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Tempelhofer Feld: Wo früher Flugzeuge starteten und landeten, ist die Natur zurückgekehrt.

© picture alliance/dpa

Der Mensch und der Planet: Was tun wir der Erde alles an?

Pestizide, Lichtverschmutzung, Mikroplastik: Professor Matthias Rillig bringt Ordnung in das Sammelsurium menschengemachter Umweltveränderungen.

Bei globalen Umweltveränderungen denkt man spontan an den Klimawandel – an die durch den Menschen verursachte Erderwärmung, die zunehmend Wetterextreme mit sich bringt. Auch an Umweltverschmutzung, Überdüngung, massenhaftes Ausbringen von Pestiziden, Bodenversiegelung, Lichtverschmutzung oder Mikroplastik. Doch dies sind nur einige der vielen anthropogenen Einflüsse, welche die Biosphäre des Planeten beeinträchtigen und dauerhaft verändern.

„Es hat mich schon lange gereizt, da einmal ein Ordnungssystem aufzustellen. Denn niemand weiß genau, wie viele Faktoren es eigentlich sind, und was passiert, wenn sie alle zusammen auftreten“, sagt Biologie-Professor Matthias Rillig von der Freien Universität Berlin. Wie notwendig das sei, zeigte seine Vorrecherche. Die Analyse von mehr als 4000 Fachpublikationen zum Thema „Global Change“ ergab, dass die Forscherinnen und Forscher bei 98 Prozent der Arbeiten lediglich einen Faktor oder zwei Faktoren untersucht hatten. „Das Feld der ,Global Change Biology‘ ist mit der Zeit in so viele Subdisziplinen zersplittert, dass eine Zusammenschau völlig fehlt“, erläutert Matthias Rillig. „Menschen, die über invasive Pflanzen forschen, sprechen beispielsweise eher selten mit denjenigen, die an Pestizideffekten, erhöhten Kohlendioxidkonzentrationen in der Atmosphäre oder an Schwermetallverseuchung arbeiten“, sagt der Wissenschaftler.

Ein Gänseblümchen, eine Maispflanze, Enzian

Als Bodenökologe konzentrierte sich Matthias Rillig zunächst auf seine eigene Domäne: Ausgangpunkt seiner Überlegungen war ein imaginäres Stück Boden mit einer beliebigen Pflanze darauf. Es könnte ein Gänseblümchen im Park sein, eine Maispflanze auf dem Acker, ein Enzian abseits eines alpinen Wanderweges oder ein karger Strauch in der Wüste. Rillig stellte eine Liste von Einflussfaktoren zusammen, die bald 30 Punkte umfasste; sie reicht von Bioziden über Dürre, Erwärmung, Partikel, Schwermetalle, Überdüngung, Überflutung bis hin zur Versalzung. So unterschiedlich diese Faktoren auch sind: Der kühne Gedanke war, sie alle in ein Schema zu pressen. Dazu überlegte sich Matthias Rillig Fragen, zufällig auch 30, die sich zu jedem Faktor stellen lassen; es sind Fragen, die klar mit Ja oder Nein zu beantworten sind und die die Merkmale des Faktors beschreiben. Sie definieren die Natur des Einflussfaktors, seinen Effekt und dessen Mechanismus.

Matthias Rillig erklärt es am Beispiel des Feuers: Wirkt der Faktor simultan auf alle Lebewesen des Systems? Ja – er wirkt auf Pflanzen wie Bodenorganismen. Ist er zeitlich limitiert? Ja. Wirkt er osmotisch? Nein. Toxisch? Nein – denn nach dem Waldbrand regeneriert sich das Ökosystem. Ist es ein biologischer Einflussfaktor? Nein. Ein chemischer? Nein. Ein physikalischer? Ja. Alle 30 Fragen sind auch an diesem Beispiel zu beantworten.

Ein komplexes Muster aus 900 Kästchen

30 Faktoren mal 30 Fragen. Ein komplexes Muster aus 900 Kästchen war auf dem Papier entstanden. Auch ein Laie kann auf den ersten Blick sehen, dass manche Faktoren sehr ähnliche Merkmale haben – obwohl sie grundverschieden sind. Das Einwirken von Schwermetallen etwa ähnelt dabei Landnutzungsänderungen, Überflutungen oder Feuer. „Dann ließen wir, unter der Annahme, alle Faktoren wären gleichberechtigt, Algorithmen darüber laufen.“ Aus dem Kästchenmuster entstand ein Baum, eine Art Stammbaum menschlich verursachter Umweltveränderungen. Ähnlich wie beim evolutionären Stammbaum der Pflanzen lässt sich daran ablesen, welche Einflussfaktoren näher miteinander „verwandt“ sind, sich also in ihren Merkmalen ähneln.

Matthias Rillig erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit seiner Faktorenliste. Das eine oder andere könnte also noch hinzukommen. Was ist zum Beispiel mit Lärmverschmutzung? „Lärm wurde bisher für den Boden nicht als wichtig erachtet. Wir haben die einzige Arbeit zum Thema Lärm publiziert – und sie wird von allen Kollegen ignoriert“, sagt er lachend. Ein anerkanntes Problem sei Lärmverschmutzung hingegen bei oberirdischen Ökosystemen und in den Ozeanen. So beeinflussen etwa Schiffsmotoren und Sonargeräte die Kommunikation von Delfinen und Walen. Matthias Rillig geht sogleich seinen Fragenkatalog durch: Lärm wäre ein mechanischer Faktor, ein physikalischer und, ja, eine Form von Energie.

Wir schädigen den Planeten nicht nur durch Klimawandel

„Wir wollen mit dem Ordnungssystem illustrieren, auf wie viele Arten wir unseren Planeten schädigen und seit wann die Faktoren eine Rolle spielen“, sagt der Bodenökologe. „Es ist eben sehr viel mehr als nur der Klimawandel. Natürlich gehört die Erderwärmung dazu. Aber auch völlig andere Dinge wie künstliches Licht in der Nacht, die Ausdehnung urbaner Räume, chemische Verschmutzung, Mikroplastik und sogar das Corona-Virus. Denn letztlich ist das Virus auch eine invasive Art.“

Die Klassifizierung anthropogener Einflüsse bringt Matthias Rillig nun zu ganz neuen Forschungsfragen. „Angenommen, ich lasse vier Faktoren gleichzeitig auf das Boden-Pflanze-System einwirken: Macht es einen Unterschied, ob sie in ihren Merkmalen sehr ähnlich sind – im „Bäumchen“ also dicht zusammen liegen – oder aber ganz verschieden sind? Und was ist im Ergebnis weniger schlimm? Wir wissen es einfach noch nicht.“ Simultane anthropogene Einflüsse auf Ökosysteme seien leider keine Ausnahme, sondern längst die Regel, wie der Biologe konstatiert.

Um sicherzugehen, dass er mit seinen Überlegungen nicht auf dem Holzweg war, machte Matthias Rilligs Team gleich am Anfang umfangreiche Experimente im Labor. Man ließ zehn der 30 Global- Chance-Faktoren in verschiedenen Kombinationen auf Bodenproben ohne Pflanze einwirken. Die Ergebnisse wurden bereits im jahr 2019 im Fachmagazin „Science“ publiziert. Und obwohl Matthias Rillig bei seinem Konzept an ein abstraktes Boden-Pflanze-System gedacht hatte, spiegelten sich seine Annahmen im Experiment verblüffend gut wider. Mehr noch, sie erlaubten es sogar, den Ausgang der Versuche vorherzusagen.

Je mehr Faktoren, desto schlimmer

In der Versuchsreihe wurde unter anderem die Wirkung von Trockenstress, dem Unkrautvernichtungsmittel Glyphosat, Antipilzmitteln, Mikroplastikfasern, Kochsalz und dem Schwermetall Kupfer getestet. 1024 Kombinationsmöglichkeiten hätte es allein mit zehn Faktoren gegeben – unmöglich, so viele Experimente auszuführen. Rillig ließ deshalb zufällig einen, zwei, fünf, acht und schließlich alle zehn Faktoren auf Probengefäße mit je 30 Gramm Boden „einprasseln“. Das Resultat war ernüchternd. „Wir sahen eine progressive Abnahme der Biodiversität und von Ökosystemfunktionen, etwa von Stoffabbau und Bodenstrukturneubildung. Je mehr Faktoren wirkten, desto schlimmer wurde es. Und zwar unabhängig davon, welche.“ Die wasserabweisenden Eigenschaften des Bodens nahmen bereits ab fünf Faktoren dramatisch zu. „Ökologische Überraschungen wie diese wird es viele geben. Doch solche Effekte stehen noch überhaupt nicht im Fokus der Forschung.“

Nun ist Matthias Rillig dabei, weiter Ordnung zu schaffen bei den von Menschen verursachten Umweltveränderungen. Etwa auf unterschiedlichen biologischen Ebenen wie Individuum, Lebensgemeinschaft und Ökosystem. Denn nur, wenn das wahre Ausmaß der Effekte verstanden wird, lassen sich in der Zukunft böse Überraschungen vermeiden.

Catarina Pietschmann

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