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Frankreichs Präsidentt Emmanuel Macron bei seiner Rede an der Sorbonne am 26. September in Paris.

© Ludovic MARIN / AFP

EU-Reform: Macrons Europa-Vision hat deutsche Wurzeln

Das europapolitische Konzept von Karl Lamers und Wolfgang Schäuble aus dem Jahr 1994 ist gerade hochaktuell. Eine Kolumne.

Eine Kolumne von Gerd Appenzeller

Hat der französische Staatspräsident Emmanuel Macron bei seinen europapolitischen Visionen eine geistige Anleihe bei einem deutschen Projekt gemacht? Adaptiert der Hoffnungsträger „Überlegungen zur europäischen Politik“, die fast ein Vierteljahrhundert zuvor veröffentlicht wurden und seitdem immer wieder in den Diskussionen auftauchen wie eine Vision für eine Europäische Union von morgen?

Wer heute noch einmal das elfseitige Papier der beiden CDU-Politiker Wolfgang Schäuble und Karl Lamers vom 1. September 1994 durchliest, das als Konzept eines „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ zum Kanon der Europa-Theorien gehört, stößt auf sehr gegenwärtige Überlegungen. Schon der erste Satz des Papiers – das sich immer noch auf der Homepage des deutschen Finanzministeriums finden lässt, warum wohl? – enthält die ganze Aktualität der Theorie eines Kerneuropa, das sich vom Rest der Union nicht etwa abschottet, sondern nur das Tempo anheben will:

„Der europäische Einigungsprozess ist an einem kritischen Punkt seiner Entwicklung angelangt. Wenn es nicht gelingt, in den nächsten zwei bis vier Jahren eine Lösung für die Ursachen dieser gefährlichen Entwicklung zu finden, dann wird die Union sich entgegen der im Maastrichter Vertrag beschworenen Zielsetzung eines immer engeren Zusammenwachsens unaufhaltsam zu einer lockeren, im Wesentlichen auf einige wirtschaftliche Aspekte beschränkten Formation mit verschiedenen Untergruppierungen entwickeln“.

Nur in einem Punkt irrten sie: Der demokratischen Entwicklung Russlands

Lamers und Schäuble haben das 1994 geschrieben, also zehn Jahre vor dem EU-Beitritt der baltischen Staaten, Polens, Tschechiens, der Slowakei, Ungarns und Sloweniens, aber ahnungsvoll im Blick auf das, was viel später als Osterweiterung in zwei Stufen kommen wird. Deutschland müsse zusammen mit Frankreich die Mitte Europas bilden, eventuell erweitert um die Beneluxstaaten, liest man weiter, auch um zu verhindern, dass Deutschland in einer EU ohne die ost-mitteleuropäischen Staaten „wieder in die alte Mittellage zurückversetzt würde“. Ein „stabilitätsgefährdendes Vakuum, ein Zwischen-Europa“, dürfe es nie wieder geben. Alleine deshalb habe Deutschland „ein fundamentales Interesse an der Osterweiterung der Union; aber ebenso an ihrer vertiefenden Verfestigung“.

Aber nicht nur für Deutschland ist diese Ausdehnung der Union nach Osten wichtig, stellen die beiden CDU-Politiker an anderer Stelle fest, sondern „für die östlichen Nachbarn Deutschlands (sei) der Wille zum Beitritt in die EU in nicht unerheblichem Maße von dem Wunsch getragen, eine allzu große Abhängigkeit von Deutschland zu vermeiden“. All das hat sich als völlig richtig erwiesen, nur in einem Punkt irrten Lamers und Schäuble: Sie gingen damals noch von einer demokratischen Entwicklung Russlands aus.

Um als stabilisierender Faktor einer erweiterten Union fungieren zu können, müssten die Kernstaaten Europas ihre Geldpolitik, ihre Fiskal- und Haushaltspolitik, ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik „noch enger als bisher abstimmen“. Dazu müssen „die deutsch-französischen Beziehungen ... eine qualitativ neue Stufe erreichen, wenn der geschichtliche Fluss des europäischen Einigungsprozesses nicht versanden, sondern sein politisches Ziel erreichen soll“. So müssten „unterschiedliche Auffassungen Deutschlands und Frankreichs zu wesentlichen wirtschaftspolitischen Fragen ausgeräumt werden“.

Klingt das nicht alles wie ein einziges Zitat aus den Reden Macrons vor der Sorbonne und bei seiner Amtseinführung? Und da der französische Präsident sich auf exzellente Deutschlandkenner stützt, ja, selber eigene deutsche Erfahrungen hat, ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass er den rhetorischen und intelektuellen Kunstgriff wagte, mit den adaptierten Gedanken zweier prominenter deutscher Christdemokraten die zögernde deutsche Politik und ihre noch vorsichtigere Regierungschefin zu einer Vision zu bekehren, die im Ursprung eine deutsche Vision war.

Im Kanzleramt sollte man das Papier nochmal studieren

Philippe Etienne, früherer Botschafter Frankreichs in Deutschland, profunder Kenner der Verhältnisse, dürfte als engster Vertrauter und deutschlandpolitischer Berater des Präsidenten, die entscheidenden Hinweise gegeben haben. Das ist der gleiche Sound, in dem auch Etiennes Nachfolgerin, Anne-Marie Descotes, über Deutschland spricht. Man sollte im Kanzleramt mal wieder einen Blick in das alte Schäuble-Lamers-Papier werfen. Zu finden ist es, wie erwähnt, auf der Homepage des Finanzministeriums.

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