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Hayat (links) und Rassan Abu Schakra trauern um ihren jüngsten Sohn.

© Thore Schröder

Der Libanon zwischen Wiederaufbau und Zerfall: „Wir wollen nur vergessen“

In der Explosion von Beirut haben die Abu Schakras ihren Sohn verloren, fast ihr Haus – und den Glauben daran, dass der Wiederaufbau im Libanon lohnt.

Über den Fernsehbildschirm im Wohnzimmer von Hayat und Rassan Abu Schakra flackern auch knapp zwei Wochen später noch die Bilder der Explosion. Immerhin stummgestellt haben sie die Aufnahmen des Infernos, das ihnen den Sohn und beinahe das Zuhause genommen hat. Der Fernseher zeigt wieder und wieder die zinnoberrote Rauchsäule über der libanesischen Hauptstadt, die blutenden, orientierungslosen Opfer und rasenden Helfer. Daneben ein Schriftzug auf Arabisch: „Steh auf, oh Beirut“.

„Wir wollen eigentlich nur vergessen“, sagt Rassan Abu Schakra und weiß, dass das unmöglich ist. Auch wegen des Fernsehers, der zwar immer läuft, von dem sie allerdings schon lange kaum mehr Notiz nehmen. Vor allem aber wegen der Besuche der Freunde, Nachbarn, Freiwilligen. Wegen des ohrenbetäubenden Lärms der Bohrer, Sägen und Hämmer aus den Nebenzimmern. Und wegen der fehlenden Wände.

Das zweigeschossige Haus, deren oberes Stockwerk sie bewohnen, liegt knapp 800 Meter entfernt vom Ground Zero der Detonation und ist jetzt einsturzgefährdet. Nur in der Mitte, im Wohnzimmer, sind Hayat und Rassan Abu Schakra, 64 und 69 Jahre alt, noch sicher. Hier haben sie ihren wichtigsten Besitz aufgeschichtet, hier sitzen sie nun, umringt von Kisten und Heiligenbildern, unter dem Porträt ihres toten Sohnes, trauern und rauchen unentwegt. Auf vier Packungen am Tag schätzt Rassan ihren Tabakkonsum, pro Person.

Er und seine Frau fragen sich, was der Wiederaufbau ihrer Wohnung und ihrer Stadt bringen soll, wenn das Land um sie herum weiter kollabiert. Die Regierung ist zurückgetreten, der französische Staatspräsident Emmanuel Macron hat ein Ultimatum für Reformen gestellt. US-Staatssekretär David Hale hat in Beirut die Katastrophe zu einem „Moment der Wahrheit“ erklärt. Auch die Deutschen wollen laut Außenminister Heiko Maas nichts geben, wenn sich nicht endlich etwas ändert im Land. Und am Montag hat der geschäftsführende Gesundheitsminister wegen steigender Corona-Infektionszahlen einen neuen zweiwöchigen Lockdown empfohlen.

An das Virus verschwendet Hayat Abu Schakra in diesen Tagen keinen Gedanken, auch wenn sie sicher zur Risikogruppe gehört. Zwischen den Zigaretten der Marke Brilliant Super Slim wird sie von Hustenkrämpfen geschüttelt, verzieht vor Schmerz das Gesicht.

Auch zwei Wochen nach der Explosion gleicht Beirut noch einem Kriegsgebiet.
Auch zwei Wochen nach der Explosion gleicht Beirut noch einem Kriegsgebiet.

© Imago/ZUMA

An der Hauptstraße unweit des Hauses der Abu Shakras sind schwer bewaffnete Armeeeinheiten aufgezogen, um gegen Plünderer vorzugehen, das Parlament hat den Ausnahmezustand beschlossen. Hassan Nasrallah, Generalsekretär der Schiiten-Miliz Hisbollah, hat in seiner Rede am Freitag wiederholt vor Bürgerkrieg gewarnt. Es klang wie eine Drohung.

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Das Urteil des Sondertribunals zum Libanon in Den Haag dürfte bei dem Hisbollah-Führer gemischte Gefühle ausgelöst haben. Die Richter hatten 15 Jahre nach der Ermordung des Ex-Premiers Rafik Hariri am Dienstag zwar erklärt, dass sie keine direkten Beweise für eine Beteiligung der Hisbollah-Führung oder Syriens sehen, dafür aber einen Kämpfer der Organisation schuldig gesprochen.

"Ich habe geblutet wie ein Fluss"

An Hayat Abu Schakras rechtem Arm bedecken schmuddelige Pflaster ihre mit insgesamt zwölf Stichen genähten Wunden. „Ich habe geblutet wie ein Fluss“, sagt Hayat über die Minuten nach der Detonation am Abend des 4. August, als die Druckwelle aus dem Hafen über die Stadt und ihr Haus im Viertel Al-Hikmeh im Bezirk Ashrafiyyeh fegte, anfangs mit 2500 Metern pro Sekunde.

Rassan war in den Augenblicken der aufziehenden Katastrophe auf dem Dach, bei seinen Liebsten. Seit 50 Jahren züchtet er Renntauben. Seit der großen Wirtschaftskrise, die im vergangenen Sommer spürbar wurde, hat er kaum mehr Geld in seinem Beruf als Maler verdient. Also musste er einige der Tiere verkaufen. Etwas mehr als die Hälfte der verbliebenen Vögel hat die Explosion überlebt. Einige von ihnen flattern jetzt nervös gurrend über die Reste ihres Schlags. „Sie sind so klug“, sagt Rassan, „sie haben gespürt, dass gleich etwas Schlimmes passiert. Das hat mich gerettet.“

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Am Dienstag vor zwei Wochen bekam Rassan ein mulmiges Gefühl, als er seine Tauben hörte und den immer stärker über dem Hafen aufsteigenden Qualm sah. Dann gab es den ersten Knall, wie eine Warnung. Rassan kletterte hastig die Leiter herab. „Dann kam die zweite Explosion, wie das Ende der Welt.“

Nach der Detonation schrie auf dem Parkplatz vor dem Haus seine Frau: „Helft mir, helft mir, so helft mir doch!“ Wären die Eheleute im Wohnzimmer gewesen, hätte sie das herumfliegende Glas womöglich getötet. So aber fragten sie sich unmittelbar: Wo ist Schadi?

Vergeblich machte sich Rassan auf die Suche nach seinem Sohn.
Vergeblich machte sich Rassan auf die Suche nach seinem Sohn.

© Thore Schröder

Schadi, jüngstes ihrer drei Kinder, war 38 Jahre alt, als er starb. Einer von 178 Toten des Desasters. Bei seinem Begräbnis war der Friedhof der Kirche St. Michel vollkommen verwüstet. Die Explosion hatte einige der Grabfächer aufgesprengt. Es stank nach Verwesung, als die Männer Schadi Abu Schakras weißen Sarg in die Grube herabließen.

Schadi, ein stämmiger Typ mit langen Haaren und kräftigen, von Tätowierungen übersäten Armen, war in Al-Hikmeh bekannt, eine hyperlokale Berühmtheit. Obwohl oder wahrscheinlich gerade weil er seit seinem dritten Lebensjahr wegen einer verschleppten Ohrenentzündung nichts mehr hörte. „Das hat ihn neugierig gemacht. Er hat ein reines Herz behalten“, sagt seine Mutter.

Die Druckwelle ließ das Haus kollabieren

Ihr Junge habe Stereoanlagen geliebt, erzählt Hayat Abu Schakra: „Er konnte den Sound perfekt einstellen, indem er die Lautstärke ganz aufdrehte und sein Ohr auf die Boxen legte. Dann hat er die Töne gespürt.“ Oft habe sie mit ihm geschimpft, wenn seine geliebte Balkanmusik aus dem Zimmer dröhnte. In diesen Momenten schien Schadi zu vergessen, dass er taub ist.

Als im Hafen 2750 Tonnen Ammoniumnitrat explodierten, war Schadi in der Wohnung seiner Freunde Issam und Abdul, ein paar hundert Meter entfernt von seinen Eltern. Die Druckwelle ließ das Haus kollabieren. In der Nacht suchten Soldaten nach den Männern, mit bloßen Händen, unter Flutlicht. Rassan Abu Schakra fuhr die Krankenhäuser der Stadt ab, auf der Suche nach seinem Sohn.

Die Leiche wollte sie nicht sehen

„Am nächsten Tag kam ein Freund und sagte, dass Schadi unter den Trümmern ist, dass er noch lebt“, sagt sein Vater: „Über einen Schlauch haben sie ihn mit Sauerstoff versorgt.“ Wenig später stürzten die Trümmer über seinem Sohn zusammen. Angeblich hatte er da schon eine Hand verloren.

„Ich wollte die Leiche nicht sehen“, sagt Rassan Abu Schakra: „Wer will sein Kind schon so in Erinnerung behalten?“

Bilder im Familienalbum erinnern an bessere Zeiten.
Bilder im Familienalbum erinnern an bessere Zeiten.

© Thore Schröder

Hayat Abu Schakra kramt ein vergilbtes Fotoalbum aus den Kisten. Schadi mit Wuschellocken. Schadi in einem spitzenbesetzten weißen Taufkleid, ein Kruzifix haltend. Schadi mit dem Cocker-Spaniel Snoopy im Arm.

„Ich habe es geliebt, zu fotografieren“, sagt Hayat, „und wir haben hier immer irgendetwas gefeiert.“ Asche fällt von der dünnen Zigarette in den Schoß ihres schwarzen Kleids, sie merkt es nicht, im Nebenzimmer kreischt die Metallsäge.

Er muss lächeln, nur einmal im ganzen Gespräch

1975 sind Rassan und Hayat frisch vermählt in das Haus in Al-Hikmeh eingezogen, er war 21, sie 17 Jahre alt. Vor ihnen hat Rassans Großvater Elias hier gelebt. Der hatte für die Franzosen gearbeitet, für die Eisenbahngesellschaft. „Können Sie sich vorstellen, dass wir in diesem Land mal eine Eisenbahn hatten?“, fragt Rassan und muss zum ersten und einzigen Mal im Gespräch grinsen.

Der einstige Charme der Nachbarschaft ist noch zu erkennen, heller Sandstein, bunte Fensterläden. Hinter dem Haus der Abu Schakras steht ein knorriger Olivenbaum, vielleicht 200 Jahre alt, darunter picken Hühner in den Trümmern. Rassan Abu Schakra zeigt auf die Wohntürme, die ihr Viertel heute umzingeln: „Früher wurde für Schönheit gebaut, heute nur noch für Geld.“

Das Haus der Familie wurde schon im Bürgerkrieg schwer beschädigt.
Das Haus der Familie wurde schon im Bürgerkrieg schwer beschädigt.

© Thore Schröder

Dabei hatte auch ihr Haus seine besten Zeiten längst hinter sich. An der Vorderseite wurden Einschusslöcher mit grauem Putz verfüllt, eine Wand musste im Bürgerkrieg neu gemauert werden. „War ein Volltreffer, syrische Granate“, sagt Hayat. Die Armee des Nachbarlandes hatte ihr Viertel belagert. Sie erinnert sich daran, dass sie jede Nacht im Bunker schlafen mussten, unter der Kirche.

„Es war trotzdem eine gute Zeit. Wir haben gelebt, es gab Dollars“, sagt Rassan. Von morgens um sieben bis abends um elf sei er beschäftigt gewesen.

Zwei Tage Arbeit, der Lohn reicht gerade für Zigaretten

Die Kinder Schafi, Nancy und Schadi wurden im Bürgerkrieg geboren. Heute lebt Schafi in Melbourne, wartet dort aber noch auf Papiere, um wie sein Vater als Maler arbeiten zu können. „Er wollte jetzt zurückkommen, um zu helfen, hat aber kein Geld für das Ticket“, sagt Rassan. Nancy hat nördlich von Beirut in einem Restaurant gearbeitet, bis zur Coronakrise. Seitdem hockt sie zu Hause.

Schon seit Jahren sei es mit dem Land bergab gegangen, sagt Rassan: „Im letzten Jahr hatte ich gar keine Aufträge mehr.“ Außer einmal, da habe er zwei Tage lang geschuftet, für 100.000 Lira, rund14 Dollar. „Gerade genug für Zigaretten.“

Die Not war schon vorher da

Im Herbst brach die libanesische Wirtschaft zusammen, Millionen Libanesen protestierten für einen Politikwechsel und das Ende der Korruption. Doch statt besser wurde alles sehr schnell schlechter. Im Frühjahr kam Corona, dann die Hyperinflation, die Lira verlor 70 Prozent ihres Werts, die Libanesen verarmten massenhaft.

Die Druckwelle traf am 4. August eine bereits Not leidende Familie. Die Abu Schakras wurden von der Caritas unterstützt, auch bis auf Weiteres werden sie von der Hilfsorganisation Essenspakete erhalten. Außerdem hat die Kirchengemeinde Hayat einen Job als Parkplatzwächterin gegeben.

Schauki Khouri hilft dort, wo der Staat aufgegeben hat.
Schauki Khouri hilft dort, wo der Staat aufgegeben hat.

© Thore Schröder

Die Abu Schakras säßen jetzt auch noch auf Trümmern, wenn Schauki Khouri nicht wäre. Der 52-Jährige ist ein sportlicher Typ in Nike-T-Shirt, kurzer Hose und Trekkingschuhen. Er wurde im Libanon geboren, hat aber viele Jahre in den USA gelebt und dort als Systemingenieur in einer Mobilfunkfirma viel Geld verdient. Seine amerikanischen Freunde nennen ihn Sean. Zum Haus der Abu Schakras kommt er in seinem silbernen Range Rover vorgefahren.

Als Khouri das Wohnzimmer der Abu Schakras betritt, reißt Hayat ihre Hände gen Himmel: „Gott schütze dich! Gott gewähre dir ein langes Leben!“

Der Staat versagt. Er springt ein

Wegen seiner Tochter Elssa kam Khouri vor zehn Jahren zurück in die Heimat. „Am Tag nach der Explosion bin ich mit ein paar Freunden mit Schaufeln und Harken in die Stadt gefahren, um aufzuräumen“, erzählt er, „da habe ich gemerkt, dass wir noch mehr tun müssen.“ Also hat Schauki Khouri mit seinem Bruder und seiner Schwester eine Hilfsinitiative für die Beirutis gestartet, über die Spendenseite GoFundMe: „Wir haben bisher 78.000 Dollar eingenommen, inklusive unserer eigenen Zahlungen.“

Khouri blättert in einer Mappe, spricht über Excel-Sheets, darüber, wie man Bedürftigkeit überprüfen kann und wie er auf Facebook und Instagram die gute Sache bewirbt. Mehr als 30 Häuser hat er mit seiner Initiative bereits vor dem Einsturz gerettet, jeden Tag werden es mehr. Außerdem liefern sie täglich mehrere hundert Mahlzeiten aus.

"Ich bin voller Energie, aber auch voller Ekel"

Es sind Privatpersonen wie Schauki Khouri, die im Libanon die Aufgaben des Staates übernommen haben. Gemeinsam mit internationalen Hilfsorganisationen, den Kirchen oder Pfadfindergruppen räumen sie Trümmer weg, teilen Essen aus oder kümmern sich um den Erhalt von Wohnungen und historischen Gebäuden.

Doch die Aufgabe ist für Privatinitiativen kaum zu bewältigen: Schätzungsweise 8000 Bauten wurden von der Explosion betroffenen, allein 80.000 Kinder sind laut Unicef bei der Explosion obdachlos geworden. Der Gesamtschaden beläuft sich auf rund 15 Milliarden Dollar. „Ich bin voller Energie, aber auch voller Ekel“, sagt Khouri. „Auf Dauer braucht es in diesem Land natürlich Reformen, einen funktionierenden Staat.

Hayat Abu Schakra ist dankbar, dass Schauki Khouri der Familie hilft.
Hayat Abu Schakra ist dankbar, dass Schauki Khouri der Familie hilft.

© Thore Schröder

Rassan sagt, die Behörden hätten sich bisher nicht gemeldet: „Keine Entschuldigung, kein Beileid, keine einzige Lira.“ Nur Vertreter der Stadtverwaltung hätten ein paar Tage nach der Explosion Fotos gemacht und ihnen erklärt, dass sie nicht bleiben könnten in ihrem Haus. Gleichzeitig machen in Beirut Gerüchte die Runde, dass die Verwaltung mit der Politmafia kooperiert. Im Verdacht steht etwa die Frau des Parlamentspräsidenten, eines besonders gerissenen ehemaligen Warlords. Die Katastrophe als Gelegenheit, günstig an Baugrund zu kommen: So war es schon nach dem Bürgerkrieg.

"Die Räume werden stabiler sein als zuvor"

„Es ist gut, dass wir das hier jetzt erneuern“, zeigt Khouri auf das freigelegte Dach im hinteren Zimmer der Abu Schakras. „Das ist alles voller Asbest.“ Auch deshalb trägt er eine Maske mit N-95-Gütesiegel, teilchenfiltrierend, nicht nur gegen Corona. In einem ersten Schritt werden im Haus der Abu Schakras Träger unter die Decke geschraubt, ein Eisengebälk eingezogen und verschweißt, zuletzt entstehen neue Mauern und ein neues Dach. 6000 Dollar kostet das: „Die Räume werden stabiler sein als zuvor."

Rassan Abu Schakra ist dankbar für die Hilfe. Doch er weiß nicht, wo er 2500 Dollar auftreiben soll, um neue Wasserleitungen verlegen zu lassen, außerdem die Stromversorgung zu bezahlen, den Putz, Türen und Fenster: „Bald kommt doch schon der Winter.“

Womöglich, sagt Rassan Abu Schakra, werde die Lage durch Privatinitiative seiner Landsleute und internationale Hilfe jetzt tatsächlich besser. „Vielleicht ist das aber auch wieder nur eine Aspirin“, sagt er, „und danach wird alles noch schlimmer. Im Libanon weiß man das nie.“

Thore Schröder

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