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Kommissionschefin Ursula von der Leyen und Charles Michel, Präsident des Europäischen Rates, beim Abschluss des EU-Sondergipfels zum europäischen Haushalt.

© Foto: Virginia Mayo/AP/dpa

Deutschland in Europa: Die Mär vom Zahlmeister

Wegen des Brexit müssen die EU-Beiträge gerade neu verhandelt werden. Was wenige wissen: Die deutsche Beitragslast liegt, verglichen mit den anderen Mitgliedsstaaten, nur im Mittelfeld.

[Dieser Text erschien zuerst in der gedruckten Beilage "Deutschland in Europa", einem Projekt mit Masterstudierenden der Universität Hamburg]

Wer bezahlt den Brexit? Diese Frage sorgt in Brüssel seit Monaten für Streit. Weil die Briten künftig als Beitragszahler ausfallen, droht den anderen EU-Staaten eine Erhöhung ihrer Zahlungen. Das bringt die Bundesregierung in die Klemme.

Das EU-Budget umfasst in diesem Jahr mehr als 168 Milliarden Euro und ist damit gerade einmal doppelt so groß wie der Landeshaushalt von Nordrhein-Westfalen. „Das heißt aber nicht, dass es keinen Effekt hat“, sagt Lucas Guttenberg, Vizedirektor der Denkfabrik Jacques Delors Centre an der Berliner Hertie School. Die EU habe einen enormen Einfluss auf die Bereiche, in die das meiste europäische Geld fließe: Dazu zählten die Landwirtschaft, Infrastrukturprojekte sowie Wissenschaft und Forschung. Neben den Zolleinnahmen auf Importe aus Nicht-EU-Staaten sind die Beiträge der Mitgliedsländer die Haupteinnahmequelle des Brüsseler Budgets. Die jeweilige Höhe richtet sich vor allem nach der Wirtschaftskraft der Mitgliedsländer.

Im Jahr 2018 überwies die Bundesregierung 25 Milliarden Euro nach Brüssel, damit kam fast jeder sechste Euro des EU-Haushalts aus Berlin. Deutschland ist damit der Spitzenzahler unter den Mitgliedstaaten – zumindest in absoluten Zahlen. Rechtspopulisten und EU-Skeptiker machen sich diese Rechnung immer wieder zunutze. Zahlt Deutschland wirklich zu viel?

Pro Einwohner zahlen die Deutschen lediglich 84 Cent am Tag

Deutschland hat das höchste Bruttonationaleinkommen der europäischen Staaten und ist damit automatisch auch der größte Beitragszahler. Pro Einwohner gerechnet zahlen die Deutschen allerdings lediglich 84 Cent am Tag für das EU-Budget. Auf einen Luxemburger hingegen kommen täglich 1,62 Euro, die nach Brüssel fließen. Auch Iren, Dänen und Österreicher geben in Relation zu ihrer Bevölkerungszahl mehr für Europa aus als Deutschland. Dessen Beitragslast liegt im EU-Vergleich nur im Mittelfeld (siehe Grafik). Die Bundesrepublik ist zwar ein Nettozahler, das heißt: Im Jahr 2018 überwies die Bundeskasse 13 Milliarden mehr nach Brüssel, als von dort beispielsweise für die Unterstützung der deutschen Landwirte oder den Straßenbau in strukturschwachen Regionen zurückfloss. Nach Meinung von Ruprecht Polenz (CDU), dem langjährigen Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag, ist das aber kein Problem: „Ich teile überhaupt nicht das Argument, Deutschland sei der Zahlmeister Europas.“ Die Fixierung auf die Nettobeitragsströme sei nicht hilfreich, denn die EU sei eben kein „Nullsummenspiel“, sondern eine Win-win-Situation.

Dass Deutschland wirtschaftlich profitiert, bestätigt eine aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung. Demnach beschert allein der freie Handel im europäischen Binnenmarkt jedem Bundesbürger im Schnitt über 1000 Euro mehr Jahreseinkommen. Auch Lucas Guttenberg sieht den Begriff des Nettozahlers kritisch: Die Vorteile des Erasmus-Programms für Studierende und Azubis, des gemeinsamen Satellitenortungssystems Galileo oder des Grenzschutzes ließen sich nicht beziffern und kämen allen Mitgliedsstaaten zugute. Solche Ausgaben machen rund ein Viertel des EU-Haushalts aus. Selbst die Rückflüsse aus den Strukturfonds seien nicht klar zuzuordnen, erklärt Guttenberg: „Wenn mit Fördergeldern der EU in Polen Straßen gebaut werden, passiert es nicht selten, dass deutsche Firmen die Aufträge bekommen.“ Dann profitierten schließlich beide Länder von den EU-Geldern. Und selbst das ist nach Meinung des Fachmanns Guttenberg längst noch nicht die ganze Wahrheit: „In Relation zum jeweiligen Bruttonationaleinkommen zahlen Deutschland, Schweden und die Niederlande sogar am wenigsten von allen Mitgliedsländern.“ Für die Mehrheit der EU-Staaten liegt der Anteil bei über 0,85 Prozent ihrer jeweiligen Wirtschaftsleistung. Deutschland dagegen zahlte 2018 nur 0,73 Prozent. Der Grund dafür sind die sogenannten Rabatte, die sich Deutschland und andere finanzstarke Länder nach dem britischen Vorbild haben einräumen lassen.

Der Eu-Haushalt funktioniert nicht wie ein normaler Staatshaushalt

Jeweils zum Jahresende beschließen die Mitgliedsstaaten und das EU-Parlament das europäische Budget für das kommende Jahr. „Der EU-Haushalt funktioniert nicht wie ein normaler Staatshaushalt“, erklärt Guttenberg. Im Gegensatz zu den nationalen Staatskassen muss die europäische ausgeglichen sein, die EU-Kommission darf keine Schulden machen. Ab 2021 werden die mit dem Brexit wegfallenden Beiträge Großbritanniens eine große Lücke hinterlassen, Schätzungen zufolge knapp zehn Milliarden Euro jährlich. Diese müssen die anderen Mitgliedsstaaten nun füllen, wenn die Ausgaben für die anderen 27 EU-Staaten nicht sinken sollen. Das verschafft den derzeit laufenden Verhandlungen um den Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) für die Jahre 2021 bis 2027 besondere Brisanz. Denn damit legt die EU die Obergrenzen für ihre Einnahmen und Ausgaben auf sieben Jahre im Voraus fest. „Der MFR ist die entscheidende Stellschraube für die Handlungsfähigkeit der EU“, unterstreicht Guttenberg. Es sei sehr schwierig, dieses Paket noch einmal aufzumachen, wenn es erst einmal beschlossen worden sei. In den aktuellen Verhandlungen wird darum auch Deutschlands Rolle in Europa neu definiert.

Um die Brexit-Lücke zu füllen, schlägt die Kommission vor, im Zuge einer Reform die Sonderbehandlung einzelner Mitgliedsstaaten – also auch Deutschlands – zu beenden. Die Bundesregierung befürchtet nun, dass sich die Nettobeiträge Deutschlands bis 2027 auf 33 Milliarden Euro jährlich verdoppeln könnten, wie die „Financial Times“ berichtete. „Es werden Schreckensszenarien gezeichnet“, analysiert Guttenberg die Zahlenspiele, „um im nächsten Schritt dann sagen zu können, es sei ja gar nicht so schlimm gekommen“. Auch der finanzpolitische Sprecher der Links-Fraktion im EU-Parlament, Martin Schirdewan, sieht diese Verhandlungsstrategie kritisch: „Ich würde der Bundesregierung empfehlen, hier nicht auf Zeit zu spielen.“ Er habe die deutsche Position bei den Verhandlungen bisher als „sehr konservativ-restriktiv“ erlebt. Seiner Meinung nach sollte die Bundesregierung nicht nur ein nationales Interesse definieren, sondern vor allem ein europäisches.

Die EU-Kommission und das Europäische Parlament planen in ihren MFR-Vorschlägen, dass die EU-27 einen höheren Anteil ihrer gemeinsamen Wirtschaftskraft zahlen sollen. Die Bundesregierung will da allerdings bisher nicht mitmachen. Der Austritt der Briten ermögliche nun bislang unpopuläre Positionen, sagt Guttenberg: „Ohne den Brexit hätte sich die Bundesregierung nicht hingestellt und gesagt: Wir wollen eine Kürzung der europäischen Ausgaben.“ Dabei sei gerade das Gegenteil nötig, meint der Linken-Abgeordnete Schirdewan. Er hält es für einen fatalen Fehler, bei den Struktur-, Regional- und Sozialfonds zu sparen: „Wir sollten stärker in gesellschaftliche Umbauprozesse investieren.“ Anders könne man den aktuellen Herausforderungen nicht gerecht werden. Es gehe darum, die Wirtschaft und Gesellschaft auf die Digitalisierung einzustellen, den Klimaschutz voranzutreiben und die Armut in Europa zu bekämpfen.

„Wir müssen entschieden darüber nachdenken, wie wir diese politischen Aufgaben finanzieren können“, fordert Schirdewan. Es sei nicht zielführend, lediglich darüber zu diskutieren, „wer auf den Cent genau welchen Anteil trägt“. Es gehe vielmehr um Grundsätzliches, mahnt auch der CDU-Außenpolitiker Polenz: „Dass wir nach 70 Jahren Frieden das Gefühl haben, Stabilität und Sicherheit könnten wir gratis haben – da täuschen wir uns.“

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