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Einer Naturgewalt wie den Niagara-Fällen stellt man sich besser nicht in den Weg. Den Datenstrom des Internets kann man hingegen durchaus steuern.

© Igor S. - Fotolia.com

Einspruch: Technologie ist keine Naturgewalt!

Systematische Massenüberwachung der Geheimdienste, Datensammelwut der Großkonzerne: Der Bürger sitzt da und pflegt seine Resignation. Die Haltung ist ebenso falsch wie fatal.

Das Internet ist ein rechtsfreier Raum, das Internet ist unregulierbar. Das Internet ist ein Ballungszentrum für Terroristen oder solche, die es werden wollen, für die Vertreiber von Kinderpornografie und andere kriminelle Subjekte. Das Internet macht süchtig, das Internet verdummt unsere Jugend. Das Internet schafft die deutsche Rechtschreibung ab. Das Internet begünstigt Revolutionen im arabischen Raum. Das Internet wird unsere Gesellschaft öffnen. Das Internet wird uns alle kreativer, intelligenter, pluraler machen. Das Internet ist Neuland.

Über das Internet wird ja seit Jahren viel gesagt und geschrieben, das meiste davon im Internet. Alle diese Aussagen haben eines gemeinsam: Sie sind Schwachsinn und vielleicht auch gefährlich, deswegen, weil ihnen ein resignatives Element innewohnt. Ich beobachte immer mehr eine Haltung, die das Internet als eine Art Naturphänomen betrachtet. Ich gebrauche den Begriff „Internet“ hier als Metapher für die gesamte technische Revolution, für das Kommunikationszeitalter. Gerade mit Blick auf zwei Phänomene ist diese Haltung, man könne das Internet nur glorifizieren oder verdammen, aber man kann es nicht gestalten, sondern nur daneben sitzen, besonders präsent.

Das bezieht sich zunächst auf die systematische Massenüberwachung, von der wir seit Edward Snowden wissen. Die Politik zuckt da mit den Schultern. Gerade konnten wir doch erleben, wie die SPD mit geradezu eleganter Leichtigkeit die Vorratsdatenspeicherung in den Koalitionsvertrag hineingewunken hat, während gleichzeitig herumgetönt wird, man könne gegen Überwachung nichts unternehmen. Für Überwachung aber offensichtlich schon.

Die gleiche Haltung finden wir auch gegenüber international operierenden Konzernen, egal ob Google, Microsoft oder Facebook. Die Politik und auch die Bürger reagieren mit dem Gefühl, das passiert, das realisiert sich als eine immanente Notwendigkeit der technischen Entwicklung. Wir können dem zusehen, wir können das beklagen, aber gestalten können wir das nicht. Das macht mich wahnsinnig.

Ich will drei Beispiele geben, warum diese Haltung falsch ist.

Wenn der Satz stimmt, dass alles, was technisch möglich ist, auch gemacht wird, säßen wir alle nicht hier und auch nicht auf diesem Planeten, weil wir uns dann im 20. Jahrhundert alle in die Luft gesprengt hätten. Erstaunlicherweise hat man dann doch Abstand davon genommen. Auch ich wäre technisch absolut in der Lage, aus meinem Jackett eine automatische Waffe zu ziehen und sie alle umzubringen. Warum mache ich das nicht? Vielleicht, weil ich einen freien Willen besitze, der mir erlaubt, zu entscheiden, wie ich mit meinen Mitmenschen zusammenleben möchte. Wir können nicht sagen: Wenn eine Atombombe soundsoviele Millionen Menschen vernichtet, sei das die notwendige Realisation einer technischen Möglichkeit gewesen. Sondern: Das war gewollt. Alles, was man will, kann man auch nicht wollen. Wenn man das verstanden hat, hat man schon viel verstanden.

Man kann den Geheimdienst nicht regulieren? Falsch, man muss es nur wollen!

Ein zweiter, weniger hoch gehängtes Moment gegen den Satz „Das alles sei nicht beeinflussbar“. Es heißt immer, die Geheimdienste seien ein Staat im Staat, die machen, was sie wollen. Jetzt wissen wir aber aus den Snowden-Papieren, dass Geheimdienste permanent Lobbyarbeit machen, um ihre Kompetenzen zu erweitern. Die üben Druck aus auf die Regierung, auf die Gesetzgeber, um weitere Möglichkeiten zu bekommen, mit denen sie operieren können. Warum machen die das überhaupt, wenn sie sich sowieso nicht an Gesetze halten? Die Behauptung, man könne Geheimdienste nicht regulieren, ist einfach nur ein Beweis von fehlendem politischen Willen.

Drittes Thema: Großkonzerne. Multinational operierend, kann man nicht regulieren, kommt man gar nicht ran, die haben ihren Sitz immer irgendwo im Ausland. Ich habe vor kurzem im Internet einen Schlafsack für mein Baby bestellt. Der hat nicht gepasst, da habe ich ihn wieder zurückgeschickt. Während ich das Paket geschnürt habe, habe ich mir kurz überlegt, was es für die Großkonzerne heißt, dass wir die Ware binnen 14 Tagen wieder zurückschicken dürfen. Was das kostet, wie finanziell schmerzhaft das für die Konzerne sein muss. Und siehe da: Das klappt trotzdem, wenn sie Waren in Deutschland verkaufen wollen. Das Widerrufsrecht ließ sich problemlos einführen, alle halten sich dran, Ebay, Amazon – kein Problem. Digitaler Verbraucherschutz ist genauso möglich wie der Verbraucherschutz im Erwerbsbereich. Jeder, der das Gegenteil behauptet, der lügt.

Jetzt zu der großen Frage, warum wir überhaupt etwas gestalten sollten. Woher mein Furor gegen diese zivilgesellschaftliche Entmündigung? Die digitale Revolution stellt uns vor Probleme, die wir uns noch gar nicht ausreichend klargemacht haben. Da gibt es ein großes ethisches Dilemma, das heranreicht an existenzielle Fragen: Was ist der Mensch, wie wollen wir zusammenleben, welche Form von Gesellschaft wünschen wir?

Es gibt einen alten Menschheitstraum, der sich darauf richtet, alles wissen zu wollen, also auch in die Zukunft zu sehen. Wir haben heute erstmals die Möglichkeit, durch den Bau von Maschinen menschliches Verhalten für die Zukunft vorherzusagen. Und das ist es doch, warum so massenhaft Daten erhoben werden. Sie werden in allen Bereichen gesammelt, um sie mittels Datenfusion und Algorithmen in Profile umzuwandeln, die mit großer Wahrscheinlichkeit vorhersagen, was Menschen als Nächstes tun werden. Das ist hochinteressant für die verschiedensten Akteure. Das interessiert die Sicherheitsbehörden, die sagen, wir wollen doch wissen, ob ein Mensch eine Terrorneigung hat, Krankenkassen wollen wissen, wer in Zukunft welche Krankheit haben wird. Der Einzelne möchte erfahren, was ihm bevorsteht, wie er sein Leben verbessern kann. All das nennt sich dann Prophylaxe oder Prävention, für den Einzelnen, für die Gesellschaft.

Das wird die nächste Stufe erklimmen, wenn Big Data kommt, wenn das Internet der Dinge Realität sein wird. Wenn die Kaffeemaschine dem Kühlschrank meldet, dass ich drei Tassen Milchkaffee trinke und nicht nur zwei wie bisher, und der Kühlschrank bei Rewe jetzt mehr Milch und Kaffee bestellen muss. Gleichzeitig wird das der Krankenkasse mitgeteilt, um meinen Beitrag um 23 Cent zu erhören, weil Kaffee ungesund ist, während meine Turnschuhe kommunizieren, wie viele Kilometer ich in dieser Woche gelaufen bin. Dann wird der Beitrag wieder abgesenkt. Wenn diese komplette Umwandlung des Alltags in digitale Begleitung, in digitale Dokumentation möglich sein wird, wird automatisch auch die Möglichkeit gegeben sein, Vorhersagen zu treffen, die nahe an die Hundert-Prozent-Marge heranreichen. Das ist keine Science-Fiction, das ist technische Realität.

Jetzt kann man sagen: Ist doch gut. Je mehr wir wissen, je mehr Prävention wir betreiben können, desto einfacher wird unser Leben.

Aber jetzt kommt das ethische Dilemma. Aus jeder Vorhersage, aus jeder Prognose folgt ein Handlungsimperativ. Beispiel: Wenn ein Algorithmus vorhersagt, dass der Herr Müller mit 85-prozentiger Wahrscheinlichkeit in den nächsten sechs Monaten seine Frau umbringt, dann ist doch die große Frage: Was machen wir jetzt mit Herrn Müller? Müssen wir ihn einsperren, obwohl er nichts getan hat? Oder müssen wir hinnehmen, dass er den Mord tatsächlich begeht? Beide Lösungen sind grundfalsch. Beide verstoßen gegen elementare Prinzipien der Menschlichkeit. Auf dieses Dilemma sind wir ethisch, psychologisch, politisch nicht vorbereitet.

Die Technik stellt uns vor ethische Probleme

Wir müssen uns mit der Frage auseinandersetzen, ob alles zu wissen und die Zukunft vorausberechnen zu können, tatsächlich das ist, was wir wollen. Im Bereich der Präimplantationsdiagnostik haben wir schon erlebt, was es bedeutet, nach einer DNA-Analyse vor der Frage zu stehen, welche Konsequenzen wir denn nun ziehen sollen, wenn die Auswertung der DNA ergibt, dass der Mensch, der aus einem Embryo erwächst, mit hoher Wahrscheinlichkeit behindert sein wird. Gibt es das Recht, vielleicht sogar die Pflicht, diesen Embryo abzutöten, damit er sich nicht weiterentwickeln kann? Da haben wir erkannt, welches ethische Dilemma aus dem puren Wissen folgt. Warum es besser sein kann, Dinge nicht zu wissen, anderenfalls wir Entscheidungen treffen müssen, mit denen wir nicht umgehen können.

Wir müssen uns klarmachen: Bei Big Data werden wir bald an den Punkt gelangen, an dem sich zeigt, dass nur ein bewusster Informationsverzicht unser Zusammenleben im Gleichgewicht halten kann. Wir werden erkennen müssen, dass es besser sein kann, bestimmte Dinge nicht zu wissen.

Das heißt nicht, dass wir uns eine digitale Diät verordnen sollen. Es geht nicht darum, dass wir keine E-Mails mehr schreiben und Facebook nicht mehr benutzen sollen, damit wir nicht überwacht werden. Wir ziehen uns ja auch keine schusssichere Weste an, ehe wir vor die Tür treten, damit wir nicht erschossen werden können. Der Informationsverzicht, um den es gehen wird, ist kein individueller. Wir werden erkennen, dass wir ein grundsätzliches Verbot der massenhaften und systematischen Erhebung und Speicherung von persönlichen Daten brauchen. Nur mit Einverständnis des Einzelnen und in engen Ausnahmen ohne Einverständnis darf das zulässig sein. Ganz egal, welcher Nutzen diese Daten angeblich bringen zur Terrorbekämpfung, zur Gesundheitsvorsorge, zur Selbstverbesserung und Alltagsbewältigung. Es muss heißen: Obwohl wir diese Daten technisch erheben könnten, tun wir es nicht, weil wir erkannt haben, dass das unsere Gesellschaften auf Dauer zerstören würde.

Das klingt jetzt vielleicht nach einer radikalen, geradezu utopischen Forderung. Aber es wird der einzige Weg sein, die Freiheit des Einzelnen im Kommunikationszeitalter wirksam zu schützen. Die Politik hat ausreichend Gestaltungsmacht, und wir als Zivilgesellschaft müssen diesen Diskurs führen. Jeder Politiker, der sagt, das geht nicht, der muss sein Amt niederlegen und nach Hause gehen. Er hat seinen Beruf verfehlt.

Bei diesem Text handelt es sich um die leicht gekürzte Rede, die die Schriftstellerin Juli Zeh zur Eröffnung der Konferenz „Netzkultur. Freunde des Internets“, eine Kooperation der Berliner Festspiele mit der Bundeszentrale für politische Bildung, am vergangenen Wochenende in Berlin gehalten hat.

Juli Zeh

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