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Die Computer der Zukunft: Wenn Elektronen sich die Kante geben

Der Physiker Titus Neupert wird mit dem Klung-Wilhelmy- Wissenschaftspreis 2019 ausgezeichnet.

Es gibt zwei Wege, um zu neuen physikalischen Erkenntnissen zu gelangen – über das Experiment oder die Theorie. Experimentalphysiker beobachten Dinge und ziehen daraus ihre Schlüsse. Theoretische Physiker verpacken Ideen in mathematische Gleichungen, stellen Vorhersagen auf, und mit etwas Glück (und HighTec) gelingt irgendwann der experimentelle Beweis. Krümmung der Raumzeit, Gravitationswellen, schwarze Löcher – für einen kreativen Geist sind selbst die Weiten des Weltraums nur eine Spielwiese für brillante Theorien.

Professor Titus Neupert, Professor für Theoretische Festkörperphysik an der Universität Zürich, arbeitet am diametral entgegengesetzten Ende der Größenskala: Sein Universum sind die Quantenmaterialien. Doch seine Annahmen über Elektronenzustände in besonderen Kristallen, sogenannten topologischen Isolatoren, die so etwas wie die „eierlegende Wollmilchsau“ der Elektronik werden könnten, klingen nicht weniger fantastisch als Einsteins Relativitätstheorie vor mehr als 100 Jahren. Sie könnten einmal sehr praktische Anwendung finden – in ultraschnellen Quantencomputern.

Für seine Forschung wird Titus Neupert am 14. November 2019 an der Freien Universität Berlin mit dem diesjährigen Klung-Wilhelmy-Wissenschaftspreis ausgezeichnet. Die mit 60.000 Euro verbundene Ehrung wird im jährlichen Wechsel – nach Auswahl des Preisträgers durch eine Expertenkommission der Freien Universität – an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Physik und Chemie verliehen und gehört zu den höchstdotierten privat finanzierten Preisen für junge deutsche Spitzenforscherinnen und -forscher.

Die Jury ehrt Titus Neupert „für seine Beiträge zur theoretischen Vorhersage neuer ,topologischer’ Materiezustände, insbesondere der fraktionalen Chern-Isolatoren und topologischen Isolatoren höherer Ordnung“. Das Thema ist für Laien nicht ganz leicht zu durchdringen: Vereinfacht gesagt, geht es darum, die Hardware für die Computer der Zukunft zu entwickeln, die gigantische Datenmengen in extrem kurzer Zeit verarbeiten sollen. „Dazu gibt es zwei Wege: Entweder man findet ein Material, das mehr kann als Silizium und viel weniger Strom verbraucht. Oder – und das ist der radikalere Ansatz – man rechnet nicht mehr binär in Nullen und Einsen, sondern mit Quanteninformation, sogenannten Quantenbits“, erklärt der Physiker.

"Internet-Konzerne sind schon extrem heiß drauf"

Beim Quantencomputing, das trotz großer experimenteller Fortschritte derzeit noch immer den Status einer Vision hat, werde ausgenutzt, dass in der Quantenmechanik – also dem Verhalten der kleinsten Teilchen in Materie – ganz andere Gesetze gelten als in der klassischen Physik. Einen Zugang dazu bietet die Topologie: Ein mathematisches Gebiet, das Objekte anhand universeller Eigenschaften klassifiziert – auch wenn die Objekte sonst absolut nichts verbinde, erläutert Titus Neupert.

„Ein Donut und eine Tasse zeichnen sich dadurch aus, dass sie beide ein Loch haben: Der Kuchenkringel in der Mitte, die Porzellantasse am Henkel.“ Auch wenn dieser Vergleich Nichteingeweihte ratlos zurücklässt: Physiker erkennen ähnliche „globale Eigenschaften“ auch bei Quantenzuständen von Materie. Und diese Eigenschaften sollen Quanteninformationen nahezu unzerstörbar machen.

Sogenannte fraktionale Chern-Isolatoren haben diese Eigenschaften, denn in ihnen wechselwirken die Elektronen derart, dass dabei formal „Teilchen“ entstehen, die es in der Natur gar nicht gibt. „Man stelle sich eine Pfütze vor, in die ein Regentropfen fällt. An der Stelle, an der er auftrifft, bildet sich ein Ring, von dem aus sich Wellen ausbreiten. Wäre das Wasser nicht da, gäbe es die Welle nicht.“ Ähnlich sei es in elektronischen Systemen bestimmter Kristalle: Regt man sie an, kommen die Elektronen ins Wabern, schwappen dabei wie eine zähe Suppe in eine bestimmte Richtung, ohne jedoch tatsächlich ihren Platz zu verlassen.

In dieser „Suppe“ können Anregungen entstehen - analog zur Wasserwelle - die sich wie ein Teilchen verhalten, aber zum Beispiel nur genau ein Drittel der tatsächlichen Ladung eines Elektrons tragen. Und dies, obwohl Elektronen ja eigentlich unteilbar kleinste Ladungsträger sind. „Doch die Ladung ist nun fraktioniert - zu Quantenbits", sagt Neupert „Und mit denen möchte man irgendwann rechnen können.“ Computer, die auf diesen fraktionalisierten Quantenbits basieren, wären zudem kaum störanfällig. Allerdings müsste man sie bei extrem tiefen Temperaturen betreiben. Dies wäre also nichts für das Smartphone – aber für Großrechner! Internet-Konzerne sind schon extrem heiß darauf.

Potenzial für die Hardware von Quantencomputern haben sogenannte topologische Isolatoren. Aber was ist das eigentlich? „Im Inneren sind es Isolatoren - da leiten sie also keinen Strom. Aber direkt auf der Oberfläche gibt es Elektronenzustände, die dazu führen, dass sich diese Flächen wie ein eindimensionales Metall verhalten und Strom leiten.“ Man stelle sich einfach eine Kartoffel in Alufolie vor. Doch der Vergleich hinkt: Die Eigenschaft sei so „robust“, dass sie auch dann an der Oberfläche auftritt, wenn man vom Kristall ein Eckchen abricht. Besser als der Vergleich zu einer Kartoffel in Alufolie passt hier das Bild einer angebrochenen Schokoladentafel, bei der jedes neu abgebrochene Stückchen wieder eine ähnlich raue Bruchkante hat. Theoretische Physik erfordert einiges an Abstraktionsvermögen.

Von Dresden nach Zürich mit ERASMUS

Titus Neupert hat berechnet, dass es Kristalle geben müsse, die diese Eigenschaften nicht an Flächen haben, sondern lediglich an den Kristallkanten; dort, wo Elektronen sich dann völlig widerstandslos entlang eindimensionaler Bahnen bewegen. Und das gilt ebenso für jede neue Bruchkante. Seine Berechnungen wurden bestätigt: Reine Einkristalle des Elements Wismut zum Beispiel erfüllen diese Kriterien. Aufgrund von Neuperts Arbeiten wurden sie als „topologischer Isolator höherer Ordnung“ identifiziert. Unter anderem dafür gebühre ihm der Klung-Wilhelmy-Preis, befand das Auswahl-Komitee am Fachbereich Physik der Freien Universität.

Titus Neupert stammt aus Dresden. Seine Eltern, beide Ingenieure, schickten ihn auf ein Gymnasium mit naturwissenschaftlichem Schwerpunkt, das er mit der Note 1.0 verließ, um an der Technischen Universität in der sächsischen Hauptstadt Physik zu studieren. Mit einem ERASMUS-Stipendium wechselte er an die Universität Zürich. Eine ungewöhnliche Wahl, wie er einräumt: „Die meisten nutzen ERASMUS, um in England die Sprache zu erlernen oder ein Jahr Party in Spanien zu machen. Aber ich dachte: Die Schweiz ist ja auch Ausland. Und es zeigte sich, dass dort tatsächliches vieles anders ist“, sagt Titus Neupert lächelnd. Er blieb dort und schloss sein Studium nach insgesamt nur dreieinhalb Jahren mit dem Master ab. Zeit für einen Tapetenwechsel.

„Gesponsert“ wurde dieser von der Studienstiftung des Deutschen Volkes, die ihm einen einjährigen Forschungsaufenthalt am RIKEN-Institut für Theoretische Festkörperphysik in Japan ermöglichte. Zurück in der Schweiz promovierte Neupert 2013 am Paul-Scherrer-Institut der Eidgenössischen Hochschule Zürich (ETH) über „Elektronen-Fraktionalisierung in zweidimensionalen Quantensystemen“. Auch hier erreichte er die Bestnote, was ihm den Weg zu einem Postdoctoral Fellowship am Center of Theoretical Science der Universität Princeton in den USA ebnete.

Drei Jahre diskutierte und forschte er dort mit anderen Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern sowie renommierten Forschern aus den unterschiedlichsten theoretischen Bereichen der Physik, Chemie und sogar Biologie. Wieder zurück in der Schweiz begann er im Jahr 2016, an seiner Alma Mater, der Universität Zürich, die Arbeitsgruppe Theoretische Festkörperphysik aufzubauen. Seither gleicht sein Arbeitsalltag wieder dem seiner Postdoc-Zeit: Sein „Labor“ ist eine riesige Tafel im Büro. Davor werden Ideen diskutiert und – ganz old school – mittels Kreide in komplexe mathematische Formeln gebannt, die sein Team dann an schnellen Computern „mal eben“ durchrechnet.

Ausgleich zur „Strenge der Mathematik“ findet Titus Neupert im Malen und Zeichnen – zwei seiner Porträts etablierter Physiker hängen mittlerweile im Korridor des Physik-Instituts in Princeton. Und auch in Gesprächen mit seinem Mann, einem amerikanischen Fotografen, den er erst kürzlich in Dresden heiratete. Aber was heißt hier eigentlich kreativer Ausgleich? Neupert lacht. „Die Arbeit als Physiker ist an sich schon sehr schöpferisch. Sie erfordert halt nur andere Kreativ-Neuronen.“

Catarina Pietschmann

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