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Anna Sorokin bei ihrem Prozess.

© Richard Drew/pa-dpa

Deutsche Hochstaplerin in Freiheit: Anna Sorokins Lohn der Lüge

Nach vier Jahren Haft ist die deutsche Hochstaplerin Anna Sorokin zurück in Manhattan - und zeigt schon wieder alte Verhaltensmuster.

Seit 13 Tagen ist Anna Sorokin nun in Freiheit, und wenig spricht dafür, dass diese Geschichte gut ausgehen wird. Sie zeigt alte Verhaltensmuster, hat sich zerstritten und offenkundig schon wieder eine Freundin enttäuscht, vor allem aber tut sie, was ihr bereits einmal zum Verhängnis wurde: viel Geld ausgeben und Menschen haben, die das ermöglichen.

Sie nennt sich weiterhin „Anna Delvey“. Unter diesem Namen hat sie sich jahrelang in New York als reiche deutsche Erbin ausgegeben, Menschen betrogen, auf Kosten anderer ein Leben in Manhattans Schickeria geführt. Knapp vier Jahre saß die Hochstaplerin dafür in Haft, wegen guter Führung wurde sie, inzwischen 30 Jahre alt, am vorvergangenen Donnerstag vorzeitig entlassen. Statt sich dem Radar der Öffentlichkeit zu entziehen und anderswo eine neue Existenz aufzubauen, zog es Sorokin direkt zurück an den Ort ihrer Taten.

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Sie wohnt wieder in einem hochpreisigen Boutique-Hotel in Manhattan, fotografiert sich dabei, wie sie mit einer Flasche gekühltem Champagner in der Badewanne sitzt, und veröffentlicht das Bild im Internet. Es wirkt, als wolle Anna Sorokin dort weitermachen, wo sie im Herbst 2017 durch ihre Festnahme unterbrochen wurde. Auf Twitter schreibt sie: „Mein Leben ist eine Performancekunst.“

Es ist ein Leben, das es in die Abendnachrichten des US-amerikanischen Fernsehens und in die „New York Times“ schaffte, das bald auch auf Netflix zu sehen sein wird. Mit Lügen, gefälschten Dokumenten und Kühnheit hat sich Anna Sorokin Leistungen im Wert von mehr als 200 000 Dollar erschlichen. Das erlaubte ihr einen Alltag aus teuren Restaurantbesuchen, Infrarot-Saunagängen, Einheiten beim Personal Trainer und Partys. Sie wusste, wo es guten Aal gibt und wo man sich für 400 Dollar die Wimpern verlängern lassen kann.

Sie will nicht „diese böse Person“ sein

Sorokin täuschte Start-up-Unternehmer, Bankiers und Hotelbetreiber. Am Tag ihrer Freilassung erklärte sie vor laufender Fernsehkamera, sie wolle nicht als „diese böse Person“ angesehen werden, die „das ganze Geld von allen gestohlen hat“. Das sei keine akkurate Beschreibung ihrer selbst.

Ein 200 000-Dollar-Betrug, der die US-amerikanische Öffentlichkeit derart interessiert und zunehmend auch die deutsche? Bei dem es um nichts anderes geht als um die alte Geschichte einer Hochstaplerin – die sich eine Summe erlog, die gemessen an New Yorker Verhältnissen kaum der Rede wert scheint angesichts dessen, was im Finanzdistrikt von Manhattan in Sekundenbruchteilen umgesetzt wird?

Anna Sorokins Geschichte ist ein Kriminalfall, perfekt für die heutige Zeit. Die Deutsche hat Unwahrheit auf Unwahrheit geschichtet, bis alles zusammenfiel. Jetzt profitiert sie davon, dass ihre Lügen so konsequent und spektakulär waren. Weil sie jetzt – wenn sie so clever bliebe, wie sie es war – den falschen Ruhm in echtes Geld umsetzen könnte. Die Moral: Lügen lohnt sich, wenn du nur groß genug lügst.

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Dem New Yorker „Insider“ hat Sorokin ein Interview gegeben, weitere möchte sie in den kommenden Wochen nicht führen. Stattdessen ist sie in den sozialen Netzwerken aktiv, begrüßt Menschen, die sie für ihre Taten bewundern, und giftet gegen andere, die sie kritisieren. Auf ihrer Webseite hat Sorokin Tagebucheinträge veröffentlicht. Dazu gibt es die Aussagen aus dem Prozess, Einlassungen ihres Anwalts und diverser Geschädigter. Es gibt Podcasts, und es gibt ein Buch, das eines ihrer Opfer verfasst hat... Wer dieses ganze Material sichtet, erhält eine Vorstellung davon, wie Anna Sorokin ihr Lügensystem so lange aufrechterhalten konnte und weshalb derart viele Menschen auf sie hereinfielen.

Im Gefängnis sei sie wie eine Prominente behandelt worden, sagt Anna Sorokin heute. Sämtliche Vollzugsbeamte hätten ihre Geschichte gekannt, viele hätten Komplimente gemacht. Das sei „unprofessionell“, sagt Sorokin. Doch es habe ihr Vorteile verschafft. Im Grunde sei es in Haft ein bisschen wie in New Yorks besseren Kreisen: Es komme nur darauf an, wen man kenne und welchen Nutzen man daraus ziehen könne.

Sorokin nach ihrer Entlassung in New York.
Sorokin nach ihrer Entlassung in New York.

© Oscar Martini/imago

Die vorzeitige Entlassung verdankt sie auch ihrem Auftritt vor einem Bewährungsausschuss im vorigen Oktober. Sie schäme sich und bereue ihre Taten, erklärte sie dort. Zudem verstehe sie, dass Menschen ihretwegen leiden mussten – während sie selbst stets gedacht habe, sie mache nichts falsch. Dann sagte Sorokin noch, sie wolle ihren Lebensunterhalt nach der Entlassung als Autorin verdienen. Falls dieser Plan schiefgehe, sei sie auch bereit, Teller abzuwaschen.

Zu ihrer ausgedachten Biografie gehörte ein 60 Millionen Dollar schwerer Treuhandfonds, der ihr gehöre. Wenn sie mal wieder Rechnungen nicht bezahlen konnte, behauptete sie, sie habe gerade keinen Zugriff auf den Fonds, etwa weil ihr Vater sauer auf sie sei. Für mehr Glaubwürdigkeit erfand sie Angestellte mit deutsch klingenden Namen wie „Bettina Wagner“, unter deren Identität sie dann E-Mails an ihre Gläubiger schickte. Auf die fiktive Angestellte Bettina Wagner konnte Sorokin auch die Schuld schieben, wenn erneut eine Rückzahlung nicht klappte. Angeblich war ihr Vater in der Solarbranche erfolgreich.

Sorokin wuchs in einfachen Verhältnissen im nordrhein-westfälischen Eschweiler bei Aachen auf. Ihre Familie stammt aus Russland. Ihr Vater war Lastwagenfahrer, heute verkauft er Heizungen. Dem Tagesspiegel erklärt er, dass er sich aktuell nicht zur Situation seiner Tochter äußern möchte. Die Freigelassene muss damit rechnen, bald nach Deutschland abgeschoben zu werden. Vor Auffliegen ihres Betrugs war sie jeweils mit Drei-Monats-Visa in die USA gereist, musste zwischendurch das Land verlassen und ein neues beantragen. Ihr jetziges lief schon während der Untersuchungshaftzeit ab.

Wie unsympathisch sind Hochstapler?

Das spätere Bild eines Hochstaplers in der Öffentlichkeit hängt meist davon ab, wen er betrogen hat. Friedrich Wilhelm Voigt, der „Hauptmann von Köpenick“, führte Soldaten in die Irre und raubte die Stadtkasse. Das brachte ihm weniger Verachtung als unverhohlene Bewunderung ein. Unsympathischer wirkten die Taten des Postzustellers Gert Postel, der sich in den 1990er Jahren eine Stelle als Oberarzt in einem Fachkrankenhaus für Psychiatrie erschlich.

Weil es nach Anna Sorokins Festnahme zunächst hieß, sie habe vor allem Superreiche und Banken getäuscht, wurde ihr im Internet die Rolle einer „Anti-Establishment-Heldin“ zugedacht, es wurden T-Shirts mit dem Slogan „Free Anna Delvey!“ verkauft. Sorokin täuschte jedoch auch enge Freundinnen, eine brachte sie zur Herausgabe ihrer Kreditkarten, die daraufhin mit 60 000 Dollar belastet wurden – mehr, als die Freundin in einem Jahr verdiente. Die Versprechen, alle Schulden direkt zu begleichen, hielt Sorokin nicht ein.

Während ihres Gerichtsprozesses hat sie lange geschwiegen. Gleichzeitig fiel Sorokin durch wechselnde Designeroutfits auf, in denen sie vor die Geschworenen trat. Als sie einmal in Häftlingskleidung erschien – laut eigener Darstellung hatten ihr missgünstige Gefängnisbeamte das gewünschte Kleid vorenthalten – wollte sie den Termin verschieben lassen. Es stellte sich heraus, dass extra eine Promi-Stylistin für die Auswahl der Kleider beauftragt worden war.

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Da der Anwalt um Sorokins schlechte Zahlungsmoral wusste, übernahm er ihre Verteidigung nach eigener Aussage nur, weil ihm die Beschuldigte vertraglich Anteile künftiger Gewinne zusicherte (Sorokin bestreitet dies gegenüber dem Tagesspiegel).

Im Gericht sei es wie im Theater, sagte ihr Anwalt. Letztendlich gelte es, eine glaubhafte Show zu veranstalten. Er stritt Sorokins Taten also nicht ab, sondern argumentierte, heutzutage wolle doch jeder etwas Besonderes sein. Und beim Onlinedating oder der Jobsuche beschönige jeder seinen Lebenslauf. Er stellte Sorokin als junge, ambitionierte Deutsche dar, die ohne jede kriminelle Absicht in die USA kam, um sich ein Geschäft aufzubauen und ihren „New York Dream“ zu verwirklichen. Er zitierte im Prozess die Songzeile aus Frank Sinatras „New York, New York“: Wenn ich es dort schaffe, schaffe ich es überall.

Der Richterin fiel ein anderes Lied ein : „Blinded by the Light“ von Bruce Springsteen.

Der Traum der „Anna Delvey Foundation“

In ihrer Rolle als reiche Erbin hatte Sorokin vorgegeben, sie wolle im Herzen Manhattans ein Zentrum für Kunst eröffnen – mit Restaurants, Ausstellungsflächen und einer deutschen Bäckerei im Erdgeschoss. Die Dachterrasse würde einen Panoramablick über den Central Park bieten. Träger des Ganzen sollte eine Stiftung namens „ADF“ werden. Die „Anna Delvey Foundation“.

Als Standort hatte Sorokin eine ehemalige Kirche im Sinn. Für Umbau und Miete wollte sie einen Kredit über 22 Millionen Dollar aufnehmen. Dafür reichte sie gefälschte Dokumente ein. Außerdem erschlich sie sich 100 000 Dollar bei einer Drittbank, um die Bearbeitungsgebühren für die Prüfung ihres Großkredits bezahlen zu können.

Je größer die Schulden wurden, umso größer wurden ihre Ausgaben: Hier charterte sie für 35 000 Dollar ein Privatflugzeug, dort buchte sie eine Villa inklusive Butler für 7000 Dollar pro Nacht. Sie besteht bis heute darauf, dass sie alles Geld zurückzahlen wollte. Sie sei nicht gierig gewesen, sondern habe eine Vision gehabt, die leider nicht aufgegangen sei.

Im Prozess wurde eine Stylistin mit der Auswahl der Outfits beauftragt.
Im Prozess wurde eine Stylistin mit der Auswahl der Outfits beauftragt.

© Richard Drew/dpa

Ihre Geschichte wird jetzt verfilmt, vermutlich gleich mehrfach. Netflix dreht eine Serie, für die Rechte und Beratungstätigkeiten zahlte die Streamingplattform 320 000 Dollar, von denen Delvey einen Großteil direkt an geschädigte Banken weiterleitete. Für die Hauptrolle hatte sie sich Oscar-Gewinnerin Jennifer Lawrence gewünscht, das klappte nicht. Konkurrent HBO besitzt ebenfalls Rechte an dem Stoff.

Zusätzlich hat Sorokin ein eigenes Filmprojekt gestartet: Ein Kameramann folgt ihr durch New York und dokumentiert, wie sie Kosmetikprodukte einkauft oder ein Bankkonto eröffnet. Das Material möchte sie auf einem Kanal namens „Anna Delvey TV“ zeigen. Bald soll auch ein Buch erscheinen, in dem sie sich über ihre Zeit im Gefängnis auslässt. Über ihre eigene Schuld habe sie hinter Gittern kaum nachgedacht. Stattdessen habe sie die Schwächen des Justizsystems analysiert. Dieses sei stark verbesserungswürdig, der Aufenthalt eine einzige Zeitverschwendung. Immerhin habe sie im Gefängnis Mandelmilch selbst hergestellt, einen Kräutergarten angelegt, Sport getrieben. Auf ihrer Webseite schreibt sie: „Wenn ich jetzt kein besserer Mensch bin, bin ich definitiv ein schlankerer.“

Geschädigte warten noch auf hohe Summen

Einer derjenigen, denen Sorokin weiterhin Geld schuldet, ist Marc Kremers, Chef des renommierten Londoner Kreativstudios Future Corp Ltd.. Dem Tagesspiegel erklärt Kremers, er warte immer noch auf 16,800 britische Pfund für eine Präsentation, die sich Sorokin von ihm entwerfen ließ, um damit Banken zur Kreditbewilligung zu überreden. Teile davon findet man noch im Netz, mit dem heutigen Wissen liest sie sich wie Hochglanz gewordener Größenwahn. Delvey entstamme einer Familie von Sammlern moderner und zeitgenössischer Kunst, ist darin zu lesen. Mittlerweile sei sie selbst versierte Sammlerin und Kuratorin, außerdem Philanthropin.

Marc Kremers bekam für seine Arbeit keinen Lohn, dafür dutzende Mails, in denen sich Sorokin fürs verspätete Überweisen entschuldigte und beteuerte, nun komme das Geld aber ganz sicher. Kremers schreibt, wer Opfer eines solchen Betrugs werde, wolle einfach nicht glauben, dass es so gestrickte Menschen gibt. Welche Person bei Verstand entscheide sich dazu, in diesem Ausmaß andere zu belügen?

Selbstverständlich seien derartige Taten überall denkbar, und doch sei Sorokins Werk womöglich durch den Dampfkochtopf der New Yorker In-Szene begünstigt gewesen. Kremers nennt Anna Delvey „das bösartige Kind Manhattans“.

Warum Sorokin den Kreditantrag zurückzog

Nach allem, was man weiß, ist davon auszugehen, dass Anna Sorokin tatsächlich vorhatte, ihr Zentrum für Kunst zu eröffnen. Hätte sie den gewünschten Millionenkredit erhalten, hätte sie womöglich alle Schulden begleichen und parallel die „Anna Delvey Foundation“ starten können. Womöglich hätte sie so weitere Investoren angelockt. Tatsächlich kamen der Bank früh Zweifel, sie bot an, einen Mitarbeiter nach Europa zu schicken, um dort mit Delveys angeblichen Vermögensverwaltern zu sprechen. Sorokin zog ihr Kreditersuchen zurück.

Viele Vertraute hatte sie während ihrer Zeit als deutsche Millionenerbin nicht. Zu ihren engsten Freunden in New York zählte die Empfangsfrau des Hotels, in dem sie monatelang ohne hinterlegte Kreditkarte lebte. Die Angestellte namens Neff Davis erinnerte sich später, Sorokin sei dadurch aufgefallen, dass sie als Trinkgeld für kleine Gefallen stets einen Hundert-Dollar-Schein hinlegte und sich die Angestellten des Hotels deshalb darum rissen, der Frau Wünsche zu erfüllen.

Anfang Februar freute sich Neff Davis noch auf die bevorstehende Entlassung der Hochstaplerin. Sie haben sich tatsächlich getroffen, verbrachten Zeit miteinander – und haben sich binnen weniger Tage so zerstritten, dass sie sich nun gegenseitig im Internet beleidigen. Sorokin sei dabei, sich selbst zu zerstören, schrieb Davis am Sonntag auf Twitter.

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