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Vaclav Havel: Keiner tat so viel für die tschechisch-deutsche Aussöhnung

Er wollte erneuern – und verlangte, sich dafür anzustrengen. Eine Haltung, die ihn unbequem machte, auch für seine Anhänger. Aber sie hinderte ihn nie daran, pragmatisch zu handeln.

E r war das Exempel einer politischen Existenz, die man so nicht wieder sehen wird: Der Dichter als moralische Instanz, der bürgerliche Intellektuelle auf dem (Präsidenten-)Thron. Die Revolution, die 1989/90 Europa ein neues Gesicht gab, fand in Vaclav Havel eine ihrer herausragenden und überzeugendsten Verkörperungen. Wie kaum ein anderer steht das Sinnbild der Revolution in Prag, der „samtenen Revolution“, die Timothy Garton Ash, der Historiker dieser großen Wende der europäischen Geschichte, die „wunderbarste all der mitteleuropäischen Revolutionen von 1989“ genannt hat, für eine Zeit, in der Träumer die eigentlichen Realisten waren.

In den historischen Dezember-Tagen des Jahres 1989, in denen sich Zehntausende allabendlich auf dem Prager Wenzelsplatz versammelten, um mit ihren Schlüssebünden sozusagen das Regime hinwegzuklirren, war er die unbestrittene Hauptfigur. Damals stand er, eine kleine, schmächtige Gestalt, auf dem Balkon und ermutigte die Tschechen, die ihrerseits in der ganzen Stadt die kleinen Herzen an die Wände malten, die Zeichen des friedlichen Widerstandes waren. Daneben stand die Forderung: „Havel na hrad“, Havel auf die Burg.

Dort hat er dann dreizehn Jahre als Präsident erst der Tschechoslowakei, dann, nach der Teilung des Landes 1993, der Tschechischen Republik amtiert – eine große Gestalt, eine politisch-moralische Instanz. Nicht immer unangefochten im eigenen Land, in dem er in einer permanenten Auseinandersetzung mit Vaclav Klaus, seinem Antipoden und Amtsnachfolger stand, aber verehrt im ganzen neuen Europa. Es war eine sehr persönliche Präsidentschaft, begleitet von einem Hauch Exzentrik, wozu auch beitrug, dass ein Mitglied der europäischen Hocharistokratie, Fürst Schwarzenberg, ein enger Mitarbeiter war. In gewissem Sinne blieb er der „schüchterne Präsident“ – so der Titel einer Biografie –, der nicht verbarg, dass das Amt wie die Politik nicht gerade sein Lebensziel gewesen war.

Diese Rolle wurzelt in seiner Person und seiner Biografie. Aufgewachsen in einer großbürgerlichen Familie, die nach dem kommunistischen Machtantritt enteignet und in ein inneres Exil verdrängt wurde, verband ihn der familiäre Hintergrund mit der ersten tschechoslowakischen Republik, die freiheitlich und europäisch angelegt gewesen war. In der Nachkriegs-Tschechoslowakei machte ihn das zum „bourgeoisen“ Außenseiter. Was hieß: kein Gymnasium, Abitur auf der Abendschule, dann Bühnenarbeiter, schließlich Dramaturg und Hausautor am „Theater am Geländer“. Dort entstand dann der Dramatiker Havel: Autor von Stücken, die die Mittel des absurden Theaters auf die realsozialistische Gegenwart richteten. Er gewann bald internationales Renommee. Sein Durchbruch als Dramatiker, „Das Gartenfest“, 1963 uraufgeführt, eine Persiflage auf den Funktionärsjargon, hatte übrigens seine deutschsprachige Erstaufführung in West-Berlin, 1965 im Schillertheater.

Dieser Herkunft wegen gehörte Havel auch nicht eigentlich in die Reihen der Reformkommunisten des „Prager Frühling“ 1968. Als Wortführer der nichtkommunistischen Intellektuellen unterstützte er Dubcek, sah aber deutlich dessen Grenzen. Erst in der Mitte der 70er Jahre, nach der Niederschlagung des Reformkommunismus, brach er aus seiner Theaternische aus. Anlass war die Verhaftung der Rockgruppe „Plastic People of the Universe“. Auf sie reagierte die „Charta 77“, die er gemeinsam mit dem Philosophen Ja Patocka verfasste. Mit ihr entstand eine Menschen- und Bürgerrechtsbewegung, die zum Kern der tschechischen Opposition wurde. Sie trug ihm die erste Gefängnisstrafe ein – noch auf Bewährung. Zwei Jahre später wurde er wegen seiner bürgerrechtlichen Aktivitäten zu vier Jahren Gefängnis verurteilt.

Es waren diese Erfahrungen, die den bekannten Theaterautor zum nicht weniger bekannten politischen Dissidenten machten. Doch seine Motive waren stets moralisch, seine Leitidee wurde die von ihm formulierte, immer wieder durch sein eigenes Verhalten beglaubigte Maxime des „Lebens in der Wahrheit“: kein politisches Programm, schon gar keine Weltbeglückungsideologie, sondern der immerwährende Versuch, vor sich selbst und dem Ringen um Wahrhaftigkeit zu bestehen. Mit dem hohen Postulat hat er die Dissidentenbewegungen in ganz Ostmitteleuropa inspiriert und gestärkt.

Es begründet Havels einsamen Rang innerhalb der europäischen Wende und ihrer Protagonisten, von Gorbatschow bis Walesa, dass er diesen Prozess vor allem als moralisch-geistige Anstrengung verstand. Das machte ihn unbequem, auch für seine Anhänger, mischte in seine politischen Existenz einen existenziellen Zug, obwohl es ihn zugleich nicht daran hinderte, pragmatisch zu handeln. Vielleicht wurde er zu einer säkularen Gestalt, weil er wie kein anderer Moral und Macht verband, und deshalb für den Gedanken der Bürgergesellschaft und einer „unpolitischen Republik“, die beide als Vision die friedlichen Revolutionen begleiteten, ja beflügelten, zur Versprechung der Möglichkeit ihrer Verwirklichung wurde.

In dreizehn Präsidentenjahren hat Havel die geopolitische Situation seines Landes und Ostmitteleuropas nachhaltig beeinflusst. Er hat ihre mitteleuropäische Orientierung ergänzt durch die Öffnung gegenüber Westeuropa und den Vereinigten Staaten. Als heimlicher Außenminister betrieb er den Beitritt seines Landes und der Nachbarstaaten Polen und Ungarn zur Nato und zur EU. Aber Havel unterstützte auch die Unterstützung der ostmitteleuropäischen Staats- und Regierungschefs für den Irak-Krieg der USA und erregte damit nicht geringe Irritation. Wie er überhaupt ein Staatsmann war, der immer für ungewöhnliche Äußerungen und Wendungen gut war.

Die Deutschen haben besonderen Anlass, Havels mit Dankbarkeit zu gedenken. Denn keiner hat sich so wie er für die tschechisch-deutsche Aussöhnung eingesetzt. Er durchbrach in seinem Land den Bann der Verdrängung der Vertreibung, indem er sie öffentlich als „moralisch verwerflich“ bezeichnete, obwohl er sich im Klaren darüber war, was ihn das an Sympathien kosten würde. Dieses erstaunliche Exempel einer gewagten Geschichtspolitik begann gleichsam in der Stunde Null des europäischen Umbruchs. Gerade zum Präsidenten gewählt, überraschte er seine Landsleute und die Bundesrepublik mit einem hochsymbolischen Akt, der den Dramatiker erkennen ließ: Am gleichen Tag absolvierte er zwei Staatsbesuche, in (Ost-)Berlin und München, und verband damit sozusagen in einem Hand-, sprich: Flug-Streich zwei für die Tschechen traumatische Daten – vormittags Berlin, wo Hitler 1939 den tschechischen Ministerpräsidenten zur Kapitulation zwang, nachmittags München, wo 1938 das Abkommen geschlossen wurde, das den Anfang vom Ende der freien Tschechoslowakei und den Auftakt zum Krieg bedeutete.

Kaum drei Monate später setzte er die Arbeit an einer ruinierten Vergangenheit spektakulär fort. Denn er war es, der die Szene erdachte, die dank der bereiten Einwilligung von Bundespräsident Richard von Weizsäcker einen hohen schicksalhaften Rang gewann. Am 15. März, dem Tag, an dem vor einem halben Jahrhundert die Deutschen die Tschechoslowakei besetzten und damit den Beginn des Zweiten Weltkriegs faktisch vorwegnahmen, trafen sich die Präsidenten beider Länder auf dem Hradschin. Sie machten damit sichtbar, dass das lang Unvorstellbare einer Annäherung zwischen den Nachbarvölkern im Begriff war, Wirklichkeit zu werden. Es war ein Augenblick, in dem Geschichte zum Ereignis gerann, geradezu anfassbar wurde.

Als Präsident ist Havel der gute Geist dieser Anstrengung geblieben, auch wenn der Wille zur Versöhnung oft in Emotionen und widerstrebenden Positionen hängen blieb. Zumal die Debatte um die Relevanz und Wertigkeit der Benes-Dekrete immer wieder Verknotungen im gegenseitigen Verhältnis entstehen ließ. Wenn sich inzwischen diese Spannungen gelegt haben, so ist das ohne Zweifel vor allem auch sein Verdienst.

Havels politische Leistung ist je länger desto mehr einer labilen Gesundheit abgerungen worden. Seit seiner Inhaftierung wurde er immer wieder von Krankheiten und Operationen heimgesucht, eine Krebserkrankungen des heftigen Rauchers eingeschlossen. Eine dramatische Darmoperation hat er nach verbreiteter Ansicht nur dank der Pflege seiner zweiten Frau überstanden, der Schauspielerin Dagmar Havlova. Sie, die er 1997 heiratete, hat allerdings nie die Popularität seiner ersten Frau Olga erreicht, die im Alter von 61 Jahren an Krebs starb. An sie sind die 1983 erschienenen „Briefe an Olga“ gerichtet, mit denen er aus dem Gefängnis heraus Rechenschaft über sein Denken und Fühlen gegeben hat. Sie wurden zu einem Zeugnis der osteuropäischen Dissidenz.

Längst war Vaclav Havel zur Legende geworden. Dieser Eindruck droht die wichtigen realen Leistungen unangemessen in den Hintergrund zu rücken, die er als Politiker vollbracht hat. Andererseits kann man an ihm lernen, wie wichtig es in Zeiten großer Umbrüche ist, wenn Politiker das Zeug zur Legende haben. Havel hat seine Absichten immer mit Geduld und Zähigkeit vollbracht und sich von Rückschlägen nicht aus der Bahn werfen lassen. Aber ohne seine tiefverwurzelten Überzeugungen, ohne sein Charisma, auch ohne seinen Charme hätte er nicht zu einer Gestalt werden können, die der Politik für gute zwei Jahrzehnte eine unvergessliche, für viele beispielhafte Ausstrahlung gegeben hat.

Seine Bedeutung als Politiker spiegelt sich in den Reaktionen auf seinen Tod, obwohl dieser nicht unerwartet gekommen ist. Die großen Köpfe der deutschen Politik der vergangenen Jahrzehnten würdigten ihn hoch anerkennend : Altbundeskanzler Kohl nannte ihn einen „großen Mann, ohne den die Freiheit nicht möglich gewesen wär“, Hans-Dietrich Genscher gab seiner Betroffenheit mit den Worten Ausdruck: „Europa ist ärmer geworden, wir alle sind es“. Joachim Gauck, Akteur der friedlichen Revolution in der DDR, bekräftigte gegenüber dem Tagesspiegel den Vorbild-Charakter von Havels Maxime des In-der-Wahrheit-Lebens gerade auch für seine Mitstreiter. Der amerikanische Präsident Barack Obama bekannte, Havels Worte und seine Führungskraft hätte auch ihn „inspiriert“.

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