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Renate Künasts Klage wird von der Organisation HateAid unterstützt.

© promo

Die Frau und der Hass: Wie Renate Künast vor Gericht gegen Facebook kämpft

Die grüne Bundestagsabgeordnete Renate Künast geht seit Jahren gegen bösartige Facebook-Kommentare vor. Nun wird ein Grundsatzurteil fallen.

Am frühen Nachmittag, als die Verhandlung beendet ist, sagt Renate Künast: „Ich bin guter Dinge.“ Man wisse nie, wie das Gericht letztlich entscheide. Doch sie habe Hoffnung, dass am Ende ein erfreuliches Grundsatzurteil stehen werde. Eines, das auch anderen Opfern von Hass und Hetze auf Facebook das Leben erleichtert. Und das den Milliardenkonzern zu einer ernsthaften Änderung seiner Geschäftspraktiken zwingt.

Stundenlang hat sich das Landgericht Frankfurt am Main am Donnerstag mit der Frage beschäftigt, wie effektiv sich Betroffene gegen Hatespeech wehren können - ob sie auf der Plattform jeden Hasskommentar einzeln melden müssen oder ob Facebook dazu verpflichtet ist, diesen Kommentar auch an anderen Stellen und bei anderen Nutzern auf der Plattform zu entfernen, sobald der Konzern von der Existenz dieser Inhalte weiß.

Pandemiebedingt erfolgte die Verhandlung per Videokonferenz, Künast war dazu nach Würzburg gereist, wo sich die Kanzlei ihres Rechtsanwalts Chan-jo Jun befindet.

Wie aussichtslos der Kampf gegen Hatespeech auf Facebook für Betroffene bislang oft ist, erlebt die grüne Bundestagsabgeordnete seit Jahren. Von meist rechten bis rechtsradikalen Nutzern wird sie beleidigt und mit Lügen überzogen, es gibt Todeswünsche und Morddrohungen. Besonders hartnäckig hält sich ein angebliches, tatsächlich aber frei erfundenes Zitat von Künast, das immer wieder verbreitet wird - und das dann anderen Nutzern als Anlass dient, unter dem jeweiligen Post in eigenen Kommentaren gegen Künast zu hetzen.

Den Satz „Integration fängt damit an, dass Sie als Deutscher mal Türkisch lernen“ hat Künast nie gesagt. Doch so oft sie das kursierende Falschzitat auch meldet, stets taucht es an anderen Stellen wieder auf. Künasts Forderung: Facebook muss nicht nur den konkreten Post, sondern jeden Post dieses Inhalts und ähnlichen Inhalts löschen. Dazu klagt sie auf Unterlassung und Schadensersatz.

Braucht es eine „Wundermaschine“ für Opferschutz?

Als Betroffene jeden Post einzeln melden zu müssen, sei schlicht nicht bewältigbar und auch „unzumutbar, sowohl vom Zeitaufwand als auch von der emotionalen Belastung“, sagt Künast.

Dass Facebook - wenn überhaupt - erst nach Meldung einer konkreten Internetadresse aktiv wird, kritisieren Netzexperten und Verbraucherschützer schon lange. In der Vergangenheit argumentierte Facebook, man sei technisch nicht in der Lage, identische oder ähnliche Hassinhalte herauszufiltern. Dafür bedürfe es einer „Wundermaschine“. Das ist nach Ansicht von Fachleuten Unsinn.

Während der Verhandlung ließ das Gericht erkennen, dass eine erweiterte Prüfpflicht von Facebook durchaus bestehe. Deren Umfang hänge von der finanziellen und technischen Zumutbarkeit ab. Facebook hat nun noch einmal Gelegenheit, sich schriftlich zu äußern. Ein Urteil wird für März erwartet.

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Als Künast im April 2021 ihre Klage einreichte, gab sich die Gegenseite zunächst entgegenkommend. In ihrem spezifischen Fall sei Facebook bereit, „zusätzliche Schritte zu unternehmen“, um identische Posts „zu identifizieren und zu sperren“, schrieb ihr der Konzern.

Künast hielt an ihrer Klage fest. „Erstens will ich keine Sonderbehandlung“, sagt sie. „Ich möchte, dass alle Nutzer vor Hass geschützt werden.“

Zweitens folgten den Versprechungen von Facebook keine spürbaren Verbesserungen: Das Falschzitat ist in identischer Form weiterhin haufenweise im Netz zu finden. Nicht in geheimen Gruppen, sondern öffentlich.

Dutzende dieser Posts stammen aus dem Jahr 2015, sind dort also seit sieben Jahren in Sekundenschnelle auffindbar und trotzdem nie entfernt worden.

1,8 Milliarden Menschen nutzen Facebook täglich.
1,8 Milliarden Menschen nutzen Facebook täglich.

© OLIVIER DOULIERY / AFP

Künasts Anwalt Chan-jo Jun hat bereits etliche Mandanten gegenüber Facebook vertreten. Als er den Konzern, ebenfalls 2015, erstmals zum Löschen von Hassbeiträgen aufforderte, sei er zunächst schlicht ignoriert worden, berichtet er. Im nächsten Schritt sei er belächelt worden: „Die haben gedacht, ich würde schon irgendwann Ruhe geben und ihnen nicht bis ins Jahr 2022 in die Wade beißen.“

Doch gerade die herablassende Art des Konzerns habe ihn motiviert, sich weiter für einen besseren Schutz der Opfer von Hasskriminalität einzusetzen. Und es lassen sich Fortschritte erkennen. In den ersten Verfahren, in denen Chan-jo Jun Betroffene vor Gericht vertrat, fielen Richter zuweilen durch bemerkenswerte Unkenntnis im Umgang mit den sozialen Medien auf. Einer bekannte: „Wir haben den Nachteil, dass die gesamte Kammer nicht bei Facebook ist.“

Anwalt Jun musste ihm im Prozess erklären, was es bedeutet, wenn ein Nutzer einen Beitrag „teilt“. Damals, vor fünf Jahren, vertrat Jun den nach Deutschland geflüchteten jungen Syrer Anas Modamani, der durch sein Selfie mit Angela Merkel bekannt wurde - und auf Facebook systematisch von Rechtsextremen beschimpft, bedroht und als Terrorist verleumdet wurde. Am Ende entschied das Gericht gegen Modamani. 

Mittlerweile, sagt Chan-jo Jun, gebe es in der deutschen Öffentlichkeit und der Politik zum Glück ein Problembewusstsein für das Thema - und das Inkrafttreten des Netzwerkdurchsetzungsgesetzs habe Facebook tatsächlich dazu gezwungen, die Moderation seiner Inhalte ernster zu nehmen. Aber nicht ernst genug.

Jun sagt, das Verhalten von Facebook unterscheide sich seiner Erfahrung nach grundlegend von dem anderer großer Techkonzerne wie Google oder Twitter. Bei den meisten Konzernen habe er das Gefühl, dass ihnen „die Einhaltung von Recht und Gesetz wichtig sind“. Facebook dagegen ignoriere bewusst nationale Gesetzgebungen, wenn diese das eigene Geschäftsmodell gefährdeten.

Die Anfrage des Tagesspiegels, ob dieser Vorwurf zutreffe, beantwortet Facebook nicht. Stattdessen schickt eine Sprecherin folgende Zeilen: „Wir tolerieren keine unzulässigen Inhalte auf unseren Plattformen und haben deshalb umfangreich in Technologie, menschliche Expertise und Partnerschaften investiert. Wir haben das von Frau Künast gemeldete falsche Zitat von der Facebook-Plattform entfernt und haben in diesem Fall weitere Maßnahmen ergriffen, um außerdem identische Inhalte zu identifizieren und zu entfernen.“ Auch zur Frage, wie Facebook den Verlauf der Verhandlung am Landgericht bewerte, möchte die Sprecherin kein Statement abgeben.

Renate Künast wohnte der Verhandlung in der Kanzlei ihres Anwalts Chan-jo Jun bei.
Renate Künast wohnte der Verhandlung in der Kanzlei ihres Anwalts Chan-jo Jun bei.

© privat

Künasts Klage wird von der gemeinnützigen Organisation HateAid unterstützt und finanziert. Deren Leiterin der Rechtsabteilung Josephine Ballon sagt am Telefon, die Versprechungen von Facebook seien nicht mehr als „kosmetische Lippenbekenntnisse“, eine ernsthafte Umsetzung sei nicht erkennbar. Selbstverständlich verfüge Facebook über technische Mittel, um identische Hasskommentare aufzufinden. Ein Gutachten habe gerade bestätigt, dass ebensolche Mittel in anderen Bereichen längst erfolgreich eingesetzt würden, zum Beispiel bei der Bekämpfung von Posts, die Kindesmisshandlungen oder Terrorverherrlichung zeigen.

Bei der Frage, wie viel Aufwand Facebook zum Auffinden und Löschen von Hassposts gleicher und ähnlicher Inhalte zuzumuten ist, geht es am Ende auch um die Frage, wie mit weniger eindeutigen Fällen umgegangen werden muss. Denn natürlich gibt es, zum Beispiel im Fall des falschen Künast-Zitats, auch Nutzer, die dieses Zitat posten und dazu schreiben, dass Künast diesen Satz niemals gesagt hat - die also über die Falschheit des Zitats aufklären wollen. Diesen Kontext zu verstehen und dann über Löschen oder Stehenlassen zu entscheiden, kann keine künstliche Intelligenz leisten.

Das Gericht wird also entscheiden müssen: Wie viele zusätzliche Mitarbeiter und Lohnkosten sind Facebook zuzumuten, um den Schutz seiner Nutzer vor Hasskommentaren sicherzustellen? Und um wie viele Millionen werden dadurch letztlich die zehn Milliarden Dollar Gewinn pro Jahr geschmälert?

Josephine Ballon, die Rechtsabteilungschefin von HateAid, sagt am Telefon, Klagen wie die nun vor dem Landgericht Frankfurt verhandelte würden auch stellvertretend für andere Betroffene geführt. Zum Beispiel solche, die den Gang in die Öffentlichkeit und damit den nächsten zu befürchtenden Shitstorm scheuten. 

HateAid habe in den drei Jahren seines Bestehens mehr als 1600 Betroffene digitaler Gewalt beraten und 170 Menschen mit Prozesskostenfinanzierung unterstützt. Allein Renate Künast half die gemeinnützige Organisation bei mehr als 60 Strafanzeigen, 25 Abmahnungen und zehn Zivilklagen.

Die „gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen, die digitale Gewalt mittlerweile hat“, seien verheerend, sagt Ballon. Hatespeech gefährde schlichtweg die Demokratie: „Die Angriffe erfolgen oft in strategischen Kampagnen mit der Absicht, Menschen mundtot zu machen. Also zu bewirken, dass diese sich zu bestimmten Themen nicht mehr öffentlich äußern.“ Und diese Strategie funktioniere ausgezeichnet. „Ein Effekt ist, dass sich nicht nur die Angegriffenen, sondern auch die Mitlesenden zurückziehen.“ Studien zufolge traue sich die Hälfte der Internetnutzer heute nicht mehr, sich im Netz an Diskussionen zu beteiligen.

Aus Angst vor digitaler Gewalt zögen sich Menschen aus dem digitalen Raum als Diskussionsraum zurück. „Ihre Meinung findet dann nicht mehr statt“, sagt Josephine Ballon, „und zwar zugunsten einer kleinen, lauten Minderheit.“ Diese Minderheit habe es verstanden, die Algorithmen von Facebook zu nutzen, um andere Menschen zu verdrängen. Und so den Eindruck zu vermitteln, selbst in der Mehrheit zu sein.

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