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Blick in einen Nachtwagen der Deutschen Bahn.

© G. Welters/laif

Deutsche Bahn: Berlin - Paris: In den letzten Zügen

Keine Hektik, hitzige Diskussionen, selige Erinnerungen: Für seine Fans ist der Nachtzug die romantischste Art zu reisen. Doch er rentiert sich nicht mehr, sagt die Deutsche Bahn. Am Donnerstag beginnt die letzte Fahrt von Berlin nach Paris.

Als er einfährt, klobig und rot und verstaubt, geht ein Leuchten durch die wartenden Gesichter auf dem Untergleis des Hauptbahnhofs, durch manche jedenfalls. Anachronistisches Staunen ist der Auslöser: Einmal werden wir noch wach, dann sind wir schon in Paris. Es gab Zeiten, da galt das als schnell, lang ist es her. Keine zwei Stunden braucht heute das Flugzeug, geschlagene 13 sein historischer Gegner, der Nachtzug, der am Donnerstag dieser Woche kapitulieren wird: Auf der Strecke Berlin–Paris rollen dann zum letzten Mal Schlafwagen.

Es rentiert sich nicht mehr, sagen sie bei der Bahn, die sich aus dem Nachtverkehr Schritt für Schritt zu verabschieden scheint, auch wenn das im Unternehmensjargon mit „Konzepten zur Sicherung der Zukunftsfähigkeit“ und „Qualitätssteigerung auf bestehenden Strecken“ umschrieben wird. Gestrichen wurden in den vergangenen Jahren bereits die Berliner Verbindungen nach Riga, Kiew, Krakau, Stuttgart und Südtirol, zum aktuellen Fahrplanwechsel fallen neben Paris die Nachtzüge nach Amsterdam und Kopenhagen weg, auch von München und Hamburg aus wird man in ein paar Tagen nicht mehr liegend nach Paris kommen.

Zwanzig Uhr sechs, pünktliche Abfahrt am Hauptbahnhof. Herr K., Nachtschaffner seit zwanzig Jahren, gibt bei der Fahrkartenkontrolle sachdienliche Hinweise zur Verriegelung der Abteiltüren von innen. „Am besten den Riegel dazunehmen, Kette allein reicht nicht.“ Ob er traurig ist? „Na, nicht nur ich, vor allem die Fahrgäste!“ Das bestätigt sich, als wenig später unter den Bettwäschestapeln der Liegeabteile eingeschmuggelte Flugblätter auftauchen. Sie werben für eine Onlinepetition:

Nein zur Streichung der Nachtzugverbindung Berlin–Paris! Non à la suppression du train de nuit Berlin–Paris!

Gerne zeigt Herr K. Neugierigen den Zug. Fünf Waggons sind es, in Hannover werden später noch die Kurswagen aus Hamburg dazukommen. Die billigen Sitzabteile sind weitgehend leer heute, etwas besser gefüllt die Vierer- und Sechserkabinen der Liegewagen, ganz vorne und ganz hinten gibt es jeweils einen Schlafwagen mit Zweier- und Einzelabteilen. Letztere präsentiert Herr K. mit sichtlichem Stolz. „Das ist, ich sag’ mal, unser Luxusmodell.“ Das Single-Deluxe-Abteil kostet 400 Euro pro Fahrt, rund zehnmal mehr als die billigeren Liegeplätze bei frühzeitiger Buchung.

Sie reisen liegend, nicht fliegend, der Romantik wegen.

Persönlich, sagt Herr K., sei er ein großer Freund des Nachtverkehrs. Man komme herum, ein bisschen Zeit bleibe am Zielort immer, um sich die Stadt anzusehen, oder wenigstens das Bahnhofsviertel. „Schlafstörungen, das kenne ich gar nicht“, sagt Herr K., dem der Schichtbetrieb nie etwas ausgemacht hat. Gut, im Familienleben müsse man sich ein bisschen koordinieren, da helfe es, wenn die Frau auch bei der Firma sei.

Das Beste am Nachtzugfahren? Herr K. überlegt einen Moment. Im Tagesverkehr, sagt er dann, habe man viel mit Passagieren zu tun, die beruflich unterwegs seien und „wegen fünf Minuten hier und fünf Minuten da“ nervös würden. Ganz anders die Nachtfahrten. „Die Gäste sind, ich sag’ mal, in gelöster Stimmung.“ Auch das wird sich später noch bestätigen.

Es gibt viele Gründe, Nachtzug zu fahren. Man spart eine Hotelübernachtung. Man spart sich Flugzuschläge für Übergepäck, es gibt Stauraum für Fahrräder, Surfbretter, Kajaks. Auch den Umweg über zentrumsferne Flughäfen spart man sich, in Berlin-Mitte steigt man ein, im zehnten Arrondissement wieder aus. Wer unter Flugangst leidet, spart sich Nervenzusammenbrüche, wie der Pariser Modedesigner Hedi Slimane, der während seiner Arbeitsaufenthalte in Berlin stets den Nachtzug nahm.

Kaum irgendwo kommt man zudem so leicht ins Gespräch wie unter Nachtzugreisenden, und im Gespräch finden sich schnell weitere Argumente. Ein deutsch-japanisches Studentenpärchen hat gestern geheiratet und ist auf Flitterfahrt von Kassel nach Paris, liegend, nicht fliegend, der Romantik wegen. Ein Dokumentarfilmer aus Berlin fährt Strecken bis tausend Kilometer grundsätzlich nur per Bahn, der Umwelt zuliebe und weil ihn die Nachtzugfahrten an seine Pariser Studententage erinnern, in der Prä-Easyjet-Ära.

Ein Grüppchen britischer Rentner in Wachsjacken gönnt sich noch einmal die Grand Tour durch Kontinentaleuropa, mit dem Nachtzug natürlich, wie es schon ihre aristokratischen Vorgänger im 19. Jahrhundert taten. Der französische Geschäftsreisende, der aus Versehen den falschen Flug gebucht hat, sitzt nur ersatzweise im Nachtzug, aber er ist begeistert: „Das mache ich ab jetzt immer!“ Als die deutschen Mitreisenden ihm erklären, dass daraus leider nichts wird, ist er schwer enttäuscht.

Eine Kollegin von Herrn K. streitet sich derweil mit einer Gruppe neu zugestiegener Fahrgäste, die in ihrem Sechserabteil gerne die mittleren Pritschen eingeklappt haben möchten, zum gemütlicheren Sitzen. „Mach’ ich nicht“, raunzt die Schaffnerin. „Können Sie selbst machen, auf eigene Verantwortung, aber raten tu ich’s Ihnen nicht, da gab’s schon Arbeitsunfälle. Ist alles morsch hier, wird auch nicht mehr erneuert.“

Tatsächlich sind, das gibt eine Bahn-Sprecherin telefonisch zu, viele der derzeit verkehrenden Liegewagen arg sanierungsbedürftig. Ein Grund mehr für die Bahn, möglicherweise auch der entscheidende, das Nachtzuggeschäft weiter einzuschrumpfen, anstatt neu zu investieren.

Bahn-Chef Rüdiger Grube war "beeindruckt" - vom Einsparpotenzial?

Es ist noch nicht lange her, da unternahm Bahn-Chef Rüdiger Grube zu Testzwecken eine Nachtzugfahrt. Als er sich danach im Mitarbeitermagazin der Bahn „beeindruckt“ über die fünf verschiedenen Waggontypen äußerte, die im Nachtverkehr eingesetzt werden, schwante einigen seiner Untergebenen bereits nichts Gutes. Fünf verschiedene Waggontypen, das bedeutet fünf verschiedene Wartungsprozeduren, fünferlei verschiedene Ersatzteile, fünffach verschieden geschulte Mitarbeiter. „Beeindruckt“, so las mancher Grubes Äußerung, hatte den Bahn-Chef wohl nicht so sehr die Testfahrt selbst, sondern vielmehr das Einsparpotenzial, das er im komplizierten Nachtzuggeschäft witterte.

Dementsprechend skeptisch beurteilt mancher nun auch die Zahlen, mit denen die Bahn ihre Streichungen begründet: Um 30 Prozent sei die Nachfrage für Nachtzüge in den letzten zehn Jahren gesunken, allein die drei deutschen Verbindungen nach Paris hätten 2013 ein Defizit von zwölf Millionen Euro verbucht, heißt es. Joachim Holstein, Betriebsratsvize bei der DB European Railservice, geht dagegen sogar von einer leicht gestiegenen Nutzung aus, um 60 000 auf insgesamt rund 1,5 Millionen Passagiere in den letzten zehn Jahren. Hinter den Nachfrage- und Verlustzahlen der Bahn wittert Holstein buchhalterische Vermischungen mit anderen Geschäftsbereichen, mit dem Ziel, das Nachtzuggeschäft schlechtzurechnen. Mit genaueren Angaben ist Holstein vorsichtig geworden: Im Oktober wurde er abgemahnt, nachdem er einem Bundestagsabgeordneten öffentliche Unternehmenszahlen weitergegeben hatte.

Holstein, der mit Gleichgesinnten die Initiative „Nachtzug bleibt“ ins Leben gerufen hat, ist überzeugt, dass das Geschäft mit den Schlafwagen wirtschaftlich zu betreiben wäre – wenn man nur wollte. Letzteres aber sei bei der Bahn offenbar schon länger nicht mehr der Fall. „Wann“, fragt Holstein, „haben Sie das letzte Mal außerhalb der Bahnhöfe Werbung für Nachtzüge gesehen?“ Auch seien die Fahrten systematisch immer unattraktiver gemacht worden, etwa durch die Streichung der Speisewagen, einst die zentrale Begegnungsstätte aller Nachtzugreisenden.

Heute bleiben Schlafunwilligen nur die Korridore. Kurz nach der Ankopplung des Hamburger Zugteils in Hannover sammeln sich dort kleine Grüppchen, und in Liegewagen 98 entspinnt sich eine angeregte Diskussion über Foie Gras, französische Gänsestopfleber. Ein Programmierer aus Toulouse hält ein feuriges Plädoyer, um einem Vegetarier aus Berlin die ethischen Bedenken auszureden: „Stopfleber gab es schon im alten Ägypten! Man hat dort bei Ausgrabungen Gänse mit vergrößerter Leber gefunden – das ist eine uralte Kulturtechnik!“ Der Vegetarier lacht. Bierselige Völkerverständigung. In welchem Tageslicht-ICE ließen sich solche Szenen erleben?

Plötzlich ein Ruck - Notbremsung!

Als im Bundestag Ende September über die anstehenden Zugstreichungen diskutiert wurde, war das Thema Anlass für einen munteren Austausch von Eisenbahnmetaphern. „Abenteuerlicher als eine Fahrt mit dem Orient-Express“ nannte Michael Donth von der CDU einen Antrag, mit dem die Opposition ein zweijähriges Moratorium gegen weitere Nacht- und Autozugstreichungen durchsetzen will. Europa wachse zusammen, argumentierten Grüne und Linke, die Bahn aber schaffe ohne Not ihre internationalen Verbindungen ab, auch sei ein Kulturgut in Gefahr, Nachtzüge gebe es in Deutschland bereits seit 162 Jahren. „Schlafwagengesellschaft!“, donnerte Donth. Am 14. Januar wird das Thema erneut auf der Tagesordnung stehen, diesmal unter Anhörung von sieben fraktionell nominierten Verkehrsexperten. Die Linken haben Joachim Holstein bestellt, den widerspenstigen Bahn-Betriebsrat.

Ein kleines Grüppchen Nachtzug-Aficionados trinkt im Korridor bis nach Mitternacht Flaschenbier aus dem Zugkiosk. Selige Erinnerungen an vergangene Fahrten bestimmen das Gespräch: Einer schwärmt von der Transsibirischen Eisenbahn, ein anderer erzählt Gruselgeschichten über Kakerlaken in indonesischen Abteilen, ein Dritter will gehört haben, dass in Österreich noch ein paar übrig gebliebene Kurswagen des legendären Orient-Express im Einsatz sind. Dass zwischen Berlin und Paris bald kein Nachtzug mehr verkehren soll, scheint mit fortschreitender Stunde immer unglaublicher.

Irgendwann verkriechen sich dann auch die Letzten auf ihre Schlafpritschen. Stille kehrt ein, nur das stetige mechanische Seufzen des Zuges ist jetzt noch zu hören, und ein leises Schnarchen hier und da.

Bis im Morgengrauen plötzlich ein Ruck durch den Zug geht. Vollbremsung, die Fliehkraft reißt alle Passagiere aus den Träumen. Jemand hat die Notbremse gezogen, sagt Herr K., der von Abteil zu Abteil eilt, auf der Suche nach dem Schuldigen. Der aber ist längst aus dem Zug gesprungen, im dritten Waggon steht die Außentür offen. Dahinter liegen Weizenfelder, französische, die Grenze ist schon passiert. Ein paar Passagiere vermissen Geld und Telefone. Herr K. kennt das schon – weshalb hat er wohl allen eingeschärft, die Abteiltüren zu verriegeln?

Der Dieb ist über alle Felder. Aber er wird sich bald ein neues Geschäftsmodell ausdenken müssen.

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