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Regierung oder Opposition: Wohin geht die SPD?

© dpa/Michael Kappeler

Bundesparteitag der SPD: Wie die SPD-Basis über eine große Koalition denkt

Und sie streiten Seit’ an Seit’: Matthias Schubert hat sein Parteibuch verbrannt. Wieder mit der Union oder doch Opposition? Diese Frage scheint die SPD zu zerreißen.

Es gibt Sachen, die gehören sich nicht. Als Matthias Schubert die Flammen aus seinem Parteibuch züngeln sieht, glaubt er trotzdem, dass er das Richtige tut. Eben erst hat der SPD-Vorstand um Martin Schulz verkündet, dass er Sondierungsgespräche mit der Kanzlerin nicht führen will. Was für ein Narzissmus, denkt Schubert und setzt am 20. November ein „Zeichen“. So sieht er das. Mit seinem Smartphone filmt er das lodernd brennende Zeugnis seiner politischen Zugehörigkeit, das er auf ein Steinmäuerchen gestellt und so angezündet hat, dass sich das Feuer durch die Seiten nach oben frisst und ein bisschen auch quer durch seine Seele. Dann veröffentlicht er das Video auf Facebook.

Es gibt Sachen, die gehören sich nicht. Das eigene Parteibuch zu verbrennen, zählt für Andreas Thomas Klauner zweifellos dazu, SPD-Mitglied seit annähernd 30 Jahren. Als er von der Aktion seines Parteifreundes Schubert erfährt, kann er es kaum fassen. Für diese Art, seinen Parteiaustritt zu erklären, habe er „überhaupt kein Verständnis“.

Runderneuerung aus der Opposition heraus?

Dass einer von den beiden für eine mögliche große Koalition ist und der andere dagegen, spielt auch in ihren Konflikt hinein. Aber erstmal stehen Stilfragen im Vordergrund. Wer würde angesichts von Schuberts Fanal nicht an die Bücherverbrennung durch die Nazis denken, fragt Klauner. Und das wäre so ziemlich das Letzte, mit dem ein Sozialdemokrat in Verbindung gebracht werden wollte.

Die beiden Männer kennen sich. Sie sind seit langem in demselben Unterbezirk südwestlich von Berlin aktiv. Matthias Schubert war SPD-Vorsitzender in Potsdam-Mittelmark, während Andreas Thomas Klauner sein Schriftführer war. Danach trennten sich ihre Wege wieder, und nun haben ihre Überzeugungen sie an entgegengesetzte Enden des Pendels platziert, das in der SPD derzeit zwischen Regierungsbeteiligung und Opposition hin- und herschwingt.

Große Koalition Ja oder Nein – diese Frage scheint die SPD zu zerreißen. Soll sie sich abermals auf ein Bündnis mit Kanzlerin Merkel einlassen und einen Regierungsstil ertragen, der den Sozialdemokraten nichts an Strahlkraft übriglässt? Oder soll sie die Runderneuerung aus der Opposition heraus angehen und eine Minderheitsregierung tolerieren? Oder doch lieber Neuwahlen riskieren? Immer noch zu groß, um sich heraushalten zu können, steckt die SPD im 20-Prozent-Schlamassel fest und weiß nur: Ohne sie geht es nicht, mit ihr aber auch nicht richtig.

Nach dem Scheitern von Jamaika meint Schubert: „Jetzt sind wir dran.“

„Das Letzte“, sagt Klauner, „was Deutschland braucht, ist eine neue große Koalition.“

Welchen Kräften die SPD-Führung im Willy-Brandt-Haus in diesen Tagen ausgesetzt ist, erklärt ein brennendes Parteibuch da vielleicht am besten.

Denn was bringt einen dazu, zumal einen wie Matthias Schubert, Mitglied seit 1999, Verwaltungsrichter in Berlin, Vorsitzender der 13. Kammer und einer gewissen Besonnenheit verpflichtet, was also lässt ihn so sehr hadern, dass er, noch bevor es überhaupt um politische Inhalte geht, den Bruch vollzieht?

Andreas Thomas Klauner
Andreas Thomas Klauner

© privar

Parteieintritt mit Schröders Schwung

Ein paar Tage später im Café Buchwald in Moabit, unweit des Gerichts, sitzt derselbe Mann, mittelgroß mit lebhaftem Gesicht und Gesten, als wollte er beim Reden die Luft auf seine Seite ziehen, und er sagt, dass er im Beruf immer diszipliniert sein müsse. „Muss ich das jetzt auch im Hobby?“ Politik sei das einzige Hobby, das er habe.

Er sagt wirklich Hobby. Dazu muss man wissen, dass Matthias Schubert, gebürtiger Kölner und Wahlberliner geworden durch sein Jurastudium in den 80er Jahren, einer der Wortführer der brandenburgischen Fluglärminitiative ist. Seine Frau und er zogen mit den drei Kindern 1995 nach Kleinmachnow. Damals gab es für den Ausbau Schönefelds zum Großflughafen ein Planfeststellungsverfahren, dessen Folgen für den künftigen Wohnort der Jurist genau studierte. Sein Ergebnis: keine Gefahr. Die Flugrouten würden weit im Süden durch den Himmel ziehen. „Uns war die Ruhe wichtig.“ Sie kauften sich ein Haus in einer Nebenstraße, kein Verkehrslärm, und sagten sich bei den schon damals beachtlichen Bodenpreisen, „dann fahren wir eben kleine, alte Autos, um uns das Grundstück zu leisten“.

Dass die Flugrouten 2010 „überraschend“ geändert wurden, wie es hieß, entsetzte ihn. Nicht nur müssen die Schuberts seither fürchten, direkt überflogen zu werden; für den Kenner von Verwaltungsparagrafen stimmte vor allem etwas an der Verfahrensweise nicht. Seinem Einsatz für ein Nachtflugverbot verdanken die Kleinmachnower nun, dass die von ihm formulierte Verfassungsbeschwerde auch nach fünf Jahren noch bei Gericht liegt, will sagen: immerhin nicht abgewiesen worden ist.

In die SPD war Schubert eingetreten, nachdem Gerhard Schröder Kanzler geworden war und der Schwung dieses Regierungswechsels sich durch die erste verlorene Landtagswahl zu erschöpfen drohte. Und zwar wegen der pauschalen doppelten Staatsbürgerschaft, gegen die der hessische Wahlgewinner Roland Koch zu Felde gezogen war. Da war es für Schubert an der Zeit, aus stiller Sympathie für die sozialdemokratische Sache eine Rettungsmission zu machen.

Schon früh folgte er als Lokalpolitiker dem Prinzip, dass diejenigen, die von einer Sache am meisten betroffen sein würden, über diese auch befinden müssten. Der 60-Jährige kann sehr leidenschaftlich werden in dieser Hinsicht. Umso mehr verstörte ihn Martin Schulz' frühe Festlegung auf die künftige Rolle der SPD im Bundestag: „Wir gehen in die Opposition.“ Immerhin versprach Schulz den enttäuschten Anhängern am Wahlabend auch: Wie bauen die Partei neu auf; wir hören auf euch.

Matthias Schubert
Matthias Schubert

© Kai Müller

Entscheidung ohne die Basis

Am Montagnachmittag, einen halben Tag, nachdem die Jamaika-Sondierungen gescheitert waren, fand Schubert eine Mail des Parteivorstands in seinem Postfach: „hat einstimmig entschieden“, las er, keine große Koalition. Ein Spendenaufruf war auch beigefügt, weil das ja eher früher als später auf Neuwahlen hinauslief. Da dachte er: Nicht mit meinem Geld. „Ich wollte aussteigen.“ Zu groß war die Enttäuschung darüber, „dass der Parteivorstand schon wieder ohne Rücksprache mit der Basis eine so weitreichende Entscheidung getroffen hatte“.

Er dachte: „Ihr könnt's nicht, ihr wollt’s nicht.“ Und ging sein Parteibuch holen.

Dass sein drastischer Schritt andere Parteimitglieder verstören und ihren Sinn für Treue verletzen könnte, sah Schubert in dem Moment nicht. „Zum Glück, war ich ja dann Teil eines Ganzen.“

Hinter den Kulissen geriet etwas ins Rutschen. Ein großer Teil der brandenburgischen Sozialdemokraten könnte sich wohl zu einer Fortsetzung der großen Koalition durchringen, wie groß, darüber sind sich selbst intime Kenner des SPD-Innenlebens nicht im Klaren. Einer aus der Regierung spricht von der weit verbreiteten „Illusion“, nach der viele glaubten, „in der Opposition würden sie in einen Jungbrunnen fallen“. Die Jusos verfolgen diesen Kurs offensiv. Und Andreas Thomas Klauner tut es auch.

Der 52-Jährige ist gebürtiger Berliner, aufgewachsen im kleinbürgerlichen Lichtenrade. Sein Elternhaus sei konservativ gewesen und er zuerst durchaus davon geprägt. Davon und von der Mauererfahrung. „Da war dann ja Ende“, sagt er und erinnert sich, die Stadt als Jugendlicher auf dem Fahrrad durchmessen zu haben, bis immer irgendwo die Wand auftauchte. Eingesperrt fühlte er sich. Ein Jahr vor dem Mauerfall trat er in die SPD ein.

Wenn er heute aus seinem Küchenfenster blickt, ins Brandenburgische, wohin er mit seinem Mann Anfang der 90er Jahre gezogen ist, zuerst nach Beelitz, schließlich nach Lehnin, so hat er Wald vor sich. Und hinter dem Wald liegt der erste See. Dann wieder Wald. Felder. Mit Glück treffen sie dort niemanden, sagt der Bankkaufmann und IT-Experte. Mit dem Gehen ist das allerdings so eine Sache. Klauner hält sich mit Mühe aufrecht. Seit zwei Jahren leidet er unter Neuroborreliose, einer schweren Infektionskrankheit, meist ausgelöst durch Zecken.

Mitregieren wäre "Selbstmord"

Im Wohnzimmer steht ein breites, aufgeklapptes Schlafsofa. Darauf lässt er sich nieder. Seinen Job als Troubleshooter bei einem Bankendienstleister kann er derzeit nicht ausüben. Dafür ist Klauner auf Facebook aktiv. Neuerdings ziert ein #NoGroKo-Logo sein Profilbild, er stellt Sprüche der verstorbenen Regine Hildebrandt ins Netz, „Mit den Arschlöchern von der CDU koaliere ich nicht“, oder kreiert Slogans wie: „Weil es um deine Zukunft geht: Rote Karte für die GroKo.“

Er streckt sich auf seinem Sofa aus, erzählt von seinem Besuch der Regionalkonferenz in Moabit, die er auf sich genommen habe, man hatte ihm eigens einen Sessel in die Halle geschafft. Es ging um die Erneuerung der Partei. „Ohne diesen jetzt angestoßenen Prozess ist die SPD verloren, auf Dauer, denke ich.“ Nach der schlimmsten Wahlniederlage in ihrer Geschichte komme die Traditionspartei nicht umhin, die Gründe zu finden. Gleich wieder mitzuregieren, wäre „Selbstmord“, sagt Klauner.

Ob ihm das Bild der eigenen Partei wichtiger sei, als politische Positionen durchzusetzen?

Nein, sagt er und schiebt einen Arm unten den Kopf. Koalitionen der Mitte seien „staatsgefährdend“, sagt er. Die beiden größten Parteien würden auf der Suche nach Kompromissen austauschbar, was Politikverdrossenheit fördere. „Es macht keinen Sinn, sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu einigen, fast nichts umzusetzen, und einfach nur vor sich hinzuregieren. Das braucht niemand.“

Klauner hat wenig Aussicht, je wieder im Vollbesitz seiner Kräfte zu sein. Das kann er akzeptieren, die Schwäche der SPD nicht. Er denkt sich, dass eine Minderheitsregierung – „diesen Mut müsste die Union jetzt haben“ – ziemlich bald durch ein Misstrauensvotum gegen Merkel abgelöst würde. Der Glyphosat-Krach zeige bereits, wie es um Merkels Machtbasis in der Union bestellt sei.

Und danach?

Der Traum von einem Bündnis links der Mitte lässt sich nicht mehr verwirklichen. Dafür sind die Akteure rechts von ihr zu stark geworden. Die SPD hat künftig nur noch eine Machtoption.

Matthias Schubert, der Jurist, sagt, es wäre fahrlässig, sie nicht zu ergreifen.

Ja, auch er kennt das unter anderem von Klauner vorgebrachte Argument, dass die Union „den Koalitionsvertrag mehrfach gebrochen“ habe. Und wenn schon. Macht das nicht jeder in seinem Leben mal durch, dass etwas nicht funktioniert, für das man sich eingesetzt hat, fragt er. "Nur die SPD stellt sich hin und sagt: Nicht mit uns." Für ihn ist der „Kontrollverlust“ des Staates auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise für die 500.000 an die AfD abgewanderten Stimmen verantwortlich. Die SPD hätte sich zu ihrer tief verwurzelten Ordnungsliebe bekennen und Merkel entschiedener widersprechen müssen. Wie es Seehofer getan hat.

Klar, dass ein Richter auf die Einhaltung von Gesetzen pocht. Doch eigentlich will er auf folgendes hinaus: Seit den Hartz-IV-Reformen reagiert die SPD defensiv, um wieder zu den Guten zu gehören, moralischen Kredit zurückzuerlangen. Sie lasse sich vom linken, akademischen Milieu moralisch unter Druck setzen, obwohl dessen intellektuelle Diskussionen niemand fürchten müsse. Viel gefährlicher sei das Unrechtsbewusstsein derjenigen, die in der Flüchtlingskrise 2016 meinten: Das wollen wir nie wieder sehen! Das seien dieselben Leute, die wegen des von der SPD zu niedrig angesetzten Schonvermögens fürchten müssten, dass ihnen der Staat in der Not erst zu Hilfe komme, wenn sie alles verschleuderten, was sie sich an Lebensleistung erarbeitet haben.

Und wenn das jetzt verärgert klingt, ist es so gemeint. Schubert könnte verzweifeln am paternalistischen Gehabe der Arbeiterpartei, in der sie sich ,Genossen' nennen, aber die Richtung von oben herab dekretiert wird. Sie schafften es nicht mal, einen eigenen Server im Willy-Brandt-Haus aufzustellen, über den die Mitsprache der Mitglieder online organisiert werden könnte. Von unten geht nichts, sagt Schubert.

Reue über den Parteiaustritt

Vor ihm auf dem Spitzendeckchen des Cafés liegt der neue Leitantrag des Parteivorstandes. Er liest eine Stelle vor, von ihm mit Fragezeichen markiert: „Auf den tatsächlichen und gefühlten Kontrollverlust des Staates haben wir keine ausreichende Antwort gegeben.“

Er blickt auf, und was er in diesem Moment denkt, ist schwer zu durchschauen. Eine Hälfte seines Gesichts scheint amüsiert zu sein, die andere erbost. „Sehen Sie, was ich meine?“, fragt er, „,tatsächlich’ oder ,gefühlt’. Das ist die Überheblichkeit, die sich weigert, Fakten zur Kenntnis zu nehmen.“

Schuberts Austritt ist mittlerweile von der Partei offiziell in einem Brief an ihn bestätigt. Allerdings hat ihn Reue ergriffen. Sowieso wollte er nie der Racheengel sein, der die Partei schädigt. "Es ging um eine Beziehung", sagt er - und will wieder rein. Einerseits weil er als gewählter Gemeindevertreter und Mitglied des Bauausschusses in Kleinmachnow seinen Platz fairerweise räumen müsste; andererseits weil der Bundesvorstand sich auf ihn zubewegt habe. Jetzt, sagt er, „ist es ja auf einem guten Weg“.

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