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Papier vermeiden, Kommunikation fördern. Rezepte und Überweisungsscheine, Patientenkarteien und -akten auf Papier, das war einmal. Künftig sollen alle medizinischen Informationen über einen Menschen in einem Datenraum verfügbar sein.

© picture alliance dieKLEINERT.de Martin Erl

Digitalisierung im Gesundheitswesen: Über meine Gesundheitsdaten verfüge ich

Ein dezentraler Datenraum für Gesundheit will Patienten Souveränität über ihre Daten geben. Einer der 14 Partner des Projekts ist das Team um Wirtschaftsinformatiker Martin Gersch.

Von Catarina Pietschmann

Was endet zuerst: die Corona-Pandemie oder der Einsatz von Faxgeräten in den Gesundheitsämtern? Es werden noch Wetten angenommen. Was die Digitalisierung im Gesundheitswesen angeht, liegt Deutschland im europäischen Vergleich auf dem vorletzten Platz. Oder wie Professor Martin Gersch sagt: „Das ist die Steinzeit, in der wir leben!“ Und da müsse man schleunigst raus. Denn veraltete Datenübermittlung und -speicherung, oftmals noch auf Papier statt digital und dadurch verschenkte Möglichkeiten zur Datenanalyse für eine verbesserte Forschung und Versorgung, schleppen sich durch alle Bereiche des Gesundheitswesens. Zum Schaden der Patientinnen und Patienten, konstatiert der Professor für Betriebswirtschaftslehre, Information und Organisation an der Freien Universität Berlin.

Die Krankenkassenkarte, die in der Praxis eingelesen werden muss, das Impfbuch, Überweisungsscheine, das rosa- und das grünfarbige Rezept ... besonders sinnbildlich sei der „Tüteneffekt“, sagt der Wissenschaftler: „Wenn sie neu in einer Praxis sind, haben viele Patientinnen und Patienten eine Tüte voller Unterlagen über sich dabei. Das ist tatsächlich gesundheitsgefährdend!“ All das soll sich mit HEALTH-X dataLOFT, dem „europäischen Gesundheitsdatenraum“, bald ändern. Unter dem Dach der EU-Initiative GAIA-X soll HEALTH-X entstehen – eine Domäne Gesundheit, so, wie es weitere Bereiche zum Beispiel für Mobilität oder Energie geben wird.

Nur 0,5 Prozent der gesetzlich Versicherten nutzen die "elekronische Patientenakte"

Zu den 14 Projektpartnern von HEALTH-X gehören unter anderem die Charité – Universitätsmedizin Berlin – gemeinsamer medizinischer Fachbereich der Freien Universität und der Humboldt-Universität -, das Berlin Institute of Health, die Fraunhofer-Gesellschaft, das Hasso-Plattner-Institut Digital Engineering, der Cloud-Dienstleiter IONOS und Siemens Healthcare. In neun Arbeitspaketen soll die Mammutaufgabe gestemmt werden; Ziel ist es, technische, rechtliche und organisatorische Lösungen zu finden, um die Daten aller Gesundheitssektoren zusammenzuführen – stationär, ambulant, inklusive der Pflege, auch im eigenen Zuhause.

Mit der bisherigen „elektronischen Patientenakte“, die ohnehin lediglich 0,5 Prozent der gesetzlich Versicherten nutzen, hat das Vorhaben wenig zu tun. Aus Sicht von Martin Gersch ist dies aktuell keine Lösung, denn sie sei lediglich ein „PDF-Grab“, in das statt Papier einzelne Dateien gelegt würden. „Wovon wir stattdessen reden, ist ein zeitgemäßer Datenraum, in dem alle Daten in gleicher Sprache, analysierbar und maschinenlesbar virtuell verfügbar sind.“ Technisch sei das „kein Hexenwerk“, denn entsprechende Technologien würden in anderen Bereichen längst eingesetzt, hebt der Wissenschaftler hervor.

Das eigentlich Besondere an HEALTH-X ist, dass Datensouveränität und Dezentralität im Vordergrund stehen, das bedeutet, dass es keine zentrale und damit unsichere Datenspeicherung geben wird. Weder auf einem Server der Krankenkassen, noch irgendeiner Behörde oder in einer Cloud. „Die Menschen werden selbst die Kontrolle über ihre Gesundheitsdaten haben und über deren Bereitstellung und Nutzung frei entscheiden können“, erklärt Martin Gersch. Möglich soll dies eine „Data Wallet“ machen, eine verschlüsselte, elektronische Datenbrieftasche, die der Projektpartner polypoly entwickelt. Als App für Smartphone, Tablet oder Computer. Damit wäre auch endlich Schluss mit der „Tüte“. Denn ein Klick auf dem Smartphone genügt – und der neuen Praxis sind alle bisherigen Laborwerte, Röntgenaufnahmen und Klinikberichte freigegeben, – wenn die Patientinnen und Patienten es wünschen.

Papier vermeiden, Kommunikation fördern. Rezepte und Überweisungsscheine, Patientenkarteien und -akten auf Papier, das war einmal. Künftig sollen alle medizinischen Informationen über einen Menschen in einem Datenraum verfügbar sein.
Papier vermeiden, Kommunikation fördern. Rezepte und Überweisungsscheine, Patientenkarteien und -akten auf Papier, das war einmal. Künftig sollen alle medizinischen Informationen über einen Menschen in einem Datenraum verfügbar sein.

© picture alliance/dpa

Für den Alumnus der Freien Universität Peter Kraemer, der den GAIA-X Hub Germany leitet – die Interessengemeinschaft von GAIA-X-Nutzenden in Deutschland –, sind Datenverfügbarkeit und der selbstbestimmte Umgang mit Daten für künftige Medizin- und Pflegeanwendungen unverzichtbar. Beides sei bisher nur unzureichend gewährleistet. „Durch HEALTH-X werden Lösungen entwickelt, die Sicherheit, Transparenz, Interoperabilität und Skalierbarkeit bieten.“

Im Arbeitspaket 6, für das Martin Gerschs Team rund 900 000 Euro der Gesamtfördersumme von 13 Millionen Euro vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz erhalten hat, liegt der Fokus auf den ökonomischen Aspekten, inklusive des Betreibermodells und den entstehenden Lösungen in und für den Datenraum HEALTH-X. „Die Interessen unterschiedlicher Stakeholder – Patientinnen und Patienten, medizinisches Personal, Apotheken, Krankenkassen, Klinken, Forschungsinstitute, Pharmaindustrie, Gesundheitsbehörden, Serviceanbieter und andere – müssen organisiert und gemanagt werden, damit ein nachhaltiger Datenraum entsteht“, sagt Projektmitarbeiter Tim Schurig. Derzeit stecke man tief in der Recherche und Analyse zum Status quo verschiedener bereits bestehender Modelle, erläutert sein Kollege Arthur Kari. „Parallel dazu planen wir Innovationsforen, zu denen wir Forschungseinrichtungen, Start-ups und etablierte Unternehmen einladen, die dann mit ihren Ideen langfristig am ,Ökosystem‘ HEALTH-X mitarbeiten können.“

Patienten sollen ihre Daten auch für Forschungszwecke freigeben können

Anhand von vier Nutzungsszenarien gehen die Projektpartner-Institutionen gemeinsam ins praktische Detail. In einem geht es um Brustkrebspatientinnen. Vom ersten Screening über den Befund und die Behandlung in der Klinik bis zur gegebenenfalls auch telemedizinisch unterstützten Nachsorge in einer ambulanten Facharztpraxis sollen alle Beteiligten integriert miteinander kommunizieren und auf dieselben Daten zugreifen können. „Also keine Medienbrüche, unleserlichen Arztbriefe und Papierdokumentationen mehr“, sagt Martin Gersch.

Obwohl HEALTH-X dezentral angelegt ist, soll es Patientinnen und Patienten möglich sein, ihre Gesundheitsdaten auch für Forschungswecke freizugeben. Eine solche Datenspende wird in einem weiteren Nutzungsszenario entwickelt.

In dem entstehenden Datenraum wird es auch neue Aufgaben geben, wie zum Beispiel Datenaggregatoren und Datentreuhänder, die sowohl im Sinne der Patientinnen und Patienten als auch der Gesellschaft insgesamt wichtige Funktionen übernehmen. „Dies könnte zum Beispiel das im Koalitionsvertrag vorgesehene Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit sein“, sagt Martin Gersch. „Es könnte dann auch die Aufgabe bekommen, für Forschungszwecke auf Daten zuzugreifen, die zuvor natürlich anonymisiert oder pseudonymisiert werden.“ So wäre auch ein Impfregister technisch leicht einzurichten.

Andere EU-Länder sind auch in diesem Punkt bereits viel weiter als Deutschland: Dänemark etwa hat die Danish Health Data Authority (DHDA) gegründet, die auch datentreuhänderisch fungiert. Bei ihr wird der Datenschatz aus allen elektronischen Quellen zusammengeführt und kann zum Beispiel für Pandemiefälle genutzt werden. Und deshalb weiß man – anders als hierzulande – auch sehr genau, nicht nur wie viele Menschen gegen das Coronavirus geimpft sind, sondern auch viel mehr zu typischen Verläufen und relevanten Einflussfaktoren der Pandemie.

Für den Inhalt dieses Textes ist die Freie Universität Berlin verantwortlich.

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