Ursprung und Geschichte meines Volkes. Ich war angekommen.“

Lesen Sie hier ein ausführliches Interview mit Arye Sharuz Shalicar (2013)

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