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Ein Demonstrant im Tränengasnebel.

© Thomas Peter/Reuters

Die Gewalt in Hongkong eskaliert: „Erst war ich nur sehr wütend. Jetzt bin ich verzweifelt“

Viele Demonstranten fürchten, dass sie friedlich nichts mehr erreichen. Ein Mann wird angezündet, die Polizei schießt scharf. Berichte aus einer Stadt in Angst.

Dann schickt er ein Video. Die Szene einer Straßenschlacht, im Hintergrund eine Brücke, gefilmt von RT News. Drei junge Männer spannen ein gelbes Gummiband zu einer riesigen Steinschleuder, als plötzlich Polizisten in schwarzen und grünen Kampfanzügen angerannt kommen. Der junge Mann, der eben noch den Stein in seinen Händen hielt, wird zu Boden geschleudert. Tränengas, Schlagstöcke, alles rennt.

Ich war der andere, sagt Kelvin, als das Video stoppt. Der am Ende des Gummibands, der in kurzen Hosen und schwarzem T-Shirt. Der, der schneller war als die Polizei. Dieses Mal.

Kelvin sitzt in der Wohnung seiner Familie, ein schmaler junger Mann, 21 Jahre alt. Es ist 20 Uhr an einem Sonntagabend in Hongkong und als Kelvin per Videotelefonat zu erreichen ist, liegt erneut ein Wochenende voller Demonstrationen und Straßenkämpfe hinter ihm. [Der Kontakt zu den Interviewten entstand über Unterstützer in Deutschland. Aus Sorge, von chinesischen Behörden erkannt zu werden, sprechen sie unter Pseudonymen und zeigen sich auf Selfies nur vermummt.]

Seit 23 aufeinander folgenden Wochenenden demonstrieren Menschen in den Straßen von Hongkong. In dieser bunten, internationalen 7,5-Millionen-Einwohner-Stadt, die unter der Woche in trügerischer Friedlichkeit auf das wartet, was sich seit Mitte Juni wöchentlich wiederholt: gewaltsame Zusammenstöße zwischen Polizisten und schwarz gekleideten, meist jugendlichen Demonstranten. Was mit Protestaktionen gegen ein Gesetz begonnen hatte, ist mittlerweile ein Kampf um politische Mitbestimmung geworden. Je länger der andauert, desto mehr schwindet die Zuversicht der Demonstranten – und weicht Verzweiflung.

Beinahe 3000 Menschen wurden bislang verhaftet

Ihre Regenschirme, zunächst eine Erinnerung an die Demokratiebewegung von 2014, wurden zu Schutzschilden und schließlich zu Accessoires, die ihre Träger im Tränengasnebel oft aussehen lassen, als hätten sie nach dem Spaziergang in einem verregneten Park versehentlich die falsche Abzweigung genommen.

Schutz unter Regenschirmen.
Schutz unter Regenschirmen.

© Tyrone Siu/Reuters

Beinahe 3000 Menschen wurden bislang verhaftet. Kein Ende in Sicht.

Erst in der vergangenen Woche hat Chinas Staatspräsident Xi Jinping der Hongkonger Regierungschefin Carrie Lam sein Vertrauen ausgesprochen. In Deutschland bezeichnete zuletzt der chinesische Botschafter Wu Ken bei einer Pressekonferenz im September die Arbeit der Hongkonger Polizei als gesetzmäßig und mahnte, den Vandalismus der Demonstrierenden nicht als Kampf für Demokratie und Freiheit zu verkennen.

Kelvin, der im zweiten Jahr Jura studiert, hat seine Studien vorerst unterbrochen. Drei Tage in der Woche arbeitet er noch in einer Anwaltskanzlei, den Rest seiner Zeit verbringt er mittlerweile damit, sich auf Proteste vorzubereiten. Gemeinsam mit seinen Freunden entwirft er Fluchtpläne und Strategien, er bastelt Waffen und organisiert Schutzkleidung. Bei den Demonstrationen steht er häufig in den vorderen Reihen.

Er sagt: „Ich schätze Recht und Gesetz zutiefst. Gewalt war nie eine Lösung für mich. Aber was hier passiert, ist so verrückt, dass es gar nicht rational wäre, länger friedlich zu sein.“ Um das Ziel zu erreichen, sei gewisse Gewalt notwendig.

Das Ziel. Als am 9. Juni Hunderttausende auf die Straße gingen – die größte Demonstration seit Jahren – war es klar umrissen: Die Hongkonger protestierten gegen ein Gesetz, das die Auslieferung von Straftätern und Verdächtigen nach China erlauben sollte. Wochen später zog Carrie Lam das Gesetz zurück.

"Jetzt bin ich verzweifelt"

Noch bei Gesprächen im August zeigten sich viele junge Demonstranten hoffnungsvoll, auch grundsätzliche Änderungen erzwingen zu können, allgemeines Wahlrecht, eine unabhängige Untersuchung der Polizeigewalt. Denn die Situation auf den Straßen war da bereits eskaliert, längst begab sich, wer zuvorderst an Demonstrationen teilnahm, in Gefahr.

„Den ganzen Juni, Juli, August und sogar noch im September war ich einfach nur sehr wütend“, sagt Kelvin. „Jetzt bin ich verzweifelt.“ Es fällt ihm schwer, die Tränen zurückzuhalten. Das geht nicht nur ihm so. Demonstranten, die sich nun zu Gesprächen mit dem Tagesspiegel bereit erklärt haben, sind physisch und psychisch erschöpft. Langsam offenbart sich ihnen, wie ungleich der Kampf ist, in den sie sich gestürzt haben.

Kelvin sagt: „Es fühlt sich an, als würden die gewinnen. Aber ich habe solche Angst, dass wir verlieren.“

Über Whatsapp hat er wenige Tage zuvor das derzeit in Hongkonger Netzwerken kursierende Foto der Leiche einer jungen Frau geschickt, gefesselt und geknebelt liegt sie an einem Ufer, ihre schwarze Kleidung lässt vermuten, dass auch sie eine Demonstrantin war. Was ist geschehen? Wurde sie verhaftet? Warf man sie ins Wasser? Ein Student, der am ersten Novemberwochenende in einem Parkhaus vier Meter tief stürzte, verstarb wenige Tage später in einem Krankenhaus. Er sei auf der Flucht vor der Polizei gewesen, sagen die Demonstranten, die auch acht Selbstmorde in Zusammenhang mit den Protesten bringen.

Sie erzählen, dass Menschen verschwinden. Niemand wisse wohin. Aus nächster Nähe schoss im Gerangel vor Wochen ein Polizist gezielt und mit scharfer Munition auf einen jungen Mann, die Szene ist in einer Filmaufnahme festgehalten. Er traf ihn in die Schulter. Am zweiten Novemberwochenende wurde laut Berichten von Demonstranten an mehreren Orten in der Stadt scharf geschossen, ein Polizist traf einen jungen Mann im Bauch - er wurde notoperiert. Auch dazu gibt es ein Video, das in Hongkonger Netzwerken kursiert. Kelvin zeigt es.

Letzte Briefe an die Eltern

Filme auf Youtube zeigen Ausschnitte, Kleinstpartikel des Geschehens. Gerüchte können nicht überprüft werden. Aber all dies schürt Angst. Und die Situation scheint zunehmend zu eskalieren: nach einem Streit über nationale Identität zündeten radikale Demonstranten einen Mann an, der sich als Unterstützer Pekings zu erkennen gab.

In einem Video, das die „New York Times“ kürzlich veröffentlichte, verlesen Hongkonger Jugendliche Abschiedsbriefe an ihre Familien. Unter ihren schwarzen Masken weinen sie: „Ich habe Angst, dass ich sterbe und euch nicht wiedersehen werde. Aber ich kann auch nicht nicht auf die Straße gehen.“

„Wir haben alle Angst“, sagt Kelvin, „wir haben keine Pistolen.“ Die Molotowcocktails der zum Teil noch viel jüngeren Demonstranten, dienten der Selbstverteidigung, um die Polizei auf Abstand zu halten. „Es bricht mir das Herz“, sagt er, „was für ein schlechter Witz, wir sind im 21. Jahrhundert, in Hongkong, eine frühere sogenannte internationale Stadt, Finanzzentrum – und so eine lächerliche Scheiße passiert hier.“ Eine ganze Generation gehe vor die Hunde. „Die chinesische Regierung sieht sie als Feinde, die ausgelöscht werden müssen.“

Jurastudent Kelvin, 21 Jahre alt.
Jurastudent Kelvin, 21 Jahre alt.

© privat

Von Anfang an war Kelvin bei den Protesten dabei, engagierte sich noch vor dem ersten großen Marsch am 9. Juni, um möglichst viele Hongkonger zu bewegen, auf die Straße zu gehen. Auch als die Polizei zum ersten Mal massiv gegen Demonstranten vorging, am 12. Juni, als Studenten Regierungsgebäude stürmten, sah er zu. Nicht nur er beschreibt diesen Tag als eine Art Wendepunkt, als Schock. Dessen Nachwirkung: die Demonstranten rüsteten auf.

Für sie geht es um mehr als eine Handvoll Forderungen – ihre Zukunft. Das Leben, wie sie es kannten, inklusive Presse- und Meinungsfreiheit, Zivilgesellschaft, könnte vorbei sein, würden sie diesen Protest verlieren. China steht für das Gegenteil, für Kontrolle und Unterdrückung.

Wann wird all das enden?

Bei seinem Treffen mit Carrie Lam in der vergangenen Woche hatte Xi Jinping gesagt, man müsse einen Dialog mit allen Gesellschaftskreisen führen, um die Lebensumstände der Hongkonger zu verbessern. Als seien die Proteste gegen die Zustände in Hongkong gerichtet. In der Vergangenheit zeigte sich Carrie Lam jedoch nur eingeschränkt gesprächsbereit. Bei einem Treffen mit ausgewählten Teilnehmern schmetterte sie Fragen nach einer Untersuchung der Polizeigewalt mit dem Hinweis ab, Betroffene könnten sich ja über das offizielle Verfahren beschweren.

Botschafter Wu Ken kritisierte in einem Gastbeitrag im Tagesspiegel, wie deutsche Medien über die Proteste in Hongkong berichten: „Als es hier zu Gewalttaten kam und die Polizei entschlossen eingriff, um die Gewalt zu unterbinden, richtete sich die öffentliche Meinung sehr nachdrücklich gegen die Gewalttäter mit dem Argument, dass die Polizei zum Schutz von Recht und Gesetz handele.“ Wieso sei die Folgerung eine andere, sobald es um Hongkong gehe?

„Ich war ein glücklicher Teenager“, sagt Kelvin, „ich liebte Longboarding und verreiste gern. Doch wann immer ich jetzt auch nur ein bisschen Glück verspüre, denke ich an jene, die verhaftet worden sind, die vielleicht gerade zusammengeschlagen werden in irgendeiner Polizeistation, während ich lache.“ Er wünsche sich nichts mehr, als dass all dies ende. „Doch das scheint unmöglich: wir stehen einem großen, autoritären Apparat gegenüber.“ Sagt er und meint die Kommunistische Partei Chinas.

Dass die massiv durchgreift, blieb bislang aus. „Aus chinesischer Perspektive ist man schon geduldig“, sagt Nadine Godehardt, bei der Stiftung Wissenschaft und Politik stellvertretende Leiterin der Forschungsgruppe Asien und China-Expertin. Die Zentralregierung warte ab. Kein Vergleich zum Juni 1989, als die Proteste auf dem Pekinger Tiananmen-Platz brutalst niedergeschlagen wurden. Stattdessen betont Xi Jinping ein ums andere Mal die Autonomie der Sonderverwaltungszone Hongkong. Und unterstützt deren Vorgehen.

Es fehlt Vertrauen - überall

Noch im August hätten die Demonstranten das Gefühl gehabt, mit ihrer Art des Protests weiterzukommen, mit spontanen Aktionen und wirklich großen Märschen, sagt Nadine Godehardt. „Doch seitdem hat sich die Protestbewegung nicht formiert.“

Zwar sei es deren Erfolg, dass die Proteste viel internationale Aufmerksamkeit bekämen und die Welt den Konflikt nun als gesamtchinesisches Thema wahrnehme. „Aber eine Bewegung ohne einen Sprecher läuft sich tot.“ Es fehlte vor allem ein Ort, an dem man mit der Regierung in einen Dialog treten könne – und das Vertrauen in die Regierung und den politischen Prozess.

Der Aktivist Joshua Wong, das Gesicht der Regenschirm-Proteste 2014, engagierte sich auch für die jetzige Demokratiebewegung. Zuletzt wollte er bei den Ende November stattfindenden Hongkonger Kommunalwahlen kandidieren, was ihm von offizieller Seite verwehrt wurde.

Die Sozialarbeiterin Dawn, 23 Jahre alt.
Die Sozialarbeiterin Dawn, 23 Jahre alt.

© privat

Nadine Godehardt ist sich mit weiteren Experten einig: „Eigentlich bräuchte es einen komplett neuen Vertrag zwischen der chinesischen und der Hongkonger Regierung.“ Eine Überarbeitung des „Handover“ vom 1. Juli 1997, als Großbritannien die Kolonie Hongkong feierlich an China zurückgab. Nur wie? Die Protestierenden sind entschlossen aber müde, die Regierung verunsichert, Peking zurückhaltend.

„Das Vertrauen zwischen den Menschen ist zerstört“, sagt die 23-jährige Dawn. „Zwischen den Menschen und der Regierung, zwischen den Menschen und Institutionen – und innerhalb von Familien.“ Dawn erlebt das unmittelbar, denn sie ist Sozialarbeiterin. Bei einem nächtlichen Skype-Telefonat erzählt sie von Eltern, die ihren demonstrierenden Kindern damit drohen, die Polizei zu rufen; von Opfern häuslicher Gewalt, die sich wiederum nicht an die Polizei wenden wollen, weil sie kein Vertrauen haben. Jugendliche und junge Erwachsene verlassen ihre Familien – weil sie politisch anderer Meinung sind.

Jeder hat seine Rolle im Protest

Seit Juli hat Dawn an keinem Familientreffen mehr teilgenommen. Ihr Vater, der selbst demonstriert, verbot ihr, die Regierung zu kritisieren, um den Großvater nicht zu irritieren, der wiederum ein Anhänger der Kommunistischen Partei Chinas ist. Dawn zog ihre Konsequenzen.

Joshua Wong bei einer Pressekonferenz Ende Oktober.
Joshua Wong bei einer Pressekonferenz Ende Oktober.

© Vincent Yu/AP/dpa

Sie sagt: „Die Regierung und die Polizei sind wie Vergewaltiger. Wir sind die Opfer, die versuchen sich zu wehren und zu beißen. Dabei können wir Gewalt nicht vermeiden. Ich bin mir nicht sicher, ob das radikal ist.“

Dawn beschreibt sich selber als schwache und verletzliche junge Frau. Niemand, der in der ersten Reihe Steine auf Polizisten wirft. Doch auch Dawn hat ihre Rolle im Protest gefunden, wie so viele Hongkonger. Die Alten zum Beispiel, die sich schützend zwischen die Jugendlichen und die Polizei stellen; die Eltern und älteren Geschwister, die mit ihren Privatautos Demonstranten abends einsammeln, wenn keine U-Bahn und kein Bus mehr fährt; jene, die eine Ausbildung als Ersthelfer haben und als inoffizielle Sanitäter verletzte Demonstranten versorgen.

Dawn ist nachts unterwegs, sechs Mal die Woche. Sie arbeitet für eine Art mobilen Krisendienst, der sich um Jugendliche kümmert, die obdachlos sind oder Drogen nehmen. Sie erzählt, dass ihr mittlerweile viele von psychischen Problemen berichten. Es falle ihnen schwer zu verarbeiten, was sie während der Demonstrationen erleben. Und auch sie und ihre Kollegen sind eine Art Transportservice geworden. Dawn sagt: „Die Jugendlichen rufen uns meistens an, wenn die Polizei wieder versucht, einen Protest gewaltsam zu beenden.“ Dann fahren sie hin, Tür auf, sechs Leute in den Kleinbus, Tür zu – und weg.

Sie findet kaum noch Schlaf

Längst sei ihre Arbeit nicht mehr risikofrei, sagt Dawn. Sozialarbeiter wurden festgenommen – „in the field“, sagt Dawn, was sich übersetzen lässt mit „im Außeneinsatz“, oder: „auf dem Schlachtfeld“. Eine Nacht pro Woche darf Dawn sich freinehmen. Fällt diese auf ein Wochenende, geht sie selber demonstrieren. Sie sagt: „Ich bin extrem wütend.“

Sie habe friedlich demonstriert, bis sie am 12. Juni sah, wie die Polizei vorging. Nach eigenen Angaben verschoss die an jenem Tag allein 150 Tränengaspatronen.

„Anschließend besorgten wir uns Schutzkleidung“, erzählt Dawn. Erst eine N95-Maske, wie Chirurgen sie tragen. Die reichte nicht aus. Besser: eine Atemschutzmaske aus der Industrie. Teurer und schwerer zu bekommen. Zwei Wochen später hatte sie einen Online-Fonds eingerichtet, in dem Geld gesammelt wird. Davon wird Ausrüstung für die Jugendlichen bezahlt, die als Schüler nicht genug Geld haben, gute Masken und Schutzbrillen selbst zu kaufen.

Irgendwann habe sie begonnen von Situationen zu träumen, die sie nachts in den Straßen sah, von Festnahmen und Kämpfen, sagt Dawn. Später seien Panikattacken dazu gekommen. Mittlerweile finde sie kaum noch Schlaf, mehr als eine oder zwei Stunden am Stück seien kaum möglich. Manchmal müsse sie plötzlich weinen – ohne bestimmten Grund. „Wir alle haben Angst“, sagt Dawn. „Aber wir haben auch keine Wahl, das hier ist unser Zuhause.“ Demonstranten berichten, dass sie darüber nachdenken auszuwandern. Und wie schwierig, wenn nicht unmöglich das wäre. Sie bräuchten Visa, Geld, idealerweise eine abgeschlossene Ausbildung.

Teufelskreis der Gewalt

Wie man aus dem Teufelskreis der Gewalt wieder herauskommt, darauf hat keiner der Befragten und auch kein Experte eine Antwort. „Wenn Hongkong sich als Rechtsstaat erweisen will, muss es eine Untersuchung der Polizeigewalt geben“, sagt Nadine Godehardt.

Aber wer weiß schon, was die Hongkonger Regierung genau will? Und was dahintersteckt, wenn das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei beschlossen hat, in Hongkong „das Rechtssystem und die Vollstreckungsmechanismen zum Schutz der nationalen Sicherheit“ auszubauen.

Ben hat bereits seine Erfahrung mit der Polizei gemacht. Im letzten Monat schnappten sie den 20-Jährigen und einen Freund nach einer Demonstration, als die Männer ihre Ausrüstung längst wieder in Rucksäcken verstaut hatten. Ben lacht am Telefon. „Irgendwie peinlich“, sagt er, „nicht während der Proteste, sondern danach festgenommen zu werden.“ Dabei ist das nicht komisch, sondern ein großes Glück. Denn so konnte den beiden nichts mit absoluter Sicherheit nachgewiesen werden. Sie sahen einen Anwalt, der ihnen riet zu schweigen. Nach 48 Stunden waren sie wieder frei.

Physikstudent Ben, 20 Jahre alt.
Physikstudent Ben, 20 Jahre alt.

© privat

Die Polizei habe sie anständig behandelt, erzählt Ben. Und dass sie nicht, wie eine Bekannte, in einer eiskalten Zelle eingesperrt wurden, einer „cold box“. Die junge Frau sei noch eine Woche nach der Festnahme krank gewesen.

Eine Gruppe Hongkonger hat mittlerweile begonnen, Polizeigewalt zu dokumentieren und in einem Bericht zusammenzustellen. Doch seitdem dessen überarbeitete Version im September veröffentlicht wurde, hat es längst die nächsten Spekulationen und Nachrichten gegeben. So wurde etwa am zweiten Novemberwochenende bekannt, dass eine junge Frau die Hongkonger Polizei der Vergewaltigung beschuldigt. Sie ließ in einem Krankenhaus abtreiben. Den Vorwürfen werde nachgegangen, hieß es von Seiten der Polizei, selbst wenn die Schilderungen der jungen Frau sich bislang nicht nachweisen ließen. Schon in den Wochen zuvor gab es Berichte über Demonstrantinnen, die von sexueller Belästigung und Gewalt in Polizeistationen berichteten.

Bundestag diskutiert über Hongkong

Bens Eltern, außer sich vor Sorge, gingen nach seiner Freilassung für eine Weile mit dem Sohn auf die Straße - um ihn davon abzuhalten, wieder vorne mitzumischen. „Sie wenden ziemlich viel Zeit auf, um mich davon zu überzeugen, nicht an der Front zu marschieren“, erzählt Ben. Er versprach es - um nun mit schlechtem Gewissen das Gegenteil zu tun.

„Wir wollen die Polizisten weder verletzen noch töten“, sagt er, „es ist unser Weg, der Regierung eine Nachricht zu senden: Wir sind nicht einfach Müll, den ihr wegwerfen könnt.“ Er habe es friedlich versucht, sagt Ben, sie alle hätten das. Doch in den letzten zwei Monaten habe er erkannt: So funktioniert es nicht. Seine Wut verwandelte sich in Pragmatismus: „Ich begann ernsthaft zu überlegen: was können wir für eine bessere Zukunft tun?“

Demonstranten auf dem Weg, um Straßensperren zu bauen. Die Verkehrshütchen werden auch über rauchende Tränengaskanister gestülpt.
Demonstranten auf dem Weg, um Straßensperren zu bauen. Die Verkehrshütchen werden auch über rauchende Tränengaskanister gestülpt.

© Thomas Peter/Reuters

Mittlerweile ist er, der eigentlich Physik studiert, gut darin, Molotowcocktails herzustellen und solide Straßensperren zu errichten. Noch vor einer Weile, erzählt Ben, habe er gedacht, es sei nicht schlimm zu sterben - für ein freies Hongkong. Nun sagt er: „Ich will einfach nur, dass wir alle am Leben bleiben. Selbst wenn wir verlieren.“

Im Bundestag wurde am vergangenen Donnerstagabend ein Antrag der Grünen diskutiert, die sich wünschen, die Bundesregierung würde mehr Druck auf ihren Handelspartner China ausüben. Die Demonstranten in Hongkong hoffen seit Monaten auf internationale Unterstützung. „Es wird keinen Superman geben, der uns alle retten wird wie in einem Marvel-Comic“, sagt Kelvin.

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