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Thilo Rückeis

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Clusterkopfschmerzen: Schier zerrissen

Clusterkopfschmerzen sind unberechnbar. Die Patienten leiden unter quälenden Attacken, der Ratlosigkeit der Ärzte und oft auch unter dem Unverständnis der Mitmenschen.

Das Schönste ist, wenn der Sauerstoff zu wirken beginnt. Wenn der Schmerz erst ein bisschen schwächer wird - und dann auf einmal völlig verschwunden ist. Dieses Gefühl ist unbeschreiblich erleichternd und befreiend. Genauso, wenn eine Episode zu Ende geht: Erst treten die Attacken seltener auf, dann bleiben sie ganz weg. Und ich bin einfach nur glücklich, glücklich, glücklich. Ich vergesse den Schmerz, gehe wieder raus und genieße mein Leben. Bis zur nächsten Episode.

So geht das seit bald 20 Jahren, mittlerweile schon mein halbes Leben lang. Und höchstwahrscheinlich wird das auch bis zu meinem Lebensende so weitergehen.

Ich habe Clusterkopfschmerzen, zum Glück nur als Episodiker. Normalerweise werde ich zweimal im Jahr von ihnen heimgesucht, im Frühling und im Herbst. Dieses Mal kamen die Schmerzen zum ersten Mal auch im Sommer - und blieben gleich für ganze zehn Wochen, mit bis zu acht Attacken am Tag. Ich habe deshalb einen großen Teil dieses Sommers in meiner Wohnung verbracht. Allein, manchmal auch mit Besuch von Freunden. Die Sauerstoffflasche samt Atemmaske immer griffbereit. Falls der Schmerz kommt. Und das tut er während einer Episode regelmäßig, in Hochphasen alle zwei Stunden.

Netterweise kündigt er sich aber meistens vorher an, mit einem leichten Klopfen an der Schläfe. Während einer Episode bleibt der Schmerz immer auf einer Seite. Zwischen den Episoden kann er bei mir aber auch die Seiten wechseln, was eher selten ist. Nach dem ersten Klopfen jedenfalls habe ich ein paar Minuten Zeit, bevor er vollständig ausbricht. Bevor mein Kopf schier zerrissen wird von einem Schmerz, als würde mir jemand ein glühend heißes Messer in die Schläfe hinters Auge rammen. Und dann im Takt meines Herzschlages immer wieder zusticht. Wenn ich schnell genug anfange, reinen medizinischen Sauerstoff zu inhalieren und dazu auch noch ein wenig Glück habe, ist der schlimmste Spuk nach fünf bis zehn Minuten vorbei. Wenn ich Pech habe oder gerade keinen Sauerstoff zur Hand, kann er bis zu einer Stunde lang wüten, manchmal auch länger.

Die einzelnen Attacken können unterschiedlich stark ausfallen. Auf meiner persönlichen Schmerzskala von eins bis zehn sind sie aber meist mindestens eine Fünf: „notfalls gerade noch erträglich“. Bei einer Acht verliere ich meine Feinmotorik. Bei einer Neun bin ich nicht mehr ansprechbar. Und bei einer Zehn nicht mehr Herr meiner Sinne, rasend vor Schmerz und dem Wahnsinn nahe. Manche Clusterpatienten werden bei so extremen Schmerzen sogar ohnmächtig, das ist mir aber zum Glück noch nicht passiert. Ich renne stattdessen wie ein Irrer in meiner Wohnung herum, schreiend vor Schmerz, mit einem wie zweigeteilten Gesicht: die eine Hälfte völlig normal, die andere, hinter der der Cluster tobt, dagegen schwitzend und geschwollen, das Auge rot und tränend.

Das fühlt sich weder schön an noch sieht es schön aus. Hinzu kommt, dass ich im Laufe einer Episode auch zunehmend unkonzentriert, unleidlich und gereizt werde. Zum einen natürlich wegen der Schmerzen selbst. Zum anderen, weil ich in den schlimmsten Phasen kaum noch schlafe.

Denn einem Muster folgt der Cluster dann doch: Er schlägt besonders gerne dann zu, wenn man zur Ruhe kommt und gerade eingeschlafen ist. Dann ist man natürlich wieder wach.

Auch meine erste Attacke erwischte mich mitten in der Nacht, damals vor fast 20 Jahren. Ich hatte keine Ahnung, woher diese schrecklichen Schmerzen kamen, gegen die keine Schmerztabletten halfen. Mein Hausarzt auch nicht. Also hielt ich sie erst einmal aus. So ging das ein paar Jahre: Auf Schmerzepisoden folgten schmerzfreie. Doch dann wurden die Attacken nicht nur heftiger, sondern auch häufiger. Ein Neurologe diagnostizierte schließlich: Clusterkopfschmerzen. Und riet mir, weiter Schmerztabletten zu nehmen und mich ansonsten nicht so anzustellen. Mehr könne man da ohnehin nicht machen.

Einerseits hatte er damit natürlich recht: Clusterkopfschmerzen sind nicht heilbar. Nach etlichen Jahren, weiteren Neurologen und verschiedenen wirkungslosen Therapien, unter anderem mit Cortison, habe ich nun aber einen Arzt sowie Behandlungsmethoden gefunden, die mir bei Attacken zumindest teilweise helfen. Das ist zum einen der Sauerstoff, den ich während einer Attacke inhaliere - in Hochphasen eine Zehn-Liter-Flasche pro Nacht. Zum anderen nehme ich Triptane, spezielle Schmerzmittel, die im Gegensatz zu den herkömmlichen Mitteln durchaus wirken. Allerdings tun sie dies nicht so schnell wie der Sauerstoff. Ein weiteres Problem: Triptane sind ziemlich teuer - und werden deshalb nur in kleiner Stückzahl verschrieben. Anfangs bekam ich immer nur ein Rezept über zwei Dosen, das bedeutet für mich gerade mal acht Stunden Ruhe. Mittlerweile verschreibt mir mein Arzt zum Glück Sechserpackungen. Denn wenn ich während einer Episode zur Arbeit gehe, brauche ich pro Tag mindestens zwei Einheiten. Sonst wäre das gar nicht möglich.

Natürlich könnte ich mich theoretisch jede Episode krankschreiben lassen. Mehrere Wochen bis Monate pro Jahr. Aber das ist wirklich das Letzte, was ich will. Weil ich meinen Job sonst wahrscheinlich ziemlich schnell los wäre. Und weil mir dann vollends die Decke auf den Kopf fallen würde. Schließlich gibt es in einer Clusterepisode auch Phasen, in denen es mir relativ gut geht und sich die Attacken mit Triptanen relativ gut in Schach halten lassen. An solchen Tagen will ich dann auch nicht zu Hause hocken, sondern gehe lieber ins Büro. Wenn es dann doch schlimmer wird, kann ich aber auch von zu Hause aus arbeiten. Das ist bei meinem IT-Job zum Glück möglich und mit meinem Chef so ausgemacht. Er und die Kollegen wissen Bescheid über meinen Cluster. Und sagen wir so: Sie haben es akzeptiert - wirklich kapiert haben sie es aber nicht.

Es ist nicht unbedingt leicht, anderen zu vermitteln, was mit mir los ist. Die meisten Menschen zeigen zwar erst Verständnis, reagieren dann aber zunehmend unwirsch. Eine Frau, an der ich interessiert war, brach den Kontakt zu mir ab, nachdem ich ein paar Verabredungen absagen musste: Sie dachte, ich würde sie anlügen und die Kopfschmerzen nur als Ausrede erfinden. Selbst meine Familie hat den Cluster noch nicht so ganz verstanden. Zum Beispiel muss ich meinem Vater immer wieder erklären, warum ich bei manchen Festen Bier und Schnaps ablehne: Während einer Clusterepisode kann Alkohol bei mir als Trigger wirken, also eine Attacke auslösen. Weitere Trigger sind bei mir unter anderem Tomaten, Nüsse, grelles Licht - und Lösungsmitteldämpfe. In der Innenstadt an einem Nagelstudio vorbeizukommen, kann während einer Episode deshalb für mich zur Hölle werden, genauso wie tanken oder ein Baumarktbesuch.

Aber auch wenn ich die Trigger, die ich kenne, meide, bleibt der Cluster unberechenbar: Manchmal kommt er mir vor wie ein Folterknecht, der sein Opfer zwischendurch wieder zu Atem kommen lässt - nur damit er es hinterher weiterquälen kann.

Ja, das bedeutet eine enorme Einschränkung. Und ja, ich durchlebe auch immer wieder depressive Phasen. Was mir dann hilft, sind Freunde, die trotzdem zu Besuch kommen. Außerdem der Austausch mit anderen Clusterpatienten, online über Facebook-Gruppen. Und die Aussicht, dass die Episode irgendwann wieder vorbei ist - und der Schmerz plötzlich so weit weg und unwirklich, als wäre er niemals da gewesen.

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