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Birte Müller schreibt und illustriert Kinderbücher. Sohn Willi ist zwölf, Tochter Olivia zehn Jahre alt.

© Matthias Wittkuhn

Diagnose Down-Syndrom: Abtreiben oder nicht? Drei Leben mit der Entscheidung

Drei Frauen erzählen von ihren Erfahrungen mit der Diagnose Trisomie 21 – von Glück, von Liebe und Überforderung. Und von dem Gefühl, allein gelassen zu sein.

Am Donnerstag fällt in Deutschland eine Entscheidung mit weitreichenden Folgen: Der Gemeinsame Bundesausschuss bestimmt, ob Krankenkassen bald Bluttests für Schwangere zahlen, mit denen das Down-Syndrom beim Ungeborenen nachgewiesen werden kann. Bislang müssen Frauen die Kosten für diese Früherkennung selbst tragen. Soll sie zum Standard werden? Es ist das Dilemma fast aller Eltern – wollen sie vor der Geburt wissen, ob ihr Baby eine Behinderung haben wird? Und was, wenn ja? Drei Mütter berichten, wie sie entschieden haben – und wie sie damit leben.

Birte Müller ist Mutter zweier Kinder – eines mit Down-Syndrom, eines mit „Normal-Syndrom“

Es ist mehr als zwölf Jahre her, als ich mit unserem ersten Kind schwanger war. Ich war damals im wahrsten Sinne des Wortes „guter Hoffnung“. Mein Freund und ich heirateten und freuten uns auf unser neues Leben als Eltern. Wir verzichteten auf pränatale Untersuchungen, da wir uns nicht hätten vorstellen können, unser Baby wieder herzugeben.

Ich hatte keine Ängste, ein behindertes oder krankes Kind zu bekommen und ich glaube nicht, dass ich mich auf den Schock in irgendeiner Weise hätte vorbereiten können. Plötzlich war nichts mehr so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Alles schien mir anders und machte mir Angst. Aber ich bin bis heute froh, dass wir Willi im Arm halten konnten, als wir erfuhren, dass er das Down-Syndrom hat. Denn zum Glück hatten wir unseren unendlich süßen Sohn Willi, mit seinen hübschen, winzigen Händchen und mit seiner zarten Wange, an die wir uns anschmiegen konnten. Das tröstete uns über jeden Schmerz.

Leider wurde unser Sohn nur wenige Wochen nach seiner Geburt schwer krank. Das hatte nichts mit seiner Behinderung zu tun. Willi infizierte sich mit einem resistenten Krankenhauskeim. Er benötigte einen Luftröhrenschnitt und litt unter dauerhaften epileptischen Anfällen. Sein erstes Lebensjahr verbrachten wir im Krankenhaus oder wochenweise – umgeben von Intensiv-Krankenschwestern und medizinischen Apparaten – in unserer Wohnung. Bis heute habe ich keine Antwort auf die Frage: Warum gerade mein Kind?

"Wir hätten uns nicht vorstellen können, unser Baby wieder herzugeben", sagt Birte Müller.
"Wir hätten uns nicht vorstellen können, unser Baby wieder herzugeben", sagt Birte Müller.

© Mattias Wittkuhn

Ich erinnere mich gut an diese schwierige Anfangszeit. Ich hatte das Gefühl, wir seien von einem anderen Planeten. Ich kannte niemanden, der erlebt hatte, was wir durchmachten. Es war mir unverständlich, dass sich die Welt normal weiterdrehte, dass die anderen Menschen zur Arbeit eilten oder im Café saßen, während mein Kind schwer behindert war und ums Überleben kämpfte. Ich konnte kaum auf die Straße gehen, weil ich das Gefühl hatte, aus allen Schaufenstern würden mich die Bilder von vor Gesundheit strotzenden Babys und ihren glücklichen Müttern anglotzen.

Meinen Mann und mich, überhaupt unsere ganze Familie, hat diese Zeit eng zusammengeschweißt. Wir weinten miteinander und konnten – trotz allem – immer noch viel lachen. Manchmal taten wir sogar beides gleichzeitig.

Ich hatte große Ängste in dieser Zeit und vergoss viele Tränen. Zusätzlich belastete mich ein schlechtes Gewissen wegen meiner Traurigkeit meinem Kind gegenüber. Ich war in eine Depression gerutscht. Vielleicht war es eine Erschöpfungsdepression, vielleicht aber auch eine „ganz normale“ Wochenbettdepression, die nicht aufgefallen war, weil es ja objektiv gesehen reichlich Gründe für Verzweiflung gab. Mir half eine medikamentöse Behandlung und langsam wuchsen wir in das Leben mit einem behinderten Sohn hinein, so wie es Eltern tun, die kein behindertes Kind haben.

Im Krankenhaus lernte ich Mütter anderer schwer kranker oder behinderter Kinder kennen. Sie verstanden meinen Schmerz und meine unendliche Liebe zu meinem Sohn. Das war mir eine große Hilfe. Ich sah, dass wir gar nicht die Einzigen waren und dass das Leben auch bei uns weiterging, obwohl ich mir das oft kaum vorstellen konnte.

"Wir führen eigentlich ein ganz normales Leben"

Was mir nie weiterhalf, waren Bücher und Ratgeber zum Thema „Unser Baby im ersten Jahr“. Wann immer ich darin las, fühlte ich mich, als würde ich versagen. Ich erfuhr darin zwar, wie wichtig das Stillen für mein Baby sei. Über Kinder mit Entwicklungsverzögerungen stand in den Büchern aber kein Wort.

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Zu den Tabellen, die mir zeigten, was mein Kind alles können müsste – aber nicht konnte –, waren überhebliche Texte zu lesen: Man müsse als Mutter nur gelassen bleiben, denn die Kinder würden alle Entwicklungsschritte ganz von selbst machen. Dass für manche Kinder und Mütter aber nicht alles wie von selbst passiert und dass der kleinste Schritt dann eine große Leistung von beiden bedeutet, davon konnte ich in den Büchern nichts lesen. Ich warf sie eines Tages allesamt in den Krankenhausmülleimer.

Heute liegt das alles lange hinter uns. Willi ist schon zwölf und unsere Tochter Olivia zehn Jahre alt. Wir haben uns gefreut, dass wir noch ein zweites Kind ganz ohne Komplikationen auf die Welt bringen durften. Trotzdem hat Olivia unser Leben fast genauso auf den Kopf gestellt wie Willi. Das liegt vielleicht in der Natur des Kinderbekommens. Willi ist seit vielen Jahren gesundheitlich ganz stabil, das ist ein großes Geschenk. Er ist ein glückliches, sehr lebensfrohes Kind. Im Vergleich zu anderen Kindern mit Down-Syndrom entwickelt er sich – aufgrund der schweren epileptischen Anfälle im Säuglingsalter – allerdings sehr langsam. Er kann zum Beispiel nicht sprechen oder selbstständig auf die Toilette gehen.

Trotzdem führen wir eigentlich ein ganz normales Leben. Also für uns ist es wenigstens normal. Auf andere wirken wir schon manchmal ziemlich verrückt, doch das stört mich nicht. Im Gegenteil, es hat auch etwas Befreiendes.

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Das Leben ist allerdings schon oft sehr anstrengend mit einem behinderten Kind, das Blasmusik über alles liebt, oder mit einem unbehinderten, welches die Schule hasst. Das Wunderbare ist aber, dass die viele Kraft, die ich für unseren Alltag brauche, immer wieder aus der Liebe für meine Kinder selbst entspringt. Auch wenn Willi vielleicht nicht viel kann, lieben kann er von ganzem Herzen. Und welche Mutter eines pubertierenden Kindes hat das Glück, diese Liebe auch jeden Tag überschwänglich gezeigt zu bekommen?

In letzter Zeit wurde viel zum Thema Früherkennung von Kindern mit Down-Syndrom in der Schwangerschaft berichtet. Ich wundere mich dann immer, dass man über einen Bluttest herausfinden möchte, ob denn mit dem Baby „alles in Ordnung“ sei. Ich kann versichern: Menschen mit Down-Syndrom sind voll in Ordnung! Unser Leben mit Willi ist mehr als nur in Ordnung, obwohl er viel schwerer behindert ist, als es Kinder mit Trisomie 21 sonst sind. Unser Leben ist glücklich! Birte Müller

Die hier abgebildeten Menschen sind Erwachsene mit Down-Syndrom, die für das Projekt „Touchdown 21“ und das Magazin „Ohrenkuss“ arbeiten.
Die hier abgebildeten Menschen sind Erwachsene mit Down-Syndrom, die für das Projekt „Touchdown 21“ und das Magazin „Ohrenkuss“ arbeiten.

© Britt Schilling für Touchdown 21

Anonym, 53 Jahre alt, Mutter von zwei Kindern, Schwangerschaftsabbruch in der 16. Woche aufgrund von diagnostizierter Trisomie 21

Was mir nicht alles schon an den Kopf geworfen wurde: Nazi-Braut haben sie mich genannt, Euthanasie haben sie mir vorgeworfen. Warum? Weil ich mich gegen ein Leben mit einem behinderten Kind entschieden habe – und vor allem, weil ich so naiv war und glaubte, dass man in diesem Land öffentlich darüber reden kann. Doch das war ein Trugschluss. Frauen, die zu ihrer Entscheidung stehen, werden immer noch massiv angefeindet. Und ich bin es leid, mich zu rechtfertigen. Deshalb werde ich das, was ich nun zu Protokoll gebe, nur noch anonym tun.

Mit 41 Jahren, unser erstes Kind war damals bereits drei Jahre alt, wurde ich zu unserer Überraschung noch ein zweites Mal schwanger. Unsere Freude war natürlich groß, weil wir gar nicht mehr damit gerechnet hatten. Und doch beschlich mich schon damals ein merkwürdiges Bauchgefühl. In der zwölften Schwangerschaftswoche ergab eine Ultraschalluntersuchung dann eine sogenannte Nackentransparenz von plus 3,9. Alles bis zu einem Wert von plus 2,5 ist in Ordnung. Liegt das Ergebnis darüber, könnte ein genetischer Defekt vorliegen. Das Kind könnte mit Trisomie 21, 18 oder 13 zur Welt kommen. Oder mit einem Herzfehler, einem offenen Rücken, einem anderen von vielen Gendefekten – oder es könnte auch tot geboren werden.

Doch das alles ist Konjunktiv, denn der Test liefert nur Wahrscheinlichkeiten, keine Sicherheit. Ich war vollkommen fertig mit den Nerven. Die folgenden zwei Wochen, bis man endlich eine Fruchtwasseruntersuchung zur Klärung machen konnte, waren ein Auf und Ab von Heulen, Hoffnung und Internetrecherchen. Und natürlich immer wieder die Frage: Packst du das? Zum Anfang kam ein Schwangerschaftsabbruch nicht infrage. Wir schaffen das, war der erste Gedanke, den mein Mann und ich hatten. Doch je näher die Fruchtwasseruntersuchung rückte, desto größer wurden die Zweifel.

Denn worüber weder Fruchtwasseruntersuchung noch Bluttest Auskunft geben, ist die Frage, wie schwer das Down-Syndrom ausgeprägt ist. Ist es ein schwerstbehindertes Kind oder ist es eines, das die Schule besuchen und später einen Beruf ausüben kann. Auf der Straße sieht man wahrscheinlich ein eher weniger behindertes Kind. Und auch die Medien suggerieren oft, dass Down-Syndrom-Kinder ein selbstständiges Leben führen können. Das gibt es natürlich – aber das ist nur ein kleiner Bruchteil. Unsichtbar bleiben die vielen Kinder mit Down-Syndrom, die schwerstbehindert sind.

"Die seelischen Qualen waren kaum zu ertragen"

Was das bedeutet, sollte man sich vor der Geburt klarmachen: Die Pflege deines Kindes ist dann, wenn es schlecht läuft, dein ganzer Tagesinhalt – bis du stirbst. Ich hätte das nicht stemmen können. Und wer kümmert sich nach deinem Tod um dein Kind? Das Geschwisterkind? Ist es fair, dass ich meinem Sohn diese Verantwortung aufbürde? Ich finde nicht. Und letztlich – auch wenn man das den Wenigsten erzählen kann, ohne Hasstiraden zu ernten – wäre ein behindertes Kind nur schwer mit unserem Lebensentwurf zu verein­baren gewesen, da wir beruflich bedingt oft längere Zeit im Ausland leben. Ich war nicht bereit, das alles aufzugeben. Und ich hatte das Glück, dass ich selbst entscheiden konnte.

Innerlich war ich also vorbereitet, als die Fruchtwasser-untersuchung traurige Gewissheit brachte – und doch traf es mich wie ein Schlag vor den Kopf. Nun war es endgültig und ein schwerer Schritt stand vor uns: ein Schwangerschaftsabbruch. Doch womit ich nicht gerechnet hatte, war das Land der Bürokratie. Deutschland.

Mein Frauenarzt erklärte mir, dass es trotz der medizinischen Indikation für einen operativen Abbruch in der 16. Schwangerschaftswoche zu spät sei. Bei dieser Methode werden unter Vollnarkose oder auch nur unter örtlicher Betäubung über ein schmales Röhrchen der Embryo und die Gebärmutterschleimhaut abgesaugt. Der eigentliche Eingriff ist nach rund 15 Minuten beendet und somit vergleichsweise schonend.

Die Alternative, die sogenannte Prostaglandin-Methode, wäre für mich hingegen der blanke Horror gewesen: Zunächst wären mittels eines Zäpfchens Dauerwehen ausgelöst worden, sodass ich den Fötus bei vollem Bewusstsein hätte gebären müssen. Anschließend hätten mich die Ärzte in Vollnarkose versetzt, um verbliebene Reste von der Gebärmutter auszuschaben. Das wollte ich auf gar keinen Fall. Ich war verzweifelt. Doch wo ich auch anfragte, überall hieß es, dies sei der einzige Weg.

Ich recherchierte dennoch weiter und stieß letztlich auf die Beahuis & Bloemenhovekliniek in den Niederlanden. Zunächst war mir dabei unwohl: ins Ausland zum Abbruch, das hatte etwas von Kurpfuscherei. Doch das Gegenteil war der Fall. Alles war hochprofessionell, das Personal sprach mehrere Sprachen und natürlich auch Deutsch. Der operative Abbruch wird dort bis zur 18. Woche ambulant und bis zur 22. Woche stationär vorgenommen. Es gab Voruntersuchungen, Gespräche mit einer Psychologin und die Krankenschwestern kümmerten sich rührend. Zum ersten Mal hörte ich ein paar warme, aufbauende Worte.

"Man kommt sich vor wie ein Verbrecher"

In Deutschland lehnen die meisten Ärzte operative Abbrüche nach der 12. Schwangerschaftswoche auch bei ­einer medizinischen oder kriminologischen Indikation aus ­ethischen Gründen ab. Wenn der Arzt das auch so ­offen begründet, finde ich das legitim. Heute weiß ich allerdings, dass eine Reise in die Niederlande nicht zwingend notwendig gewesen wäre, da es auch hierzulande einige wenige Ärzte gibt, die diesen Eingriff bis zur 16. Schwangerschaftswoche durchführen.

Das Problem ist jedoch, dass niemand diese nennt. Und auf ihre Webseite dürfen Ärzte das auch nicht schreiben. Man müsste also tatsächlich jeden einzelnen Gynäkologen anrufen und fragen, ob er das durchführt. Und wenn man es versucht, bekommt man am Telefon keine Auskunft – weil auch die Ärzte Angst vor Anfeindungen haben. Man kommt sich vor wie ein Verbrecher. Aber ich bin eine erwachsene Frau. Warum darf ich nicht selbst entscheiden? Denn darauf läuft es de facto hinaus: Durch das Unterbinden von Informationen wird die eigene Entscheidung unmöglich gemacht.

Also machte ich den operativen Abbruch in Holland. Ich hatte keine körperlichen Schmerzen, alles lief bestens ohne Komplikationen – doch die seelischen Schmerzen waren kaum zu ertragen. Ich bin dann dreimal zur Psychotherapie gegangen, bis mir die Psychologin sagte, ich bräuchte nicht mehr zu kommen, ich würde ja über meine ehrenamtliche Tätigkeit alles aufarbeiten. Mir war es damals wichtig, Frauen in meiner Lage zu helfen. Und mittlerweile habe ich auch eine Liste von Frauenärzten zusammengetragen, die Spätabbrüche durchführen. Diese Arbeit war tatsächlich meine Therapie. Langsam ging es mir besser.

Am besten wäre es natürlich, solche traumatischen Spätabbrüche von vornherein zu vermeiden. Der Bluttest auf Trisomien könnte dabei helfen. Das Problem an Fruchtwasseruntersuchungen ist nämlich nicht nur, dass sie riskant sind, sondern dass sie auch erst ab der 15. Schwangerschaftswoche möglich sind. Der Bluttest ist dagegen schon in der 10. Woche möglich.

Mein Schwangerschaftsabbruch ist jetzt zwölf Jahre her, damals gab es diesen Bluttest noch nicht. Ich halte den Abbruch noch immer für die richtige Entscheidung – ich bereue ihn auf keinen Fall. Natürlich habe ich um das Kind getrauert und trauere noch. Im Garten habe ich einen japanischen Kirschbaum gepflanzt. Die Schwangerschaft war von März bis Juni. In dieser Zeit blüht der Baum, bis er im Juni die weißen Blütenblätter fallen lässt. Wenn ich das Bäumchen angucke, denke ich natürlich daran. Aber es ist wirklich so: Zeit heilt Wunden. Protokoll: Frieder Piazena

Anonym, 54 Jahre, Lehrerin. Mutter von zwei Kindern, davon eines mit Trisomie 21

Mein Sohn ist zwölf Jahre alt und hat das Down-Syndrom, einhergehend mit einer starken geistigen Behinderung. Er kann nicht sprechen, kann aber mit einigen Gebärden kommunizieren. Früher habe ich als Lehrerin gearbeitet. Am Anfang dachte ich, ich würde irgendwann in meinen Beruf zurückkehren. Heute ist mir klar, dass ich es nicht schaffen würde, meinen Sohn zu betreuen und noch meinen Beruf auszuüben.

Doch der stärkste Einschnitt war für mich der Verlust meiner Freiheit. Ich kann nicht mehr spontan sein, solange das Kind zu Hause ist. Ich habe ständig Angst, dass mein Sohn auf die Straße rennt oder im Moor versinkt – so wie es uns im letzten Urlaub beim Spaziergang passiert ist. Er verhält sich wie ein Kleinkind, aber das jetzt schon seit zwölf Jahren. Man muss immer aufpassen, weil er Gefahren nicht einschätzen kann. In der Öffentlichkeit muss man ihn ganz stark beaufsichtigen, immer festhalten, immer vorausschauend agieren. Irgendwann hat man keine Lust mehr, ständig so engmaschig aufzupassen. Aber so wird auch die Zukunft sein, es wird immer so weitergehen, dass ich auf ihn aufpassen muss.

Dass mein Kind ein Down-Syndrom hat, erfuhr ich erst im Kreißsaal, direkt nach der Geburt. Ich hatte damals bereits einen vier Jahre alten Sohn, dessen Geburt komplett unkompliziert verlief. Als ich mit ihm schwanger war, hatte ich auch eine Nackenfaltentransparenz-Messung machen lassen. In meiner zweiten Schwangerschaft war ich bereits 42 Jahre alt. Mir war natürlich klar, dass aufgrund meines Alters einige Risiken bestanden. Doch meine Frauenärztin bot mir die Untersuchung gar nicht erst an. Als ich nachfragte, wiegelte sie nur ab, die gäbe sowieso keine wirkliche Auskunft.

Auch als ich eine Fruchtwasseruntersuchung ansprach, reagierte sie abwehrend – dafür sei es jetzt eh zu spät und außerdem seien gerade Weihnachtsferien. Als ich mich dann bei einer späteren Ultraschall-Untersuchung erkundigte, ob es ein Mädchen oder Junge wird, fragte sie mich, warum ich das wissen wollte. Das war schon kurios. Heute glaube ich, dass sie definitiv gegen Abtreibungen war und vielleicht sogar vermutete, dass das Kind das Down-Syndrom hat. Doch letztlich hatten mein Mann und ich uns auch bewusst gegen eine Fruchtwasseruntersuchung entschieden. Zum einen, weil die Untersuchung ein Risiko für das Kind birgt, und zum anderen, weil eine Spätabtreibung für mich nicht infrage gekommen wäre.

"Am Anfang dachte ich, das schaffst du"

Im Rückblick wäre es trotzdem wichtig gewesen, zu wissen, dass mein Sohn das Down-Syndrom hatte. Die Schwangerschaft wäre dann besser überwacht worden und wir wären zur Geburt gleich ins Uni-Klinikum gegangen. Letztlich wissen wir heute nicht, ob seine starke Behinderung durch das Down-Syndrom oder durch Probleme bei der Schwangerschaft und Geburt oder beim Transport des Babys in die Uni-Klinik verursacht wurden – Komplikationen, die man vielleicht hätte vermeiden können.

Es ist gut, dass es jetzt diesen Bluttest gibt, weil man sich schon in einem frühen Stadium der Schwangerschaft Gedanken machen kann, ob man das schafft und welche Unterstützung es gibt. Diese Chance sollten alle Frauen haben, egal ob sie das Geld für einen Test haben oder nicht. Daher sollte diese Untersuchung auch von den Krankenkassen bezahlt werden.

Wie stark das Down-Syndrom ausgeprägt ist, kann allerdings kein Test sagen. Am Anfang dachte ich, das schaffst du. Er wird jetzt gefördert und du holst alles raus aus ihm, was er an Potenzial hat und das wird schon. Mittlerweile ist mir klar, dass er einfach ein sehr geringes Potenzial hat. Und wenn da wenig ist, dann hilft auch Förderung nichts. Es hat aber ziemlich lange gedauert, bis ich das begriffen habe – es war wie ein Sturz in mehreren Stufen.

Es ist wie bei Sisyphos. Unserem Kind etwas beizubringen, ist ein Fass ohne Boden. Man muss psychisch schon sehr stark sein, um die Situation halbwegs gut durchzustehen. Es ist einfach unglaublich nervig, mit diesem Kind zusammenzuleben.

Mein Sohn kann nicht sprechen, kommuniziert aber mit einigen Gebärden. Wenn er schwimmen gehen möchte, macht er die entsprechende Gebärde dafür. Oder wenn er Brot oder Joghurt essen möchte, kann er das auch zeigen. Doch er macht eben auch Laute, die er ständig wiederholt und die für mein Ohr unerträglich sind – und sie werden immer lauter. Wenn wir in der Öffentlichkeit sind, zusammen essen gehen möchten, ist es für mich eine totale Qual. Wir machen es aber trotzdem. Alle gucken, alle drehen sich um. Aber ich halte das irgendwie aus.

Eine große Unterstützung ist seine Schule. Er besucht von 8 bis 15 Uhr eine Förderschule mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung und wird dort sehr gut betreut und gefördert. Er könnte niemals in eine integrative Schule gehen, damit wäre er vollkommen überfordert. Er muss in einer ganz kleinen Klasse sein und braucht trotzdem einen Integrationshelfer, der ihn begleitet und mit seinem herausfordernden Verhalten umgehen kann. Doch außerhalb der Schule gibt es für verhaltensauffällige Kinder wie meinen Sohn nur wenig Betreuungsangebote. Wenn wir für ihn einen Platz bekommen, ist mein Sohn für ein paar Tage in den Schulferien in der Kurzzeitpflege. Aber eben nur für ein paar Tage im ganzen Jahr.

Wie die Zukunft meines Sohnes aussieht? Ich kann nicht sagen, was da kommt, aber auf jeden Fall nichts Gutes. Ich kann mir zurzeit nicht vorstellen, ihn später ins Wohnheim abzugeben, wo er wahrscheinlich aufgrund des geringen Betreuungsschlüssels mit Tabletten ruhiggestellt werden müsste. Das möchte ich natürlich auch nicht. Und sonst gibt es eigentlich nichts. Deshalb schaue ich lieber nicht in die Zukunft. Protokoll: Frieder Piazena

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