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Fernbeziehung. Hier am Berliner Bode-Museum fanden Annelie Herkenrath (rechts) und Elke Krause vor 52 Jahren zueinander.

© Doris Spiekermann-Klaas

Deutsche Teilung: Der Osten, der Westen und eine grenzenlose Freundschaft

Zwei Frauen aus Wismar und Köln hatten einander nie gesehen – und sind dennoch Freundinnen geworden. Per Post, über Mauer und Stacheldraht hinweg.

Warum sie damals ihren Namen und ihre Anschrift in dieses Mäuerchen aus Sandstein ritzte, irgendein Mäuerchen an der Museumsinsel, „warum“, sagt Elke Krause heute, „weiß ich nicht mehr, einfach so.“ Damals, im September – oder war es Oktober? – des Jahres 1967, ist sie 13 Jahre alt, eine Klassenfahrt hat sie aus ihrer Heimatstadt Wismar nach Berlin geführt, in die Hauptstadt der DDR.

Kurz danach steht vor dem Mäuerchen Annelie Herkenrath, ebenfalls 13 Jahre alt. Allerdings aus einem anderen Teil Deutschlands, aus Köln. Sie entdeckt die Inschrift und schreibt sie ab. „Warum, weiß ich nicht mehr, einfach so.“

52 Jahre später gibt es das Mäuerchen nicht mehr, es pfeift der Wind ums Bode-Museum herum an diesem zweiten Tag im Mai, grau ist der Himmel, und Elke und Annelie, wiewohl strahlend im Gesicht, treibt es ins nächste Café. Dort erzählen sie ihre Geschichte, die eine Geschichte ist, die Willy Brandt wohl im Kopf hatte, als er davon sprach, dass nun zusammenwächst, was zusammengehört, das Deutsche und das Deutsche nämlich, und hier, nahe des Bode-Museums, wurde das inzwischen geflügelte Wort wenigstens einmal wahr. Damals im September – oder war es Oktober? – des Jahres 1967.

Feuchte Augen und das Glück

Elke Kleineidam, das ist ihr Mädchenname, ging in Wismar zur Schule und besuchte mit ihrer Klasse zur Feier der Jugendweihe die Hauptstadt der DDR. Sie absolvierten das klassische Besuchsprogramm: Die Gedenkstätte Sachsenhausen stand darauf, der Alexanderplatz, der Tierpark und eben auch die Museumsinsel.

Zwei Wochen später machte sich in Köln ebenfalls eine Schulklasse auf den Weg nach Berlin, überwiegend nach West-Berlin, aber auch einen Besuch des Ostteils der geteilten Stadt gab es. Der Rektor von Annelie Herkenraths Schule war ein geschichtsbeflissener und -bewusster Lehrer, so erzählt sie es heute im Café, der seinen Schülern vermitteln wollte, was Deutschland war, bevor dem Faschismus die Macht übergeben wurde, bevor der Krieg tobte, an dessen Ende aus diesem Land zwei Staaten wurden.

Wieder zwei Wochen später übergab die Mutter in Wismar ihrer Tochter Elke einen Brief aus dem Westen, aus Köln, „ich weiß noch“, erzählt Elke Krause heute, „dass ich mich sehr gewundert hatte, wir hatten keinen Westkontakt, ich kannte niemand aus Köln.“ Es war der Grundstein einer Freundschaft, die mit Briefen begann, die keine Mauer, kein Stacheldraht, kein Todesstreifen, kein kalter Krieg aufhalten und trennen konnte – und die bis heute Bestand hat. 52 Jahre gelebte Freundschaft, das ist auch unter anderen Umständen außergewöhnlich, unter den Umständen der beiden Freundinnen, können einem die Augen feucht werden vor Glück über die Kraft der menschlichen Wärme.

„Allenfalls blühender Blödsinn“

Elke Krause hat an diesem 2. Mai Geburtstag, 65 Jahre alt wird sie, deswegen ist Annelie Herkenrath zu Besuch in Berlin, im Februar feierte sie das gleiche Jubiläum. Elke hat ihren Mann zum Treffen mitgebracht, sie ist eindeutig die lebhaftere der beiden Freundinnen. Annelie, deren zweiter Mann vor einem Jahr starb, ist zurückhaltender, spricht diesen herrlichen rheinischen Singsang, der ihren Worten bei aller anhaltender Trauer, Kraft und Lebensfreude verleiht. „Ich mag deinen Humor“, sagt Elke.

Wie viele Briefe sie sich geschrieben haben, wissen beide nicht mehr, nicht wöchentlich, aber es sind eine Menge gewesen. „Wir zu Hause in Wismar hatten ja kein Telefon“, sagt Elke. Aber dass sie auf einer Wellenlänge liegen, „das war schon nach dem zweiten, dritten Brief klar, im ersten hat mich Annelie noch gesiezt.“ Briefe haben sie leider keine dabei, und „ob sie die zeigen würden“, sagt Elke, „mhm, das war schon sehr persönlich.“

Annelie Herkenrath Ende der 60er Jahre.
Annelie Herkenrath Ende der 60er Jahre.

© privat

Hatten sie dann später, als Teenager, als junge Heranwachsende, einen Code, über welche Themen sie besser nicht schreiben sollten? Nein, sagen beide unisono, „das war nicht nötig“, erzählt Elke, „wir haben nie über politische Themen geschrieben, darüber reden wir heute, aber wir sind beide Gewerkschaftler, auch darüber gibt es keine Diskrepanz.“

Die Stasi, die Mauer, der Deutsche Herbst, die RAF, der Nato-Doppelbeschluss, die Perestroika, Willy Brandt, Willy Stoph, alles kein Thema, nicht mal zwischen den Zeilen? Man muss das so glauben, und vielleicht ist die Beschränktheit auf das Private auch ein Fundament dieser den eisernen Vorhang durchbrechenden Freundschaft.

Und heute? Auch über das Tempo der Wiedervereinigung sind sie sich einig, „dass wir im Osten bald blühende Landschaften haben werden“ – ihr sei damals schon klar gewesen, sagt Elke, „war allenfalls blühender Blödsinn.“ Und Annelie schimpft auf die Kriegsgewinnler, „die den Osten ja nahezu überfallen haben und die Leute mit ihren Autos und allem möglichen über den Tisch gezogen haben.“

Die ersten Liebeleien

Elke machte Abitur, studierte dann in Dresden Chemie, Annelie machte ihren Abschluss an der Volksschule, wie Grund- und Hauptschule damals hießen, machte eine Lehre als Schneiderin. „Das kam mir mal zugute“, wirft Elke lachend ein, „ich wollte mal einen Rock haben, habe Annelie meine Maße geschickt, wir hatten uns damals noch nicht einmal persönlich gesehen, und dann kam ein paar Tage später der Rock an, im gewünschten Stoff.“ Danach schrieb Elke sofort zurück: „Liebe Annelie, der Rock ist angekommen, er passt perfekt, du bist die Beste.“

Die ersten Liebeleien wurden mitgeteilt, Freundschaften, Urlaubserlebnisse, „wir“, sagt Elke, „haben ganz gut verdient, mein Mann als Bauingenieur, ich als Chemielaborantin, wir haben den gesamten damals möglichen Bereich bereist.“ Gibt es irgendetwas, was sich die Freundinnen nicht erzählen würden? Die beiden schauen sich an, dann schütteln beide im Gleichklang den Kopf. „Wir haben keine Geheimnisse voreinander.“

Ehrlichkeit, Offenheit, sagen sie, schätzen sie aneinander. „Und ich bin schüchtern“, meint Elke noch sagen zu müssen, da lacht Annelie sie aus, „das glaubst du ja wohl selber nicht.“ Und Elkes Mann lacht auch und sagt, „nein, das glauben wir wirklich nicht.“

„Irgendwie abhandengekommen“

1974 geht Elke mit ihrem Mann, den sie an der Universität kennengelernt hat, nach Berlin, heute leben sie in Potsdam. 1975 heiraten Elke und Annelie, beide, nicht abgesprochen, im gleichen Jahr. 1977 bringt Elke ihre Tochter zur Welt, Annelie gratulierte und schrieb: „Glückwunsch zu Carmen. Mache mich sofort auf den Weg zu meiner Schwester. Die war euch ja ein wenig voraus. Ich schicke dann Klamotten, sie hat noch einen Jeansrock meiner Nichte, so etwas habt ihr ja sicher nicht.“

Und bei diesen Paketen gab es dann doch wohl auch einmal Verstrickungen, mischte sich wahrscheinlich der Staat ein. Eines dieser Westpakete kam nie an, war, wie Elke ironisch und skeptisch erzählt, „irgendwie abhandengekommen. Ich meine, das waren Kinderkleider, keine politischen Schriften.“ Annelie schrieb, „ob da wohl ein Grenzer ein eigenes Kind hatte und die Kleider gut gebrauchen konnte?“

Im Westen scheitert Annelies erste Ehe, aus der zweiten hat sie einen Stiefsohn, der ist jetzt 58 Jahre alt. Lebenswege eben, nicht ungewöhnliche, aber außerordentlich, weil sie über die Mauer hin- und herflogen und geteilt wurden.

1998 - das erste Treffen

1990 lässt sich Elke im Westen umschulen zur Bankkauffrau, dazu musste sie immer, von Friedrichshain kommend durch ein Loch in der Mauer, weil der Rest noch stand. Annelie arbeitet nun in Köln in der Verwaltung eines Herstellers von Vakuumpumpen. Und immer noch die Briefe. Erst zu Elkes 40. Geburtstag kommt es zu einem ersten Telefonat. „Ich hatte mir bei einer Tante von Elke in Wismar die Telefonnummer in der Berliner Sparkasse besorgt und sie dann überrascht“, erzählt Annelie. „Das war eine Freude, da habe ich zum ersten Mal deine Stimme gehört, dieses lustige Kölsch“, sagt Elke.

Elke Krause Ende der 60er Jahre.
Elke Krause Ende der 60er Jahre.

© privat

1994 lässt der Schriftverkehr dann nach, ab da, die Krauses haben inzwischen einen eigenen Anschluss, wird telefoniert. „Ohne Rhythmus, aber doch sehr häufig“, sagt Annelie. „Unsere Männer haben uns für verrückt erklärt“, sagt Elke. Wohl auch, weil sich die beiden Frauen immer noch nicht persönlich kennengelernt haben. „Das stimmt so nicht“, sagt Elke, „wir wussten alles voneinander, wir hatten uns nur noch nicht von Angesicht zu Angesicht gesehen.“

1998, neun Jahre nach der Wende, das erste Treffen findet in Köln statt. Warum so spät? Das hatte verschiedene Gründe“, sagt Elke. Da seien zum einen die vielen Reisen gewesen, „eine nach Köln hatte keine Priorität“, umgekehrt sei Annelies Ehemann nicht sehr reisefreudig gewesen, dann habe es in den Familien einige Todesfälle gegeben, „und, ach was, das waren alles nicht die Gründe. Wir hatten keine Berührungsängste, wir haben ja irrsinnig viel telefoniert, aber wir hatten Hemmungen.“

„Was für eine Frage“

Sie seien ja nicht blind und taub durch die Welt gestolpert, wussten von Konflikten zwischen Ossis und Wessis. „Was wird dann aus unserer Brieffreundschaft, was wird, wenn sich unsere Männer nicht verstehen?“, sagt Elke. „Auch wenn wir das so bis jetzt nie ausgesprochen haben, aber wir hatten offensichtlich Angst, etwas aufs Spiel zu setzen.“

Die Ängste stellten sich als unbegründet heraus. Man traf sich am Flughafen in Köln-Bonn, weil Tochter Krause zeitgleich aus dem Urlaub in Barcelona landete. „Wir wussten von Fotos, wie wir aussahen.“ Und Annelie ergänzt, dass niemand gefremdelt hat, „selbst unsere Männer verstanden sich auf Anhieb.“

Dreißig Jahre Intimität sind eine zu lange Zeit für Anonymität. Fortan traf man sich mindestens einmal im Jahr, mal in Köln, mal auf Usedom, mal hier, mal dort. Die Freundinnen feiern die runden Geburtstage gemeinsam, und irgendwie kann man jeden Geburtstag zum runden erklären, und Elke ist auch dabei, als Annelie in Köln nichts zu feiern hat, sondern ihren Mann unter die Erde bringt. Bei der Erzählung fasst Annelie Elke an den Arm.

Draußen kommt jetzt ein wenig Sonne zum Vorschein. Elkes Mann will die zwei Frauen noch am Dom vorbei zur Baustelle des Humboldt-Forums führen. Annelie muss am Abend wieder in den Zug zurück nach Köln. „Und dann kommt ihr nächsten Monat?“, fragt Annelie. Elke hakt sich unter bei Annelie, „was für eine Frage“, sagt sie.

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