zum Hauptinhalt

Männerfinale in Wimbledon: Roger Federer: Auge in Auge mit der Geschichte

Seine Ära schien vorbei, doch plötzlich steht Roger Federer wieder im Finale von Wimbledon. Dort kann er am Sonntag Pete Sampras’ Rekord einstellen und an die Spitze der Weltrangliste zurückkehren.

Eine Woche. Eine Woche fehlt ihm. 285 Wochen stand Roger Federer an der Spitze der Tennis-Weltrangliste. Eine Woche weniger als Pete Sampras. Eine Woche, die Roger Federer seit zwei Jahren wurmt, seit der Schweizer die Herrschaft in diesem Sport scheinbar endgültig zunächst an Rafael Nadal und dann an Novak Djokovic abgeben musste. Die wenigsten haben damit gerechnet, dass Roger Federer noch einmal die Chance bekommen würde, diesen siebentägigen Makel in seinem sonst so makellosen Tennisleben wettzumachen. Doch er bekommt sie. An diesem Sonntag an einem Ort, der für historische Momente gemacht zu sein scheint: im Finale von Wimbledon.

Wenn Roger Federer am heutigen Sonntag (15 Uhr) das Finale gegen den Schotten Andy Murray gewinnt, dann würde er mit dem siebten Sieg in Wimbledon nicht nur mit dem Rekordhalter Sampras gleichziehen, sondern nach zwei Jahren auch wieder an die Spitze der Weltrangliste zurückkehren. „Ich wollte nur meine Chance auf einen weiteren Titel wahren“, sagte Federer in die englischen Fernsehkameras, nachdem er Djokovic im Halbfinale in vier Sätzen besiegt hatte. „Ich muss niemandem mehr etwas beweisen.“ Recht hat er.

Federers Biographie liest sich wie ein Eintrag aus dem Guiness-Buch der Rekorde. 237 Wochen am Stück führte der die Weltrangliste an und stellte 2007 den ewigen Rekord von Björn Borg ein, als er zum fünften Mal in Folge Wimbledon gewann. Im Jahr 2009 holte er sich endlich den French-Open-Titel, der ihm fehlte, und hat damit als einer der ganz wenigen Spieler alle vier wichtigen Turniere gewonnen. Kurz darauf gelang ihm in Wimbledon der 15. Grand-Slam-Titel, das war vor ihm noch niemandem gelungen. Seit Freitag ist Federer nun auch der erste Spieler, der achtmal das Finale des bedeutendsten Tennisturniers der Welt erreichen konnte. Wieder so ein Rekord.

Die Liste ließe sich noch eine ganze Weile fortsetzen. Und wäre es doch am Ende diese eine Woche Nummer 286, die ihm all das verhageln könnte? Welche der Zahlen gibt die Antwort auf die Frage nach dem großartigsten Tennisspieler aller Zeiten? Und muss es darauf überhaupt eine Antwort geben?

Vergleiche über die Geschichte sind per se unbefriedigend. Zu Zeiten von Rod Laver, Björn Borg, Andre Agassi oder Pete Sampras war Tennis ein anderer Sport. Das Material war weniger ausgereift, die Geschwindigkeit der Schläge anders, der Spin geringer, die Trainingsbedingungen waren schlechter. Wer vermag zu sagen, welche Erfolge schwerer wiegen? Wie würde ein Match zwischen Sampras auf dem Höhepunkt seiner Karriere gegen einen solchen Roger Federer ausgehen?

Und doch sind es nicht nur die nackten Zahlen, die in den Köpfen vieler Experten und Fans eben Roger Federer ganz oben auf diese Liste setzen. Es sind auch nicht seine blitzsauberen Schläge, die in jeder Perspektive, in jeder Zeitlupe Grundlage eines Tennislehrbuchs sein könnten. Es sind vor allem die Geschichten außerhalb des Platzes, die die Menschen in Erinnerung behalten werden.

Olympisches Einzelgold ist sein letztes große Ziel

Eine spielt bei den French Open, wo Federer über Jahre hinweg bittere Niederlagen eingesteckt hatte. Er musste fürchten, dass ihm ähnlich wie vielen anderen Größen des Sports hier auf dem langsamen Pariser Sand niemals der Turniersieg gelingen würde – schon gar nicht mit einem Rafael Nadal als Konterpart. Federer hatte wieder einmal verloren, doch statt frustriert abzureisen, rief der Schweizer bei der Turnierleitung an. Ob man noch etwas von ihm brauche, fragte er, hatte er all seine Interview-Termine wahrgenommen, all seine Pflichten erfüllt? Dann bis zum nächsten Jahr.

Auch nach einem Jahrzehnt des nicht enden wollenden Rummels legt Roger Federer eine Einstellung an den Tag, die für alle Lebensbereiche vorbildlich ist. Keine Frage, die er nicht abwechselnd in perfektem Französisch, Deutsch, Englisch oder Schwizerdütsch beantworten würde. Kein gelangweiltes Seufzen, kein abwertender Blick. „Wo sitzen Sie?“, fragt er oft in der Pressekonferenz, wenn er vom Licht geblendet den Fragenden nicht sieht. Er möchte seinem Gesprächspartner in die Augen blicken.

Die anderen Spieler wissen um Federers besondere Aura. Mehrfach zollte der Spanier Nadal seinem Schweizer Dauerrivalen Respekt, indem er, mit der Trophäe in der Hand, sagte: „Roger, du bist der Größte aller Zeiten.“ Bemerkenswert vor allem, da Nadal in direkten Duellen wesentlich öfter als Sieger vom Platz gegangen ist. Während Nadal aber, der inzwischen ebenfalls alle vier Grand-Slam-Turniere gewonnen hat, von Verletzungen geplagt, häufig ab Mitte der Saison die Luft ausgeht – in Wimbledon scheiterte er überraschend schon in Runde zwei – durchzieht Federers Karriere eine beeindruckende Konstanz. Seit genau acht Jahren, seit Wimbledon 2004, hat Federer bei den vier großen Turnieren des Jahres immer mindestens das Viertelfinale erreicht.

Dass es in den vergangenen zwei Jahren häufig eben gerade noch das Viertelfinale war und nicht mehr wie zuvor gleichsam das Freiticket aufs Finale, deutete auf das schleichende Ende seiner Ära hin. Seit 2010 hat Roger Federer keinen Grand-Slam-Titel mehr gewinnen können, war zwischenzeitlich nur noch die Nummer vier der Welt, hinter seinem heutigen Finalgegner Andy Murray. Dem inzwischen 30 Jahre alten Familienvater schien der letzte Wille zu fehlen. Den Nimbus der Unbezwingbarkeit hatte er längst eingebüßt. Hatte Federer den richtigen Zeitpunkt für den Rücktritt verpasst?

Dass er noch weiterspielt, hat viel mit Wimbledon zu tun. In drei Wochen kehren die Tennisprofis zurück auf den heiligen Rasen, diesmal wird es beim olympischen Tennisturnier um Medaillen gehen. Eine goldene aus dem Jahr 2008 hängt schon bei Federer zu Hause, erspielt allerdings im Doppel. Im Einzel gelang ihm damals in Peking überraschend wenig.

„Ich bin so glücklich“, sagte Federer am Freitag und in seinem Lächeln sah man, dass dieser Halbfinalsieg dann doch ein ganz besonderer war. Dabei hatte er Djokovic nicht besiegt, weil der Serbe einen schlechten Tag hatte. Federer hatte gespielt wie zu seinen besten Zeiten. Und hat sich damit selbst die Chance auf einen ganz großen Coup eröffnet: die Rückkehr auf den Tennis-Thron, ein gutes olympisches Turnier – und womöglich den Rücktritt als Nummer eins der Welt. Es wäre ein würdiges Ende einer großen Tennis-Geschichte.

Zur Startseite