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In "Oh Boy" spielt Tom Schilling die Rolle des Niko Fischer, der mit Ende zwanzig an der Welt verzweifelt.

© dpa

Studentenfilmfestival Sehsüchte: Exzesse auf der Leinwand

Das Studentenfilmfestival „Sehsüchte“ startete vergangenen Mittwoch mit lebensbejahenden Filmen in Babelsberg. Neben "Exzess", "The Mass of Man" oder "Nashorn in Galopp" ist auch der Kultfilm "Oh Boy" von Jan-Ole Gerster zu sehen.

Der Mann schwitzt. Drei Minuten ist Richard zu spät in die Job-Agentur gekommen. Er entschuldigt sich bei seiner Sachbearbeiterin, die seine Verspätung gar nicht bemerkt hatte. Doch sie setzt nun ein Schreiben auf, dass wegen wiederholter Verspätung seine Bezüge für 14 Tage gekürzt werden, und wenn er nicht unterschreibt, sogar für vier Wochen. Der 55-jährige Arbeitssuchende versucht auf die Absurdität der Strafmaßnahme hinzuweisen – erfolglos. Seine Existenz steht auf dem Spiel, er unterschreibt widerwillig, der Sachbearbeiterin ist das alles egal. Doch plötzlich nimmt die Sache eine andere Wendung. Von hinten stürmt ein Amokläufer in das Büro, schießt die Jobvermittlerin mit einer selbstgebauten Nagelpistole nieder, tackert sie geradezu am Boden fest. Richard ist entsetzt, will fliehen. Doch wie in Trance torkelt er zum Schreibtisch zurück, zerknüllt den Strafbefehl und zieht den Stecker aus dem Computer. Erst dann geht er.

„The Mass of Man“ von Gabriel Gauchet, einer der Filme, die das diesjährige Studentenfilmfestival „Sehsüchte“ eröffneten, läuft in der Fokus-Reihe „Exzess“ (Freitag 21 Uhr HFF-Kino1; Samstag 19 Uhr Rotor-Kino Studiogelände Babelsberg). Ein Exzess allemal, hier läuft etwas komplett aus dem Ruder, erst einmal die Ungerechtigkeit der unbeirrbaren Sachbearbeiterin, dann die vermessene Rache des unbekannten Amokläufers. Es bleibt Richards Erfolg, dass er am Ende trotz der dramatischen Ereignisse doch einigermaßen unbeschadet aus der Sache herauskommt.

Ganz andere Exzesse stecken hinter der Story von inkedKenny in dem Film „Through the lens of inkedKenny“ ( Samstag 19 Uhr Rotor-Kino). Kenny ist ein Schwuler aus Montreal. Der Fotograf kennt die Homosexuellen-Szene der Stadt sehr genau. In dem Film fotografiert er „Muskelbären“, das sind bärtige Muskelprotze aus der Szene, tätowiert, gepierct und am besten auch stark behaart. Kenny erklärt, was hinter der Mode der Muskelbären steckt. Sie alle sind HIV-positiv. In den vergangenen Jahrzehnten mussten HIV-Positive so starke Medikamente nehmen, dass sie stark abmagerten. Heute ist das nicht mehr so, die vielen Pillen, die sie zum Überleben schlucken müssen, hindern sie nicht daran, sich enorme Muskelpakete anzutrainieren. So sehen sie kerngesund aus. Und fühlen sich offensichtlich auch so. Die Zeiten, in denen Kenny mit seiner Mutter nur durch die Tür sprechen durfte, sind vorbei – zum Glück. Ein hoffnungsvoller Film, den zwei Frauen (Denize Galiao und Marie Elisa Scheidt) in bewegte Bilder umgesetzt haben.

Inspirierende Bilder hat auch der HFF-Kameramann Johannes Louis für den Film „Nashorn im Galopp“ von Erik Schmitt (bekannt als Kamerapferd) gefunden. Der Film (Samstag 19 Uhr, Rotor-Kino) ist eine formal verspielte Ode an Berlin, die schließlich in eine herzerwärmende Beziehungsgeschichte mündet. Bruno sucht so etwas wie die Seele der Stadt und findet schließlich Vicky, die der Anziehung dieser Stadt gerade wieder zu entkommen versucht. Der Film spielt mit den Möglichkeiten der neuen Medien, hier spiegelt sich wider, was HFF-Vizepräsident Martin Steyer zur Eröffnung sagte: „Die Änderungen der Aufnahmetechnik wirken sich auf die Erzählweise des Films aus.“ Innovation und Zukunftstechnik sind Schwerpunkte des diesjährigen Festivals.

Angenehm altmodisch zeigte sich vor diesem Hintergrund dann der Animationsfilm „Aux gambettes gourmandes“ von Clémence Bouchereau (Freitag, 20 Uhr Rotor-Kino). Eine grafische Erzählung einer Amour fou, Mann und Frau sitzen sich in einem Café gegenüber, mit dem Blickkontakt beginnt die Anziehung, die sich dann aber nur in der Fantasie der beiden entspinnt. Ein grafisches Meisterwerk, das alle Computerspielerei alt aussehen lässt. Ein Exzess der künstlerischen Gestaltung.

Wenig exzessiv, vielmehr etwas verhalten fiel die Eröffnung des 42. Studentenfilmfestivals am Dienstagabend im Rotor-Kino auf dem Studiogelände aus. Vor dem zugigen Hintereingang sammelte sich die keineswegs ausufernde Besucherschar, kein Vergleich zu den glamourösen Eröffnungsabenden, die sich vor zehn Jahren am Haupteingang des Rotor-Kinos schräg gegenüber der heutigen Marlene-Dietrich-Halle abgespielt hatten. In diesem Jahr verlief die Eröffnung sehr glatt, vielleicht etwas zu glatt. Weder die offiziellen Ansprachen noch die Filme fielen aus dem Rahmen, keine technischen Pannen und kein Skandal. Vielmehr durchliefen die Moderatoren einen gut geplanten Parcour.

Es war auch das erste Mal seit der Wiederbelebung der ehemaligen FDJ-Studentenfilmtage als „Sehsüchte“ in den frühen 1990er-Jahren, dass die Eröffnung ohne die schon legendären drei Wünsche des in Pension gegangenen Altpräsidenten Dieter Wiedemann auskommen musste. Interimspräsident Martin Steyer sprach von der Zukunft des Films, die neu gewählte Präsidentin Susanne Stürmer hat ihr Amt noch nicht angetreten.

Wie der Ortswechsel des Festivals vom lange angestammten Thalia-Kino in die Filmstadt vom Publikum angenommen wird , muss sich nun bis Sonntag noch zeigen. Ein paar ganz heiße Filmtipps für das Wochenende hatte Manuel Tanner von der Programmgruppe bereits jetzt. Nicht versäumen sollte man den mittlerweile zum Kultfilm avancierten Streifen „Oh Boy“ von Jan Ole Gerster. Der Darsteller Tom Schilling hat sich für die Aufführung am Samstag (21 Uhr Rotor-Kino) angesagt. Wer ihn noch nicht gesehen hat, sollte unbedingt auch den HFF-Film „Am Himmel der Tag“ von Pola Beck anschauen. Das schwierige und traurige Thema der Totgeburt wird hier lebensbejahend und mit viel Zuversicht gezeigt.

Aktuelle Videos vom Filmfestival gibt es jeden Tag unter pnn.de.

Jan Kixmüller

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