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Die Produzenten von "Green Book": Jim Burke, Charles B. Wessler, Nick Vallelonga, Regisseur Peter Farrelly und Brian Currie (v.l.)

© AFP/Frazer Harrison

Academy Awards im Umbruch: Der Oscar für "Green Book" ist eine dürftige Entscheidung

Die Akademie zeigt, dass sie noch nicht die richtigen Lehren aus der #Oscarssowhite-Kampagne gezogen hat. Dabei war die Oscarverleihung divers wie noch nie.

Von Andreas Busche

Es wird viel Spanisch gesprochen bei der 91. Oscar-Verleihung sonntagnacht im Dolby Theatre von Los Angeles. Das ist nicht nur Zeichen einer sich wandelnden Demografie der US-amerikanischen Filmindustrie. Einen Zuwachs von 2000 Mitgliedern verzeichnete die Filmakademie in den vergangenen Jahren nach den Debatten um #Oscarssowhite und #Metoo. 2019 kommen zwei weitere Faktoren hinzu: der angekündigte Grenzzaun zu Mexiko, noch immer das Lieblingsprojekt des US-Präsidenten (der namentlich nicht einmal erwähnt wird), sowie die Tatsache, dass mit Alfonso Cuaróns “Roma” ein spanischsprachiger Film als heißer Oscar-Kandidat gehandelt wird.

Am Sonntag hält zunächst Javier Bardem in seiner Muttersprache, an der Seite von ’Wakanda-Queen’ Angela Bassett, ein Plädoyer gegen Grenzen – reale und imaginäre. Er überreicht den Oscar für den besten fremdsprachigen Film früh am Abend an „Roma“, womit die weitere Dramaturgie vorgezeichnet ist. Den besten Fremdsprachen-Oscar und den besten Oscar hat in der Geschichte des Filmpreises noch nie derselbe Titel gewonnen. Was auch bedeutet: Florian Henckel von Donnersmarck kann mit „Werk ohne Autor“ seinen Erfolg von 2007 nicht wiederholen. Doch ernsthafte Chancen dürfte sich der deutsche Regisseur ohnehin nicht ausgerechnet haben.

Später erklärt der Schauspieler Diego Luna bei der Präsentation von „Roma“ als einer der acht Nominierten für den „Besten Film“, dass es „Frauen und Migranten“ seien, die „die Menschheit voranbringen“. Oder meint er doch die „Menschlichkeit“? Die Geschichte eines indigenen Dienstmädchens im Mexiko der siebziger Jahre besitzt momentan einen hohen politischen Symbolwert, auch wenn der Umstand, dass Netflix mit der Produktion die alten Hollywood-Strukturen stört, nicht jedem Mitglied der überalterten Akademie gefallen dürfte.

Eine denkbar ungeschickte Wahl

Das bestätigt sich dann auch auf dem Höhepunkt der Gala. Cuarón hat zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Oscars erhalten (Kamera, Regie), sein zweiter Doppelerfolg nach 2014 mit „Gravity“ (Regie, Schnitt). Aber ganz kampflos gibt sich Hollywood im Duell der Systeme dann doch nicht geschlagen. Als bester Film wird das durchaus umstrittene Rassismusdrama “Green Book” von Peter Farrelly, ausgezeichnet, produziert von Dreamworks, einem der letzten unabhängigen Studios: eine dürftige Entscheidung, in künstlerischer wie politischer Hinsicht. Aber es passt zur Schwerfälligkeit der Akademie, die sich in einer Phase des Umbruchs befindet – wie die gesamte US-Filmbranche.

“Green Book” ist eine denkbar ungeschickte Wahl, mit der die Akademie nur zeigt, dass sie noch nicht die richtigen Lehren aus der Kritik der #Oscarssowhite-Kampagne vor drei Jahren gezogen hat. Dabei hatte die über dreistündige Zeremonie mit ihrer hochgradig diversen Gästeliste (zu den Laudatoren gehörte unter anderem die Bürgerrechtsikone John Lewis) lange Zeit so etwas wie Einsicht suggeriert. Am Ende erweist sich ein Film über einen weißen Chauffeur, der seinem afroamerikanischen Boss authentische schwarze Kultur erklären muss, aber doch wieder als preiswürdig. Die Tatsache, dass Viggo Mortensen als Hauptdarsteller geführt wird, Mahershala Alis schwarzer Konzertpianist Don Shirley aber nur als Nebenrolle, sagt eigentlich schon alles über das Rollenverständnis des Films.

Ali gewann den Oscar immerhin zum zweiten Mal in drei Jahren nach “Moonlight”. Ein schwacher Trost. Seine Dankesrede war ernst und erhebend, ohne das übliche Dankespathos, erstaunlich genug unter den widrigen Umständen dieser fragwürdigen Erfolgsgeschichte. Mortensen, dem Ali ausdrücklich dankte, hatte in Interviews zuvor mehrfach das “N-Wort” benutzt, wofür er sich später entschuldigte. Und die echte Familie Shirley beschwerte sich im Zuge des Oscar-Hypes darüber, dass der Film die Freundschaft der beiden Männer, erzählt aus der Perspektive des weißen Protagonisten, in ein zu positives Licht rückt. Einen Oscar für das Originaldrehbuch gibt es dennoch.

Spike Lees Dankesrede stimmt versöhnlich

Es ist müßig, die Entscheidungen der gut 8000 Mitglieder starken Akademie im einzelnen zu kritisieren. Aber das versöhnliche Signal in einem Jahr mit starken afroamerikanischen Filmen wie “Black Panther” (drei Oscars für Kostümdesign, Szenenbild sowie die Musik, allerdings nicht für den Titelsong von Kendrick Lamar und SZA) und Barry Jenkins' bewegender Adaption von James Baldwins “Beale Street”, für den lediglich Regina King als beste Nebendarstellerin ausgezeichnet wurde, ist am Ende doch nur gut gemeint. Dafür entschädigt wenigstens Spike Lees leidenschaftliche Dankesrede für das beste adaptierte Drehbuch von “BlackKklansman”, sein erster Oscar nach fünf Nominierungen in 30 Jahren.

Lee erinnert, sichtlich überrumpelt von seiner Auszeichnung, an die Geschichte der Sklaverei, seine Großmutter und den Genozid an den amerikanischen Ureinwohnern. Und die Präsidentschaftswahl in zwei Jahren, die den weißen Elefanten im Dolby Theatre aus seinem Amt befördern müsse, damit Amerika wieder „auf der richtigen Seite der Geschichte“ stehe: „Let’s Do the Right Thing!“ Auch an dem Oscar für seine langjährige Kostümdesignerin Ruth Carter (für „Black Panther“) trägt er in gewisser Weise Anteil. Ob sie Spike Lee sein violettes Outfit, eine Hommage an Prince, angefertigt hat? Es ist jedenfalls ein Blickfang an diesem Abend.

Zu den Verlierern des Abends gehört Yorgos Lanthimos’ scharfzüngig-vulgäre Historienfarce „The Favourite“. Von dessen zehn Nominierungen bleibt am Ende nur ein Oscar für Hauptdarstellerin Olivia Colman übrig, die die haushohe Favoritin Glenn Close mit nun acht vergeblichen Anläufen fast tragisch scheitern lässt. Colmans Rede, freudig geschockt und gleichzeitig peinlich berührt von ihrem Sieg, ist ein Höhepunkt der Verleihung, besser als jede einstudierte Stand-up-Comedy. Sie entschuldigt sich erst bei Close und nennt dann jeden Namen, der ihr gerade in den Sinn kommt.

Wofür werden die 91. Oscars noch in Erinnerung bleiben? Vor allem wohl für die überraschende Feststellung, dass die Zeremonie auch ohne Moderator auskommt, solange die Laudatorinnen und Laudatoren so klug ausgewählt sind wie in diesem Jahr. Die Veranstaltung dauerte immer noch über drei Stunden, trotzdem war es die richtige Entscheidung der Akademie, die Kürzung der Gala durch die geplante Verbannung der Preise für Kamera und Schnitt in die Werbepause kurzfristig wieder zurückzunehmen.

Nach nur zwei Jahren ist zudem bereits sichtbar, dass die Akademie bunter und vielseitiger wird: einerseits an den Laudatoren und Preisträgerinnen, aber auch daran, dass es erneut keinen klaren Sieger gibt. Viermal gewinnt das Queen-Biopic "Bohemian Rhapsody", allerdings überwiegend in den technischen Kategorien (Schnitt, Ton, Tonschnitt), dafür erhält Rami Malek, in Anwesenheit der Band, den Preis für seine Darstellung Freddie Mercurys. „Roma“, „Green Book“ und „Black Panther“ bekommen je drei Oscars.

Und wer hätte gedacht, dass ein Film vier Auszeichnungen erhalten kann, ohne dass auch nur einmal der Name des Regisseurs Erwähnung findet? Die Crew von "Bohemian Rhapsody" brachte dieses Kunststück in ihren Dankesreden fertig. Bryan Singer war vor anderthalb Jahren nach persönlichen Differenzen gefeuert worden (er wird trotzdem als alleiniger Regisseur geführt), vermutlich auch wegen wiederholter Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs und der Vergewaltigung.

Dass solche strukturellen Probleme der Filmbranche in der Sonntagnacht kein Thema waren – hier fehlte in der Tat eine Moderation –, ist für die diesjährige Verleihung symptomatisch. Wie soll man Transparenz schaffen, damit auf die wohlfeilen Worte auch Taten folgen? Darüber, dass sich erneut keine Regisseurin in den beiden Hauptkategorien wiederfindet, wird in drei Stunden geflissentlich hinweggeschwiegen. Hollywood hat sich so noch einmal glimpflich aus der Affäre gezogen. Aber die Herausforderungen, mit denen sich die US-Filmindustrie konfrontiert sieht, lassen sich weder verschweigen noch mit dem Gießkannen-Prinzip bei den Oscars aus der Welt schaffen. Hier wäre es vielleicht doch angebracht gewesen, die Probleme auch mal beim Namen zu nennen.

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