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Stoßrichtung. Nadine Kleinert, hier bei der EM 2012, will von ihrem alten Sportlerleben nichts mehr wissen. Und wird doch immer wieder daran erinnert.

© Michael Kappeler/dpa

Doping in der Leichtathletik: Wenn Medaillen per Post kommen

Nadine Kleinert ist oft geehrt worden – nachträglich, weil andere betrogen haben. Wie eine Siegerin fühlt sich die ehemalige Kugelstoßerin nicht.

Olympia liegt gleich vor der Terrasse. „Kommen Sie mal mit nach draußen, da haben wir einen schönen Blick“, sagt Nadine Kleinert, und da stößt sie auch schon die Tür auf und stürmt voran, mit federndem Schritt, der so überhaupt nicht an das erinnert, womit sie sich früher mal die Zeit vertrieben hat. Mit dem Wuchten von Stahlkugeln. Wenige haben das so gut gemacht wie die große, schlanke Frau, die mit ihren 43 Jahren daherkommt, als hätte sie früher als Volleyballspielerin Bälle über das Netz geschmettert. „Na, was sagen Sie zu der Aussicht?“ Unten spiegelt sich die Sonne im Kelbraer Stausee in Sachsen-Anhalt. Ein sanfter Hügel zieht sich hinauf zur Terrasse, eingefasst von hohen Bäumen, einem steinernen Ring und einem Rechteck aus dunklem Asphalt.

All das erinnert Nadine Kleinert an Olympia, den mystischen Ort auf dem Peloponnes mit seinem den Göttern geweihten Hain, wo vor 3000 Jahren die Olympischen Spiele der Antike erfunden wurden. 2004 wetteiferten dort die Kugelstoßerinnen bei den Spielen der Neuzeit um Medaillen. Für Nadine Kleinert gab es erst Bronze, das kurz darauf zu Silber wurde, weil die russische Siegerin noch während der Spiele von Athen des Dopings überführt wurde.

Sie sagt: "Betrügen kann jeder"

Das kommt vor, beim Leistungssport im Allgemeinen und ganz besonders bei den kraftintensiven Wurfdisziplinen mit Diskus, Hammer oder Kugelstoßen. „Betrügen kann jeder“, sagt Nadine Kleinert, und kaum jemand wurde so häufig betrogen wie sie. 15 Mal ist sie im Zuge der Auswertung von Dopingtests nach oben gestuft worden, „danach habe ich aufgehört zu zählen“.

Noch heute, sechs Jahre nach dem Ende ihrer Karriere, wird sie nachträglich mit Ehrungen bedacht. Vor ein paar Wochen hat sie der Deutsche Leichtathletik-Verband, DLV, bei seinen Hallenmeisterschaften in Leipzig mit einer späten Bronzemedaille dekoriert. Für ihren dritten Platz bei der WM in Doha, ausgerichtet im Frühjahr 2010. Nadine Kleinert hat sie zu den zehn anderen von Olympia, Welt- und Europameisterschaften gepackt, „gut und luftdicht verstaut, ich schaue mir die nicht an. Ich kenne die, ich weiß, wie sie aussehen, und wo ich sie gewonnen habe“. Und welche mit der Post gekommen ist.

Ist Bronze per Einschreiben schöner als Platz vier oder erschummeltes Gold? „Der Rahmen ist unwürdig, aber Medaille bleibt Medaille“, sagt Kleinert. Anders als viele der ehemaligen Kolleginnen könne sie jeden Morgen mit reinem Gewissen in den Spiegel gucken. „Und ich habe ihnen gezeigt, dass man auch mit sauberem Sport erfolgreich sein kann.“ Gefeiert wurden trotzdem die anderen.

Vom alten Leben will sie nicht mehr viel wissen

Für ein Gespräch hat sie das Restaurant „Seeblick“ am Kelbraer Stausee vorgeschlagen, Nadine Kleinert kommt mit dem Auto aus Thüringen angerollt, es sind nur ein paar Kilometer den Berg hinunter. Sie ist in Magdeburg geboren und vor ein paar Jahren in den südlichen Harz gezogen. Neue Liebe, neues Leben, von dem alten will sie nicht mehr viel wissen und wird doch alle paar Monate daran erinnert. Weil ihr irgendein Sportgericht eine neue Medaille zuspricht. Damit das Auto nicht vom abschüssigen Parkplatz rollt, sichert sie das Hinterrad mit einem im Kofferraum deponierten Stein. Noch so eine Erinnerung an die Olympischen Spiele der Antike, als die Athleten noch keine Kugeln stießen, sondern Steine schleuderten.

Magischer Ort. Der Kugelstoßwettbewerb in antiken Olympia 2004 ist für Nadine Kleiner unvergesslich.
Magischer Ort. Der Kugelstoßwettbewerb in antiken Olympia 2004 ist für Nadine Kleiner unvergesslich.

© Arne Dedert/p-a/dpa

Nadine Kleinert ist 1,90 Meter groß und hat schon immer alle überragt, zum Beispiel die Klassenlehrerin bei der Einschulung. Als Kind leidet sie unter dem Krankheitsbild, das man heute ADHS nennt. In der späten DDR sorgen sich die Eltern um die hibbelige Tochter und melden sie beim Sportverein um die Ecke an. Als der Verein eine Kugelstoßerin sucht, hebt die kleine, große Nadine die Hand. Sie trainiert ein bisschen und steigert ihre Bestleistung innerhalb von ein paar Wochen um vier Meter. Als Zwölfjährige wechselt sie auf die Sportschule. Schon nach einem Jahr reicht es bei der Kinder- und Jugend-Spartakiade in Berlin zu einer ersten Goldmedaille und einem Händedruck von Margot Honecker.

War es das Glück der späten Geburt, das ihr die Mühlen des staatlichen Dopings ersparte? Im „Seeblick“ schüttelt Nadine Kleinert energisch den Kopf. „So ein Blödsinn! Wer damals die blauen Pillen eingeworfen hat, wusste sehr wohl, was da drin war. Wir waren doch nicht blöd.“ Eben deswegen reagiere sie so allergisch auf die Debatte über die DDR-Dopingopfer, sie selbst spricht von sogenannten Opfern. „Bin ich nicht das eigentliche Dopingopfer?“ Von Betrügern mittels leistungssteigernder Substanzen um den hart erarbeiteten Erfolg gebracht?

Das Gerede von der zweiten Chance könne sie nicht mehr hören

Der erste nachgewiesene Betrug an Nadine Kleinert datiert von 1999. Bei der Hallen-WM in der japanischen Stadt Maebashi stuft sie das Kampfgericht nachträglich vom siebten auf den fünften Platz hoch, weil die Siegerin aus der Ukraine und die Zweite aus Russland disqualifiziert werden. Fünf Jahre später wird aus Platz vier bei den Europäischen Meisterschaften in Budapest Bronze, weil sich wieder eine Russin beim Dopen erwischen lässt – dieselbe wie 1999. „Kann ich nicht verstehen“, sagt Kleinert. „Wer einmal dopt, gehört lebenslang gesperrt.“ Das Gerede von der zweiten Chance könne sie nicht mehr hören. „Wer hat mir denn eine zweite Chance gegeben? Diese Leute haben mich um das Größte gebracht, was es im Sport gibt.“ Bei der Siegerehrung auf dem Podest stehen, der Hymne lauschen, den Applaus genießen. Momente, die es nur einmal gibt und die keine nachträglich überreichte Urkunde oder Medaille ersetzen kann.

Die Budapester Medaille wird ihr als Paketsendung zugestellt, verpackt in ein Holzkästchen, adressiert an ihren Trainer Klaus Schneider, der zur Feier des Tages eine Flasche Rotkäppchensekt mitbringt. Nadine Kleinert sagt, damals habe sie das noch lustig gefunden.

Im Sommer 2004 reist die deutsche Olympiamannschaft nach Griechenland. Die Kugelstoßer beziehen ihr Quartier nicht in Athen, sondern im antiken Olympia. 10 000 Zuschauer versammeln sich schon am Vormittag um das Lehmrechteck, deutsche Archäologen haben es bei ihren Grabungen im späten 20. Jahrhundert freigelegt. „Eine unglaubliche Atmosphäre in einem unglaublichen Rahmen“, sagt Nadine Kleinert, „wenn du daraus keine Party machst, ist irgendwas falsch gelaufen.“ Sie liegt lange Zeit auf Platz zwei, aber im letzten Durchgang stößt eine Kubanerin vier Zentimeter weiter. Egal, Bronze, Hauptsache eine Medaille.

Irina Korscharenko (Mitte) war 2004 gedopt, Kleinerts Bronzemedaille wurde zu Silber, Yumileidi Cumba (l.) aus Kuba wurde nachträglich Olympiasiegerin.
Irina Korscharenko (Mitte) war 2004 gedopt, Kleinerts Bronzemedaille wurde zu Silber, Yumileidi Cumba (l.) aus Kuba wurde nachträglich Olympiasiegerin.

© Arne Dedert/p-a/dpa

Im Rückblick weiß sie nicht, „ob ich nun lachen oder weinen soll“, denn nur zwei Tage später wird die russische Siegerin positiv getestet und Kleinerts Bronze versilbert. Das bedeutet aber auch, dass ihr nur eine Daumenlänge dazu fehlt, wovon sie immer geträumt hat. Olympisches Gold in Olympia – mehr geht nicht.

Kleinert bekommt bei den Spielen von Athen einen ersten Eindruck davon, wie der Sport mit ehrlichen Athleten umgeht. Nach der Disqualifikation der Russin ist Halbzeit bei den Spielen. Nadine Kleinert gibt Bronze ab und wartet in Athen noch acht Tage lang auf ihre neue Medaille. Sie bekommt sie ein halbes Jahr später beim Neujahrsempfang des Nationalen Olympischen Komitees. Und reist auf eigene Kosten zur Zeremonie nach Frankfurt am Main.

"Besoffene und Kinder lügen nicht"

Hat sich eine der Betrügerinnen mal bei ihr gemeldet, ihr in die Augen geschaut und um Verzeihung gebeten? „Nein! Niemand!“ Das habe sie auch nicht besonders überrascht, ebenso wenig wie die positiven Doping-Befunde. Denn erstens „siehst du es den Frauen an, wenn sie was genommen haben. Die Pupillen werden groß und glasig, wie das bei allen Drogenkonsumenten nun mal so ist.“ Und zweitens habe sie ganz diskret Informationen eingeholt bei Leuten, die es wissen müssen. „Besoffene und Kinder lügen nicht“, sagt Nadine Kleinert und erzählt von länger zurückliegenden Gelagen in Russland. Mit Männern und Frauen, die im Halbrausch mit ihren Tricks prahlten. Die davon erzählten, dass an den Visa der Dopingkontrolleure immer irgendetwas nicht stimmt, wenn diese zur unpassenden Zeit vorbeischauen wollten. Wie einfach die mit einem Siegel gesicherten Glasfläschchen mit den Urinproben zu öffnen sind.

Nadine Kleinert ist daraufhin bei der deutschen Anti-Doping-Agentur Nada vorstellig geworden. Mit dem Erfolg, „dass die meine Vorschläge als ihre Ideen verkauft haben“. Mittlerweile werden die Urinproben manipulationssicher abgefüllt. Die Kontrolleure schauen den Athletinnen beim Wasserlassen zu, „man muss die Unterhose bis in die Kniekehlen ziehen und das Shirt nach oben bis zur Brust.“ Das sei schon ein schwerwiegender Eingriff in die Intimsphäre, „aber wenn es dem sauberen Sport dient – bitteschön!“ Also trainiert sie weiter, in den Zeiten höchster Belastung bis zu dreimal täglich, um die 1000 Stöße pro Woche.

Berlin wird der Wettkampf ihres Lebens

Nadine Kleinert ist 34 Jahre alt, als Berlin 2009 die WM ausrichtet. Für Kugelstoßer ist das ein biblisches Alter. Im Mai werden die neu entworfenen Medaillen vorgestellt, und Kleinert sagt ihrem Trainer: „So eine will ich haben!“ Berlin wird der Wettkampf ihres Lebens. Heitere und beschwingte Tage, sie stehen im Zeichen des jamaikanischen Wundersprinters Usain Bolt, des Maskottchens Berlino – und von Nadine Kleinert. Im dritten Versuch wuchtet sie die Kugel 20,20 Meter weit auf den Rasen, so weit wie nie in ihrer Karriere. Das reicht zur silbernen Variante der Medaillen, in die sie sich im Mai verguckt hat.

Ein halbes Jahr später landet sie bei den Hallenweltmeisterschaften 2010 in Doha auf Platz fünf und ahnt doch schon, dass mehr draus werden könnte. Glasige Augen, große Pupillen und so. Es dauert drei Jahre, bis zwei vor ihr platzierte Weißrussinnen auffliegen. Und noch mal sechs Jahre, bis sie nachträglich die Bronzemedaille bekommt.

2014 ist dann endgültig Schluss. Nadine Kleinert ist 38 Jahre alt und freut sich, dass sie so gut herauskommt aus der Mühle Leistungssport. Ihre schwerste Verletzung in 20 Wettkampfjahren ist ein Kapselriss, bei der obligatorischen Untersuchung vor dem Abtrainieren sagt die Ärztin: „Du bist langweilig, geh weg!“ Und: „Deine Blutwerte sind wie bei einer Zwanzigjährigen!“ Geblieben ist ihr nur der Kugelstoßmuskel, „schauen Sie mal“. Sie krempelt den Ärmel hoch und zeigt auf eine Art Überbein zwischen Handgelenk und Ellenbogen, „kann man nicht abtrainieren, stört aber auch nicht“.

Sie schreibt Briefe. Listet auf, wie oft sie betrogen wurde

Der SC Magdeburg trägt ihr nach 26 Jahren im Klub einen Trainerjob an, „für 200 Euro im Monat, na schönen Dank!“ Da setzt sie sich lieber hin und schreibt Briefe, per Hand auf Karopapier, an Politiker und Funktionäre. Warum? „Ich fühlte mich alleingelassen, ich dachte: Diese Geschichte muss doch die Leute an höherer Stelle interessieren!“ Die Briefe beginnen so: „Guten Tag, mein Name ist Nadine Kleinert, ich bin ehemalige Kugelstoßerin des DLV und der deutschen Olympiamannschaft.“ Dann listet sie die an ihr begangenen Betrügereien auf und die daraus folgenden 15 Hochstufungen, alles nach eigener Recherche. Niemand hilft ihr, niemand sagt: Mädchen, wir gehen das zusammen an, wir sitzen doch an der Quelle! 16 Briefe setzt sie auf, ein paar werden beantwortet, „mit Floskeln wie: Wir kümmern uns, wir lassen von uns hören.“

Niemand kümmert sich, niemand lässt von sich hören.

Bronzezeit. Zuletzt erhielt Kleinert im Februar eine Medaille, die sie eigentlich neun Jahre zuvor errungen hatte.
Bronzezeit. Zuletzt erhielt Kleinert im Februar eine Medaille, die sie eigentlich neun Jahre zuvor errungen hatte.

© Imago/Chai v.d. Laage

Im kommenden Herbst richtet Doha erneut Leichtathletik-Weltmeisterschaften aus. Nadine Kleinert hat darauf verwiesen, dass sich für sie ein Kreis schließen würde, wenn sie die Medaille, um die sie 2010 in Doha betrogen wurde, eben dort überreicht bekäme. „Das wäre doch ein Stück Wiedergutmachung!“ Es reicht nur zu einer Reise im Februar nach Leipzig, zu einem kurzen Programmpunkt bei den deutschen Hallenmeisterschaften. Zur Übergabe schreitet ein Mann, den sie noch nie gesehen hat, „er hat sich nicht weiter vorgestellt und gesagt: Wir machen das jetzt gleich.“ Über den Hallenlautsprecher erfährt sie, dass es sich bei dem Mann um den neuen DLV-Präsidenten handelt. Nadine Kleinert bekommt ihre Medaille und einen Blumenstrauß, den sie gleich an ihre Mutter weiterreicht, „ich mag keine Blumen“.

Vielleicht kommt noch einmal Gold. Aus dem Jahr 2006

Nach zwei Stunden im „Seeblick“ hat Nadine Kleinert sich müde geredet. Zeit für die Rückfahrt in die Thüringer Berge. Auf dem Parkplatz zieht sie den Bremsstein unter dem Autoreifen hervor und sagt, die Leichtathletik habe keinen Platz in ihrem neuen Leben. Ihre sportlichen Aktivitäten reduzieren sich auf lange Fußmärsche, die der neue Job mit sich bringt. Sie will darüber nicht mehr verraten, als dass sie den ganzen Tag an der frischen Luft ist und „ich mir dadurch das Geld für das Fitnessstudio spare“. Ansonsten, das ist ihr wichtig, bleibe Privates privat. „Es reicht ja schon, dass der DLV jedem meine Telefonnummer gibt, der sie haben will.“

Es wird weitere Anrufe geben, sie rechnet noch mit drei Medaillen. Darunter vielleicht auch eine in Gold von den Hallen-Weltmeisterschaften in Moskau, die liegen jetzt 13 Jahre zurück. Nadine Kleinert sagt: „Meine letzte Medaille hole ich mir mit dem Rollator ab.“

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