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Bei den Bombenangriffen amerikanischer und britischer Flugzeuge auf Dresden am 13. und 14.02.1945 wurde die historische Innenstadt nahezu völlig zerstört. Bis zu 35 000 Menschen starben.

© dpa

Die Bombennacht von Dresden: Das Schicksal einer Nacht

Am nächsten Tag ist nichts mehr wie es war. Käthe von Brück hat alles verloren. Für Henny Wolf ist die Bombardierung Dresdens die Rettung.

Diese Nacht wird Henny Wolf retten. Das ahnt sie nicht, als sie den Deportationsbescheid liest. In drei Tagen soll sie mit ihrer Mutter um 6.45 Uhr im Erdgeschoss des Hauses in der Zeughausstraße 1 erscheinen und damit „rechnen“, dass sie „außerhalb Dresdens zum Arbeitseinsatz“ kommt. Als der Alarm beginnt, steckt sie Fotos und zwei Bücher in ihren Rucksack und rennt mit Mutter und Vater in den Keller. Die Deportationsbescheide! Die Deportationsbescheide haben Henny und ihre Eltern in der Wohnung vergessen. Eine Stunde bleiben sie mit den Nachbarn im Luftschutzbunker. Danach ist oben nichts mehr, wie es war.

Käthe von Brück und Henny Wolf. Sie kennen einander nicht, bis heute. In jener Nacht zittern sie fünfzehnhundert Meter voneinander entfernt. Käthe von Brück in der Haydnstraße mit ihren Kindern, Axel erst viereinhalb Jahre alt, Gabriele fast drei. Henny Brenner in der Glashütterstraße mit ihren Eltern. Derselbe Sturm presst ihre Augen zusammen, derselbe Druck zerzaust ihre Haare, dieselbe Hitze verbrennt ihre Habseligkeiten, dasselbe Glas zerbirst über ihren Köpfen, dieselbe Wucht zerstört ihre Häuser. Käthe von Brück verliert alles, Henny Wolf ihren Judenstern. Es ist der 13. Februar 1945.

70 Jahre später. Käthe von Brück lebt heute in Darmstadt. Das Altenwohnheim thront in einem begrünten Teil der Stadt, die großen Häuser schlucken den Lärm der großen Fahrstraße. Die Wege in der Wohnanlage gleichen denen großer Hotelanlagen. Käthe von Brück gehört mit fast 100 Jahren zu den ältesten Bewohnern. Hin und wieder lädt sie zum Kaffeekränzchen, aber jung erscheinen ihr die anderen dabei zuweilen schon. Sie serviert dann Kaffee und Kuchen auf schlichtem, weißem Geschirr.

Sie trägt ein Kleid, dass sie die nächsten Tage nicht ablegt

Damals, an jenem Tag im Februar 1945 in Dresden in der Haydnstraße 23, servierte sie zwei Damen Kaffee und Kuchen auf Silbergeschirr. Sie trug ein feines hellblaues Wollkleid, das sie über die nächsten Tage und Nächte nicht mehr ablegen sollte. Stolz zeigte sie den Damen ihr Heim, das Pfarrhaus, die wunderschöne Einrichtung, das Schlafzimmer, das Wohnzimmer. Im Erdgeschoss befand sich eine Kanzlei, im ersten Stock wohnten der Erste Pfarrer und die Diakonisse, im zweiten Stock ihre Familie und die Kantorfamilie; mittlerweile waren dort auch Flüchtlinge aus Schlesien untergekommen. Ganz oben lebte der Hausmeister. Eine harmonische Hausgemeinschaft, die sich bei Fliegeralarm regelmäßig im Keller zusammenfand.

Henny Wolf lebt heute in Weiden in der Oberpfalz. Sie heißt mittlerweile Henny Brenner und ist 90 Jahre alt. Gelegentlich reist sie nach Dresden, geht dort spazieren, genießt jede Parkbank, auf der sie sitzen darf, die Oper, die sie besuchen darf, den Park, den sie betreten darf. Sie flaniert an der Elbe, atmet die Luft über den Elbwiesen. Sie spricht mit Kindern in den Schulen über das, was sie erleben musste in ihrer Jugend. Sie geht in die neue Synagoge, für die sie gespendet hat. Manchmal fährt sie nach München und besucht ihren Sohn Michael, der als Professor für Jüdische Geschichte an der Universität lehrt. Vor Kurzem lernte sie im Büro ihres Sohnes einen Mann kennen, der sie unbedingt treffen wollte. Denn er hatte erfahren, dass Henny Brenner in jener Nacht in Dresden in der Nähe seiner Mutter war.

Henny Wolf verließ ihre Heimatstadt Dresden im Jahr 1980 gen Westen.
Henny Wolf verließ ihre Heimatstadt Dresden im Jahr 1980 gen Westen.

© privat

Der Mann heißt, ebenso wie ihr Sohn, Michael. Er ist, ebenso wie ihr Sohn, Professor. Er forscht, ebenso wie ihr Sohn, über Religion. Er ist Käthe von Brücks dritter Sohn, Michael von Brück, geboren 1949, vier Jahre und vier Monate nach dem Bombenangriff auf Dresden. Michael Brenner kam 19 Jahre nach der Zerstörung Dresdens auf die Welt. Die beiden befreundeten Wissenschaftler kamen irgendwann in einem Gespräch darauf, dass ihre Mütter dieselbe Schicksalsnacht erlebt hatten. Während es für die eine die schlimmste Angsterfahrung ihres Lebens war, bedeutete es für die andere die Rettung.

Die Nacht der Bombardierung

Bei den Bombenangriffen amerikanischer und britischer Flugzeuge auf Dresden am 13. und 14.02.1945 wurde die historische Innenstadt nahezu völlig zerstört. Bis zu 35 000 Menschen starben.
Bei den Bombenangriffen amerikanischer und britischer Flugzeuge auf Dresden am 13. und 14.02.1945 wurde die historische Innenstadt nahezu völlig zerstört. Bis zu 35 000 Menschen starben.

© dpa

Henny Wolf war seit vier Jahren Zwangsarbeiterin, erst bei Zeiss-Ikon im Goehle-Werk, dann in der Kartonagenfabrik Bauer. Damals verlor ihre Familie alles. Der nicht jüdische Vater musste sein Filmtheater in der Alaunstraße aufgeben, weil er sich nicht von seiner jüdischen Frau scheiden ließ. Die Wolfs mussten ihr Haus in Blasewitz verlassen, die Mutter musste ihren Schmuck, ihre Pelze abgeben. Unbedingt wollte sie ihr Silbergeschirr retten. Es ist ihr nicht gelungen.

Wenn die Urenkel Käthe von Brück besuchen, mischt sich zuweilen ein Silberlöffel unter das Besteck. Gefunden haben diesen Löffel Axel und Gabriele im Sommer 1945 in der Ruine der Haydnstraße 23, auf der Suche nach Überbleibseln. Der Silberlöffel war das Einzige, was sie noch aus den Trümmern fischten. Als Käthe Tage nach dem Bombenangriff bei ihren Eltern im Vogtland angekommen war, schrieb sie nieder, was sie erlebt hatte. Jahre später tippte ihr Mann den Bericht auf der Schreibmaschine, die Schwärze auf vier eng bedruckten DIN-A4-Seiten erzählt von jenen Stunden.

Wenn Käthe von Brück die Zeilen liest, stärkt die Erinnerung die Kraft ihrer Stimme. Sie liest vor: Wie sie, den Alarm „harmlos wie immer“ hinnehmend, mit den Kindern in den Keller geht. Von der Stille im Luftschutzkeller. Wie das Haus zittert, die Fenster auf- und zuschlagen. Sie weiß, dass das eigene Haus über der bröckelnden Kellerdecke getroffen worden ist. Sie liest vom Trösten der Kinder. Vom Beten.

Henny Wolf, als sie schon Brenner hieß.
Henny Wolf, als sie schon Brenner hieß.

© privat

Käthe von Brück lässt die Kinder unten bei den Flüchtlingen. Durch die Flammen rennt sie in den 2. Stock in ihre Wohnung, presst die Tür gegen den Luftdruck auf. Die Gardinen wehen in den roten Himmel. Sie sieht, dass das Haus gegenüber noch nicht brennt. Schnell holt sie den vergessenen Rucksack mit dem Essen, Federbetten, nasse Tücher und drei Brillen. Dann rennt sie wieder nach unten, vorbei an herabstürzenden Balken, das Glasdach gibt nach und zerbricht. Nach einer halben Stunde ein neuer Alarm. Jetzt wackelt das ganze Haus. Sie umschlingt ihre Kinder, fürchtend, dass sie gemeinsam sterben werden. Als nach 20 Minuten der Lärm vorbei ist, hat Rauch die Kellerräume gefüllt. Kaum Luft zum Atmen. Erstickungsangst. Wieder betet Käthe, jedes Geräusch lässt sie in Panik geraten. Sie setzt sich und den Kindern Brillen auf, hängt sich und ihnen nasse Tücher um und flieht mit ihnen durch die Flammen aus dem Haus in dasjenige der Gräfin von Recke, gegenüber. Sie erzählt ihren Kindern Märchen. Sie weiß nicht mehr, welche. Sie weiß nur noch, wie ihr Haus durch das Fenster auf der anderen Seite der Straße hinunterbrannte. Sie hat das alles überlebt. Sie nennt es: „ein Wunder“.

Ein Wunder? "Mehrer Wunder"

Henny Brenner hat den Bombenangriff auf Dresden überlebt. Sie hat die Shoa überlebt. Sie nennt es: „mehrere Wunder“. Normalerweise wäre sie in jener Nacht in der Fabrik gewesen, hat sie Käthes Sohn erzählt. Merkwürdigerweise änderte der Fabrikleiter Adolf Bauer einen Monat vor dem Angriff die Arbeitsschichten. Auch davon berichtet sie in ihrem Buch „Das Lied ist aus. Ein jüdisches Schicksal in Dresden“. Er sagte, es gebe nur noch Tagesschichten, keine Nachtschichten mehr. Am 13. Februar 1945 wird ihr und ihrer Mutter jener Brief überbracht, den sie richtig interpretiert: Sie sollen deportiert werden. Drei Tage später sagt ihr Vater: „Das Einzige, was uns retten kann, ist ein Angriff auf Dresden!“ Niemand glaubt daran, doch Henny Wolfs Vater hört heimlich die Nachrichten der BBC und hat es möglicherweise geahnt.

An jenem Abend im Februar 1945 geht er vollständig bekleidet ins Bett. Als die Sirenen um 21.45 Uhr heulen, klopft es an der Tür. Er öffnet. Der Nachbar ruft, sie alle sollten in den Luftschutzbunker. Schnell packt Henny Wolf ihren Rucksack, steckt Fotos hinein, das Buch eines ungarischen Schriftstellers und eines von Arnold Zweig. Keine Schuhe, keine Wäsche, nur das, was sie tragen kann. Mit ihren Eltern rennt sie hinunter, dort sitzen Frauen und Kinder mit Mundschutz und Stahlhelm. Die Sirenen heulen und heulen. Die Wolfs denken, ihr Viertel würde bombardiert, nicht ganz Dresden.

Als längere Zeit nichts mehr zu hören ist, beschließt Henny Wolfs Vater, eine Mappe aus der Wohnung oben zu holen. Er will etwas „in der Hand haben, für den Fall, dass wir überleben“. Dass er einmal ein Kino in der Alaunstraße besessen hatte, dass seine Frau und seine Tochter als Jüdinnen einen Deportationsbescheid bekommen hatten. Henny fleht ihn an, zu bleiben, aber er geht nach oben. Er kämpft sich durch die Flammen. Die Fenster haben keine Scheiben mehr. Mit der Mappe geht er wieder hinunter und holt Frau und Tochter, nichts wie raus aus dem Haus. Draußen tobt der Feuersturm, Menschen liegen zerfetzt in den Bäumen. Henny Wolf denkt: Jetzt sind wir frei. Heute sagt sie: Wir waren ja gar nicht frei.

Die doppelte Flucht aus der Stadt

Bei den Bombenangriffen amerikanischer und britischer Flugzeuge auf Dresden am 13. und 14.02.1945 wurde die historische Innenstadt nahezu völlig zerstört. Bis zu 35 000 Menschen starben.
Bei den Bombenangriffen amerikanischer und britischer Flugzeuge auf Dresden am 13. und 14.02.1945 wurde die historische Innenstadt nahezu völlig zerstört. Bis zu 35 000 Menschen starben.

© dpa

Käthe von Brück wusste nicht, wo sie hingehen sollte, am 14. Februar 1945. Es gab keine Straßen mehr, alles war weg, alles verloren. Nicht nur ihr Haus, ihre Straße, ihr Viertel – die ganze Stadt war nicht mehr zu erkennen. Die zerstörte Frauenkirche zu sehen, tat ihr weh.

Sie bekamen ein Haus im benachbarten Radebeul, wo sie mit ihren Kindern lebten. 1949, da waren sie schon wieder nach Dresden gezogen, kam das dritte Kind Michael hinzu. Jahrzehnte später wartete das Pfarrerspaar drei Jahre auf eine Genehmigung, bis sie 1980 schließlich in den Westen zogen. Noch später verfolgt Käthe von Brück mit ihrem Mann in Darmstadt den Wiederaufbau der Frauenkirche auf dem Fernsehbildschirm. Wie schon zuvor, als ihr die Fernsehbilder das Ende der DDR versicherten. Vor ein paar Jahren erzählte ihr Sohn Michael von Henny Brenner. Ja, sagte sie, das ist die andere Seite der Geschichte.

Käthe von Brück lebt inzwischen in Darmstadt und feiert bald ihren 100. Geburtstag.
Käthe von Brück lebt inzwischen in Darmstadt und feiert bald ihren 100. Geburtstag.

© privat

Henny Wolf und ihre Eltern versuchten am Morgen nach der ersten Angriffswelle herauszufinden, ob das Gebäude der Gestapo noch stand. Dabei merkten sie, dass die gesamte Stadt bombardiert worden war. Sie kamen nicht voran. Sie liefen Richtung Elbe. Es war so dunkel, es wurde gar nicht mehr richtig hell. Über ihnen Flugzeuge, die ihre Last abwarfen. In der Webergasse, hinter dem Altmarkt, geraten sie in den Feuersturm. Mit letzter Kraft packt Henny Wolf ihre Mutter, die so in die Flammen gezogen wird, als würde sie fliegen, und zerrt sie zurück. Sie rennen weiter und stehen vor dem brennenden Haus der jüdischen Gemeinde in der Zeughausstraße. Der Deportationsbescheid steckt immer noch im Rucksack, der Judenstern im Schuh. Die drei überqueren die Loschwitzer Brücke, das „Blaue Wunder“, und gelangen zum Veilchenweg. Dort kommen sie für kurze Zeit in einer Villa unter. Als sie diese verlassen müssen, gehen sie zurück über die Loschwitzer Brücke und finden in Blasewitz, in der Goetheallee, ein verlassenes Haus. Sie richten sich dort in einem Zimmer notdürftig ein. Noch immer sind sie voller Angst, wenn sie Schritte im Treppenhaus hören. Wenig später zieht ein Mann in SA-Uniform mit seiner Familie in das Nachbarzimmer ein. Die Angst um das Leben hört nicht auf. Auch nicht die Erinnerung. Als der Frühling kommt, wird es erstaunlich heiß. Aus den früheren Kellerfenstern strömt ein furchtbarer Leichengeruch in die Straßen. „Der Geruch von Auschwitz, der nach Dresden wehte.“ So sagt Henny Brenner heute. Am 8. Mai 1945 ist der Krieg endlich vorbei. Erst ab diesem Tag fühlt sich Henny Wolf, wie sie heute erzählt, „echt“ frei.

Mit einem Stein hinterlässt sie ihren Namen auf dem Gartentor

Mit einem Stein schreibt Käthe von Brück am 14. Februar 1945 auf das, was einmal ein Gartentor vor der Haydnstraße 23 gewesen war, dass sie und die Kinder leben und auf dem Weg ins Vogtland seien. Einen Tag später sollte ihr Schwiegervater, der 13 Kilometer zu Fuß von Radebeul durch das brennende Dresden in die Haydnstraße lief, die Nachricht erleichtert lesen. Einige Monate später verhungerte er. Davon ahnt Käthe von Brück in jener Zeit nichts. Sie ist mit den Kindern unterwegs nach Leubnitz im Vogtland, zu ihren Eltern. Ach, wie schlimm war es gewesen, als ihre Eltern aus Dresden damals nach Leubnitz strafversetzt wurden durch einen Beschluss der Nationalsozialisten, weil der Vater in der Bekennenden Kirche war! Und nun rettete ihr genau dieses Leubnitz das Leben. Denn dort leben die Eltern einigermaßen sicher und haben auch genug zu essen.

Ein altes Foto von Käthe von Brück.
Ein altes Foto von Käthe von Brück.

© privat

Käthe von Brück schlägt sich mit den beiden Kindern durch – 155 Kilometer Wegstrecke über Flöha bis Leubnitz. Wenn sie in ihrem Bericht den Leidensweg vorliest und zu der Stelle gelangt, wie ihre Eltern ihr und den Kindern in die Arme fallen, verliert sie die Stimme. Sie sind gerettet. Aber nun beginnt die Zeit des Wartens. Warten auf ein Lebenszeichen vom Ehemann, von dem es seit Wochen keine Nachricht gab. Wenn Käthe von Brück in jener Zeit nur irgendetwas gehabt hätte, sie hätte alles gegeben, wenn nur ihr Mann aus Russland wiedergekommen wäre. Sie hatten einander jeden Tag geschrieben. Manchmal auch zweimal. Käthe von Brück hatte ihm im Februar 1945 ein Telegramm an die Front geschickt: Wir leben. Sind in Leubnitz. Ulrich von Brück hatte vom Bombenangriff auf Dresden gehört, das Telegramm erreichte ihn aber erst im April. Er war in der Kesselschlacht von Heiligenbeil gewesen, konnte fliehen und mit einem selbst gebauten Floß die Memel überqueren.

Wochenlang schüttelte der Briefträger jeden Tag den Kopf, wenn Käthe von Brück ihn erwartungsvoll ansah. Und dann lächelte er eines Tages plötzlich und brachte den Brief, in dem stand, dass Ulrich lebte. Kurze Zeit später, es war der 8. Mai 1945, war der Krieg vorbei. Ab dem Tag war sie frei, sagt Käthe von Brück. Den Tag vergisst sie in ihrem Leben nicht.

Der Texte erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

Olga Havenetidis

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