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Wer die Wählscheibe hat, hat auch die Qual, oder?

© Imago/Rüdiger Wölk, Getty–Images; Montage: Bianca Kron

Ein modernes Weihnachtsmärchen: Wigbert und das Wundertelefon

Für diesen Preis war das Telefon eigentlich geschenkt. Und dann bescherte es Wigbert einen heiligen Abend, den er nicht vergessen wird. Ein Weihnachtsmärchen.

Wigbert mochte seinen Vornamen nicht, aber seine Geschwister hatte es noch schlimmer erwischt. Benito, der Älteste, Jahrgang 1941, war nach Benito Mussolini benannt worden, er schlug sich als „Ben“ durchs Leben. Seine Schwester Thusnelda hatten sie in der Schule „Tussi“ gerufen. Heute bestand sie auf „Nelly“.

Wigbert war ein noch unangenehmerer Vorname vermutlich nur deshalb erspart geblieben, weil er der Nachzügler war, Jahrgang 1950. Es war Heiligabend, nein, noch war es ein Nachmittag, der bald in den heiligen Abend münden würde. Wieder einmal Zeit für den alljährlichen Rundruf.

Vor Wigbert lag die Liste mit den Telefonnummern, zwei alte Freunde, sein Sohn Fridolin, die beiden erwachsenen Enkelkinder, die Nichte, die er mochte, den Neffen, den er nicht mochte, ersparte er sich, wie immer. Sie feierten wieder einmal allein, was er und Graziella bedauerten. Aber sie hatten sich daran gewöhnt.

Das neue Telefon klingelte in genau dem Moment, als Wigbert sich innerlich auf Ben eingestellt hatte, der bestimmt wieder über nichts anderes reden würde als seine Hüftoperation. Das neue Telefon war eigentlich uralt, er hatte es vor ein paar Monaten auf dem Flohmarkt gekauft. Es besaß noch eine Schnur und eine Wählscheibe, Modell W 48.

Wigbert bastelte gern. Es war aber leider schon so umgerüstet, dass es mit den modernen Anschlüssen funktionierte. Die junge Frau, die es verkaufte, bot nichts anderes an als dieses eine, einzige Telefon. Seltsam. Der Preis war viel zu niedrig, 20 Euro, ein Witz geradezu. Dafür baut man doch keinen Campingtisch auf, das bietet man auf Ebay an.

Ein seltsamer Anrufer

„Es ist ein ganz besonderes Telefon“, sagte die Frau. Ein original W 48, schon klar. „Und deshalb wollen Sie es so billig loswerden?“, fragte Wigbert. „Wo ist hier der Haken?“

„Es gibt keinen Haken. Ich will es auch nicht loswerden. Ich will jemandem eine Freude machen. Es wäre egoistisch, wenn ich es behalte. Und ich will die Person gesehen haben, die es kauft. Ich würd’s nicht jedem geben. Bei mir war es auch so.“ Irgendwie hatte sie wohl einen leichten Dachschaden. Sie musterte ihn sorgfältig, dann sagte sie: „Okay. Nimm du es.“

Das Telefon zeigte aber bisher keinerlei abweichendes Verhalten. Ein echtes Schnäppchen. Wigbert hatte der Frau 35 Euro gegeben, um sein Gewissen zu beruhigen. Er hob ab. „Krefelder am Apparat.“

Es war eine Männerstimme. „Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie an diesem Tag störe. Eine kurze Frage nur. Ich habe die Anzeige leider erst heute gelesen. Ist das Auto noch zu haben?“

„Welches Auto denn?“

„Na, der Borgward.“

„Ich habe keinen Borgward.“ Diese Autofirma war vor Jahrzehnten pleitegegangen. Schöne Oldtimer waren das. Sein Vater hatte einen, eine Isabella. Gehobene Mittelklasse, damals.

Ein Traumwagen: die Borgward Isabella.
Ein Traumwagen: die Borgward Isabella.

© picture-alliance / dpa

„Ich zahle auch mehr als die 3000 Mark.“

„Ein gut erhaltener Borgward ist heute 30.000 Euro wert, schätze ich. Falls das reicht. Leider besitze ich keinen.“

„Aber das stand doch im Tagesspiegel. Wilhelm Krefelder, das sind Sie?“

Wigbert spürte einen Stich ins Herz. „Wilhelm Krefelder ist lange tot. Soll das ein Witz sein? Wer sind Sie überhaupt?“

Die Stimme klang verärgert. „Hermann Knopp. Entschuldigen Sie. Es stand aber letzte Woche in der Zeitung. Ich kenne Sie, Herr Krefelder, Sie kaufen manchmal bei uns ein. Ihre Stimme kenne ich auch. Wenn Sie Ihr Auto schon verkauft haben, ist das kein Grund, sich totzustellen. Frohes Fest.“ Er legte auf.

Ein Wunder. Was passierte da gerade?

Wigbert erinnerte sich gut an Hermann Knopp. Auch er hatte oft in Knopps kleinem Laden eingekauft, als Kind. Knopp, ein großer, dicker Mann, nett, schon ziemlich alt. Er schenkte Kindern immer Bonbons.

Er wollte zu Graziella gehen, die damit beschäftigt war, das Fondue vorzubereiten, sein Job war es, den Baum zu schmücken. Dann überlegte er. Ja, er wusste die alte Nummer noch, nach so langer Zeit. Es war verrückt, aber einen Versuch war es wert.

„Krefelder.“ Sie war es. Teresia. Ein Wunder. Was passierte da gerade?

„Ich bin’s, der Wicki.“

„So, so, der Wicki. Was ist denn mit deiner Stimme passiert, lieber Wicki? Bist du etwa in den Stimmbruch gekommen? Mit zwölf wäre das aber ein bisschen früh.“

„Ich bin erkältet, Oma. Ich wollte euch frohe Weihnachten wünschen.“

„Das ist lieb. Aber wir sehen uns doch hoffentlich nachher. Hast du schön das Lied geübt?“

„Das muss ich nicht üben, Oma, wir singen es doch jedes Jahr.“

Sie lachte. „Mit dieser Männerstimme klingt das bestimmt anders. Oder musst du im Bett bleiben?“

„Nein, bestimmt nicht, ich bin nur heiser. Kann ich mal den Opa sprechen?“

Wenn jetzt 1962 war, würde Großvater sein letztes Weihnachten feiern

Wicki war zwölf, also war 1962. Der Anruf von Hermann Knopp musste aus einem späteren Jahr gekommen sein, den Borgward hatte sein Vater länger. Wenn jetzt 1962 war, dann würde Wickis Großvater sein letztes Weihnachten feiern. Bald würde er sehr krank sein. Teresia würde noch lange leben.

„Opa?“

Seine Stimme war ein dröhnender Bass. „Na, der Wicki kann’s nicht aushalten, oder? Bist auf die Geschenke gespannt. Ich verrat aber nichts! Ich schweige wie ein Grab.“

Weihnachten, als noch viel Lametta war.
Weihnachten, als noch viel Lametta war.

© IMAGO

„Das schönste Geschenk, das ich je gekriegt habe, war die Ritterburg, die du für mich gebaut hast. Danke, dass ihr im Sommer mit mir auf dem Bauernhof gewesen seid. Ihr seid richtig toll. Die besten Großeltern der Welt.“

„Und die bleiben wir auch noch eine Weile, Wicki. Nächstes Jahr fahren wir wieder auf den Bauernhof, nur wir drei, einverstanden? Jetzt müssen wir uns aber sputen und alles fein einpacken.“

„Aber ihr dürft nicht verraten, dass ich angerufen habe. Ben und Tussi lachen mich sonst aus. Ich lutsch jetzt Hustenbonbons, für die Stimme.“

„Was, du hast angerufen? Davon weiß ich nichts.“

Man kann versuchen, die Vergangenheit zu verändern

Wigbert wusste, dass so etwas wie Zeitmaschinen theoretisch möglich war. Einstein hatte das herausgefunden. Und Einstein lag immer richtig. Das hier konnte mit Frequenzverschiebungen zu tun haben, mit Wellen, die sich in der Unendlichkeit des Alls brachen oder zurückgeworfen wurden, auf jeden Fall war es weniger unwahrscheinlich als eine Zeitmaschine, die Personen transportiert, und sogar die ist ja möglich. Aber es funktionierte offenbar nur am heiligen Abend, was immer das zu bedeuten hatte. Immer am heiligen Abend oder nur dieses eine Mal? Das, was die Frau gesagt hatte, als er das Telefon kaufte, schien ihm darauf hinzudeuten, dass dieses Wunder sich wiederholte. Verlassen konnte er sich darauf nicht.

Man kann versuchen, die Vergangenheit zu verändern, aber mit einem Telefonanruf an Heiligabend, dachte Wigbert, ist das kaum möglich. Oder doch? Sollte ich mich selbst vor ein paar Dummheiten warnen? Er schaltete das Handy aus und wählte die eigene Handynummer. Diese Nummer hatte er ja schon ewig. Es dauerte lange, bis jemand sich meldete.

„Krefelder.“

Es war seltsam, sich selbst zu hören. Er klang aber nicht jünger, sondern älter.

„Hallo, Wicki.“

Langes Schweigen. „Bodo?“ Bodo war ein alter Freund, einer der beiden, die er heute noch anrufen wollte.

„Wicki, alter Junge, es ist eine blöde Frage, aber welches Jahr haben wir?“

Schweigen. „Heute ist Weihnachten. Kommst du vorbei?“

„Das schaffe ich nicht, Wicki. Wie geht’s dir? Wie geht es Graziella?“

„Wir waren kürzlich in Venedig.“ Daran konnte Wigbert sich gut erinnern, es war ihre Hochzeitsreise gewesen, 1985. „Wir kennen uns, oder? Ich vergesse manches.“

„Das macht nichts, Wicki, das macht gar nichts.“ Als Wigbert auflegte, war er froh, nicht zu wissen, mit welchem Jahr seiner Zukunft das Telefon ihn verbunden hatte. Aber das schwierigste Telefonat stand ihm noch bevor.

Sein Vater brüllte oft, aber schlug nie. Lob gab es nur selten

Seine Mutter lebte noch, mit hunderteins, sie und Wilhelm hatten früh geheiratet. Morgen würden sie hinfahren, alle Geschwister und Enkel würden sich im Heim treffen, falls Bens Hüfte mitspielte. Wilhelm war ein Vater gewesen, der sich kümmerte, gleichgültig waren seine Kinder ihm nicht. Er hatte Ben dazu gezwungen, in den Sportverein zu gehen, obwohl Ben Sport hasste. Er erlaubte, dass Ben seinen echten Vornamen verschwieg. Weil Thusnelda wegen ihres Namens sogar von einem Lehrer gehänselt wurde, schrieb er Briefe, sogar an den Schulsenator. Danach hatte sie Ruhe vor diesem Lehrer. Wigbert stand in der Schule schlecht, Versetzung gefährdet, Wilhelm übte Latein und Mathe mit ihm.

Er brüllte oft, aber schlug nie. Er lobte nur selten, und Wigbert konnte sich an keine einzige zärtliche Geste erinnern, an keinen Moment der Nähe. Als Wigbert studierte, stritten sie sich immer heftiger über Politik. Wilhelm gab hin und wieder etwas zu, in diesem oder jenem Punkt habe er sich früher geirrt, die Namen seiner Kinder seien zum Beispiel ein Fehler gewesen, gewiss, aber. Immer gab es ein „aber“.

Wigbert brach den Kontakt ab. Der monatliche Scheck kam weiter, bis zum Examen. Jahre später rief Wilhelm ihn an. Wigbert erkannte die Nummer, das ging damals schon, und hob nicht ab. Es kamen noch drei oder vier Anrufe, dann gab der Alte auf. Es musste ihn viel Überwindung gekostet haben, es mehrmals zu versuchen. Sie sahen sich nie wieder.

Weihnachten war immer gleich – nur nicht mit diesem Telefon

Zu Weihnachten lief zu Hause immer das gleiche Programm ab. Um diese Zeit würden die Kinder in ihren Zimmern sein, eines für Ben und ihn, eines für Nelly, und auf die Bescherung warten. Wilhelm würde kochen, die Mutter hatte frei an Weihnachten, vielleicht las sie. Aber wer weiß, vielleicht war Wigbert schon längst zu Hause ausgezogen. Das Telefon machte, was es wollte.

„Krefelder.“

„Ich bin’s. Wigbert.“ Sein Vater hasste es, wenn er sich „Wicki“ nannte.

Wilhelm atmete mühsam. „Du darfst ruhig Wicki sagen. Ich versuche dauernd, dich anzurufen, seit Wochen. Was ist da los?“

„Es tut mir leid, dass ich nicht drangegangen bin. Jetzt rufe ich an.“

„Ich will mich auch entschuldigen. Ich war nicht besonders gut als Vater, das weiß ich doch. Du hast in manchen Punkten, über die wir uns gestritten haben, recht gehabt. Aber …“

„Sag bloß nicht aber. Sonst geht’s wieder los.“

„Lass uns reden, aber anders als früher – wir gehören doch zusammen“

Sein Vater lachte selten, diesmal schon. „Kein Aber. Komm mal vorbei. Lass uns reden, aber anders als früher. Weißt du, Wicki, ich … aber … wir gehören doch zusammen, oder? Wie läuft das Studium? Reicht das Geld?“

„Wir gehören zusammen, Papa. Ich kann leider nicht kommen, ich bin sehr weit weg. Ich werde mich jetzt wieder eine Weile nicht melden können, aber das hat nichts zu bedeuten. Es ist ein Geheimnis, über das ich nicht sprechen darf.“

„CIA?“

„In dieser Richtung.“

„Die hören alles ab, klar. Da bin ich aber stolz, die nehmen nicht jeden, aber diese Amis … ach, vergiss es. Ein toller Beruf. Gut, dass du Latein kannst, da lernt man Sprachen leichter. Weißt du noch, wie wir den Bello Gallico gelesen haben?“

„Natürlich. Ich denke oft an dich.“

„Das wird ein sehr schönes Weihnachten, Wicki. Weil du angerufen hast. Pass auf dich auf. Oh, das Fondue ruft. Willst du deine Mutter sprechen? Sie schmückt den Baum.“

Andere sollen auch diese Chance haben, dachte Wigbert

Wigbert bog das ab. Er hatte seine Mutter immer am ersten Feiertag angerufen, erinnerte sich jetzt an jenes Jahr, in dem sie seltsame Andeutungen gemacht hatte, die er nicht verstand, „aha, unser Amerikaner“, und so was.

Wigbert beschloss, das Telefon weiterzugeben. Sicher, mithilfe eines alten Telefonbuchs hätte er vielleicht die Nummer seiner Urgroßeltern herausfinden können, neugierig war er schon. Aber die junge Frau auf dem Flohmarkt hatte es genau richtig gemacht. Andere sollen auch diese Chance haben, dachte Wigbert, an diesem Tag, an dem die Membran zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen noch dünner ist als üblich. Er suchte Geschenkpapier. Bodo, dachte er, ich schenke es Bodo.

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