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Seit fast 70 Jahren unberührt: die Auenlandschaft im Unteren Odertal.

© Oliver Gerhard

Brandenburg-Magazin 2019: Ein Schilf wird kommen

Verschlungene Wasserwege, ein geheimnisvolles Wrack, riesige Biberburgen: Beim Paddeln im Unteren Odertal taucht der Mensch in die einzigartige Auenlandschaft

Der Schwan ist so erschrocken wie wir: Als unser Kanadier um eine Schilfinsel gleitet, steht er plötzlich rechts von uns auf seinem breiten Nest, richtet sich energisch auf und breitet die Flügel aus, um noch größer zu wirken. Zum Glück hatte Frauke uns gewarnt: "Ihr müsst ganz vorsichtig links an ihm vorbeifahren. Wenn er sich bedroht fühlt, warnt er euch mit einem Fiepen. Wenn ihr das ignoriert, greift er vielleicht an."

Ach Gott, jetzt lässt er das Fiepen hören - die Vorstufe zum Fauchen. Wir sind so eingeschüchtert, dass wir den wilden Moorbewohner am liebsten weiträumig umfahren würden. Doch das ist leichter gesagt als getan, schließlich hat der ­Höckerschwan sein Nest direkt neben die ­schmale Fahrrinne ­gesetzt. Mit langsamen Bewegungen stechen wir die Paddel tief ins Wasser, schieben uns Meter für Meter vorbei ... Geschafft!

Kurz darauf verschluckt uns ohnehin wieder dichtes Grün: Die Pflanzen stehen hier so hoch, dass Mandy am Bug immer wieder kurz aufstehen muss, um Ausschau zu halten, wo am ehesten ein Durchkommen ist. Von den Paddlern in den Kanadiern hinter uns ragen nur die Köpfe aus dem Schilf - es sieht aus, als würden sie durch ein grünes Meer schweben.

Das Vogelparadies

Ein dicker Brei aus Algen, Wasserfarn, Entengrütze und Seerosen lässt das Paddeln hier zu einem Staken werden. Assoziationen an afrikanische Landschaften steigen auf, Bilder von Einbäumen im Okavango-Delta. "Ich musste zuerst an den Oranje-Fluss in Südafrika denken", sagt Kanuführerin Frauke Bennett. "Man wundert sich nur, wo die Nilpferde alle geblieben sind." Um uns wogt ein einsames Meer aus Schilf.

Unsere Freizeitgruppe steckt tief im "Zwischenoderland" im Internationalpark Unteres Odertal: auf deutscher Seite der gleichnamige Nationalpark, auf polnischer ein 6000 Hektar großes Landschaftsschutzgebiet. Anfang des 20. Jahrhunderts legte man hier zum Hochwasserschutz ein Poldersystem an, mit Deichen, Brücken und Schleusen.

Während des Krieges weitgehend zerstört, setzten die Deutschen vieles danach wieder instand, in Polen ergriff dagegen die Natur Besitz von der Auenlandschaft. "Es ist eines der größten zusammenhängenden Moorgebiete Europas", sagt Frauke. "Hier gibt es schon seit mehr als 70 Jahren so gut wie keine menschlichen Einflüsse mehr."

Einem brütendem Schwan kommt man am besten nicht zu nah.
Einem brütendem Schwan kommt man am besten nicht zu nah.

© Oliver Gerhard

Fast 150 Vogelarten brüten in der Region, darunter der Wachtelkönig und die seltenen Trauer­seeschwalben. Im Frühjahr und Herbst fliegen zigtausende Enten, Gänse und Kraniche ein, und im Winter kann man die Rufe der Singschwäne hören. Mehr als 400 Pflanzenarten bilden ein seltenes Ökosystem. Das älteste Exemplar ist der Schachtelhalm - ein Gewächs aus dem tropischen Klima der Urzeit.

Frauke Bennett gehörte zu den ersten, die das Zwischenoderland 2008 nach Polens Beitritt zum Schengener Abkommen erforschten: "Ich war fasziniert von der einzigartigen Landschaft und dachte, man muss den Menschen zeigen, wie eine naturbelassene Flussaue aussieht. So gingen die Kanutouren los. Aber vorher habe ich mich ins Labyrinth der Wasserwege gewagt - nur wenige sind befahrbar, und Schilder gibt es bis heute nicht." Kein Wunder bei rund 200 Kilometern Länge.

Die Wurzeln der Paddelführerin liegen im Südwesten Deutschlands - und im Süden Afrikas, wo sie lange als Reiseleiterin unterwegs war. Vor 25 Jahren entdeckte die studierte Geografin diese Ecke der Uckermark und zog in ein Dörfchen nahe der Oder: "Es war sehr leicht, in Kontakt zu kommen", erinnert sie sich. "Als ich neu auf dem Dorf war, kamen die Leute nach und nach am Gartenzaun vorbei und man kam schnell ins Gespräch." Auch Mescherin, wo die von Frauke Bennett angebotene Kanutour beginnt, scheint aus der Zeit gefallen: An die steilen Oderhänge schmiegen sich die Untere und Obere Dorfstraße, dazwischen Einfamilien­häuser, bunte Gärten, eine kleine Kirche. Wer den Abzweig von der Bundesstraße verfehlt, findet sich schnell in Polen wieder - im quirligen Städtchen Gryfino. Die Grenze verliert hier ihre Bedeutung, auch in Mescherin stammt inzwischen fast ein Fünftel der 800 Einwohner aus dem Nachbarland.

Hier wächst etwas zusammen

"Es ist schön zu sehen, dass hier wirklich etwas zusammenwächst, dass Kinder aus Stettin hier zur Schule gehen, um Deutsch zu lernen", sagt Bennett. "Auch die Älteren kommen damit klar, denn viele hier stammen ja selbst als Kriegsvertriebene von der anderen Seite der Oder und wissen, wie es sich anfühlt, wenn man woanders hingeht." Davon profitieren auch die Flüchtlinge der Neuzeit, die hier nach Bennetts Erfahrung gut integriert werden.

Um ihre Faszination für die Region zu teilen, führt die 50-Jährige auch Bildungsreisen durch. Dann diskutiert sie mit den Teilnehmern über wirtschaftliche Entwicklung, die spannende Geschichte der Grenzregion und den richtigen Umgang mit der Natur: "Echte Wildnis haben wir in Deutschland nicht mehr. Im Zwischen­oderland kann man wilde Tiere noch so beobachten, wie sie natürlicherweise leben würden."

Doch zu Beginn der Tour ist die Zivilisation noch präsent: Camper sitzen am Ufer beim Mittagessen, weiße Häuschen schimmern zwischen den Bäumen am Ufer des Mescheriner Sees durch, einem Altarm der Westoder. In Fraukes Kanadier wuselt ein vierbeiniger Passagier umher: Babette trägt Schwimmweste und bringt eine Menge Kanuerfahrung mit. Die Terrierhündin der Paddelführerin steht mit den Vorderpfoten auf dem Bootsrand, verfolgt flüchtende Blesshühner mit aufmerksamen Blicken und quittiert jedes Gelächter in der Gruppe mit einem Kläffen. "Still, Babette!", ruft Frauke dann.

Frauke Bennett führt Kanugruppen durch die Wasserlandschaft an der polnischen Grenze. Immer dabei: Hündchen Babette.
Frauke Bennett führt Kanugruppen durch die Wasserlandschaft an der polnischen Grenze. Immer dabei: Hündchen Babette.

© Oliver Gerhard

Bald gleiten wir auf einen rostigen Stahlkoloss zu, einen alten Oderkahn, eingeschlossen von Schilf und Seerosen, mit Einschusslöchern im Rumpf. "Im April 1945 steuerte er mit Geheimauftrag nach Berlin und wurde hier manövrierunfähig geschossen", sagt Frauke. Seine Fracht wurde erst nach dem Krieg entdeckt, als die Dorfjungs nach Schätzen tauchten und eine Filmrolle fanden, das erzählte einer von ihnen. "Als sie die Bilder zu Hause betrachteten, fanden sie nicht den erhofften Spielfilm, sondern Aufnahmen von U-Booten und winkenden Mannschaften." In der russischen Kommandantur, wo sie ihren Fund schließlich abgaben, fand man den Film wesentlich spannender: Taucher entdeckten an Bord ein Verzeichnis aller deutschen U-Boot-Häfen, nach denen die Alliierten während des Krieges gesucht hatten. "Heute ­gehören die Kähne zum Nationalpark", sagt Frauke lachend. "Im Bug brüten die Schwalben und im Inneren übernachten Fledermäuse."

Moderne Kriegsgeschichte

100 Meter weiter bildet ein verwittertes Deichtor eine Bresche im Schilf, daneben ein polnischer Grenzpfahl: die Pforte ins Zwischen­oderland. Als wir hindurchgleiten, hallen unsere Stimmen wie in einer Grotte: ein fünf Meter breiter Schilfkanal. Die Stille ist überwältigend - kein Automotor, kein Mensch, kein Schiffshorn. Dann schärft sich das Gehör für andere ­Klänge: das Zwitschern der Schwalben, die überm Wasser Insekten jagen, das Plätschern, wenn die Tropfen vom Paddel perlen, das Quaken der Frösche im Dickicht, der Schrei eines Seeadlers in der Ferne. Vor allem aber das nicht endende Rauschen im Schilf. "Das ist die wichtigste Pflanze hier", erklärt Frauke. "Es wächst bis zu vier Meter im Jahr, nimmt sich alle seine Nährstoffe aus dem Wasser und reinigt es dabei." Im Winter stirbt das Schilf ab und bildet einen Teppich, der nie ganz verrottet und langsam höher wächst - so entstand im Laufe von 70 Jahren diese Moorlandschaft. "Sie schützt Stettin vor dem Hochwasser. Das Moor saugt es auf wie ein Schwamm."

Gemächlich gleiten wir weiter. Um Geschwindigkeit geht es heute nicht. Nicht um Sport, und eigentlich auch nicht ums Paddeln. Am Ende des Tages werden wir zwölf Kilometer zurückgelegt haben - in sechs Stunden! Nichts zum Angeben unter Sportsfreunden. Doch dafür wartet alle paar Meter ein Fund oder ein Erlebnis: Wie fühlen sich Posthornschnecken an? Woran erkennt man Schwanenblumen? Und wie klingt der Ruf der Trauerseeschwalbe? Frauke passt auf, dass alle respektvollen Abstand zur Tierwelt halten: Kein Lebewesen soll gestört, kein Vogel aufgescheucht werden.

Bei gemächlicher Geschwindigkeit bleibt Zeit, Flora und Fauna zu bewundern.
Bei gemächlicher Geschwindigkeit bleibt Zeit, Flora und Fauna zu bewundern.

© Oliver Gerhard

Plötzlich ein lautes Platschen. Hund ­Babette braucht eine Abkühlung und ist kurzerhand über Bord gesprungen. Schon zuvor hatte sie hin und wieder ihren Kopf ins Wasser gesteckt, doch jetzt schwimmt sie, durch eine lange Leine gesichert, ein paar Minuten hinter dem Kanadier her, bis Frauke sie am Griff der Schwimmweste wieder an Bord hievt.

Ein brauner Hügel schiebt sich ins Bild, fast acht Meter breit und drei Meter hoch. Was auf den ersten Blick wie lose übereinandergeworfenes Holz aussieht, erweist sich als gigantische Biber­burg. "Das Wasser kann hier innerhalb eines Tages auch mal um einen halben Meter ansteigen. Die Nager müssen deshalb höher bauen als woanders", erklärt Frauke. Rund um den Bau mit der Wohnhöhle im Inneren blüht es wie in einem Bauerngarten: die purpurfarbenen Stängel des Blutweiderichs, die Ranken von wildem Hopfen, dazwischen bittersüßer Nachtschatten, und im Wasser rötliche Blätter. "Das ist Sumpfkohl, den mag der Biber gerne, aber er schmeckt auch hervorragend zu Quark".

Im Reich der Nager

Und sie weiß noch mehr. "Man könnte den Biber auch einen Gärtner nennen. Wenn er unterwegs eine leckere Pflanze entdeckt, buddelt er sie aus und stopft sie vor seiner Burg wieder rein." Wir stellen uns den Biber vor, wie er morgens satt vor seiner Burg sitzt und sich des Lebens freut. Wer ihn live erleben will, muss ­allerdings früh aufstehen: zwischen vier und fünf Uhr morgens ist die beste Zeit.

Dann, nach drei Stunden Fahrt, der erste Gegenverkehr: Zwei Frauen mit riesigen türkisen Hüten paddeln vorbei. "Na, habt Ihr die Kanutenrolle schon geübt?", ruft eine. Kurz darauf folgen polnische Jugendliche in neonfarbenen Plastikkanus, die verzweifelt versuchen, Kurs zu halten.

Eine kleine Kahnschleuse entlässt uns auf die offene Ost-Oder. Wind bläst, Wellen schlagen, am anderen Ufer leuchten die Häuser von Gryfino. Mit vereinten Kräften erreichen wir das andere Ufer und gleiten in den Sand eines kleinen Strandbads, neugierig beobachtet von drei Frauen, die hier gerade einen dicken Pudel baden. Jugendliche mit studiogestählten Oberkörpern und verspiegelten Sonnenbrillen lassen sich im Gras bräunen, eine Familie lagert rund um einen Alu-Grill. Babette genießt die Aufmerksamkeit der polnischen Hunde, die um sie herumscharwenzeln.

Zurück durchs Zwischenoderland. Wirklich alle 200 Meter steht ein mächtiger Biberbau, für die Nager ist das eine ungewöhnlich hohe ­Dichte. Kormorane beäugen uns von einem abgestorbenen Baum herunter, ein Graureiher steht regungslos am Ufer, Seeadler kreisen, und einmal blitzt das Gefieder eines Eisvogels im Flug auf. Weiteren Schwänen kommen wir jedoch lieber nicht nahe - man muss das Glück ja nicht herausfordern.

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