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Besucher im eigenen Land: Enttäuschte Erwartungen: Die Rückkehr eines Immigranten

Vergangenes Jahr begleitete der Tagesspiegel den Gastarbeiter Ibrahim Dione von Dakar nach Spanien und zurück. Jetzt ist die Reportage mit dem Axel-Springer-Preis 2014 ausgezeichnet worden.

Als er alle Geschenke aus dem silberfarbenen Hartschalenkoffer verteilt hat – als letztes die pinkfarbenen Adidas-Turnschuhe für seine Tochter –, bedankt sich niemand bei ihm. Keine seiner drei Schwestern, keiner der drei Brüder, nicht die Mutter, nicht die zwei Nichten, auch nicht seine Frau und auch nicht die Tochter. Sie sagen gar nichts, starren ihn, Ibrahim Dione, 38 Jahre alt, nur an. Erwartungsvoll.

Später wird er sagen, dass es ihn traurig gemacht hat, dass sich niemand bedankt hat. Aber er wird auch erklären, dass er damit gerechnet habe, keinen Dank zu bekommen. Er kenne die Erwartungen der Familie.

Jetzt sagt Ibrahim Dione nichts. Er kniet auf dem Fliesenboden vor dem Koffer, zwei flackernde Kerzen erleuchten sein Gesicht. Sein Blick hetzt von einem zum anderen. Der Ruf des Muezzins dringt durch die Nacht. Ibrahim Dione schließt den leeren Koffer und räumt ihn beiseite.

Sechs Jahre und zehn Monate war er fort

Es ist Diones erster Tag, er ist heimgekehrt nach Dakar. Sechs Jahre und zehn Monate war er fort, als Immigrant in Spanien. In dieser Zeit ist seine Tochter groß geworden, elf Jahre alt ist sie mittlerweile. Zwei seiner Schwestern haben Kinder bekommen, seine Großeltern sind gestorben. Seine Frau ist so abgemagert, dass er sie fast nicht wiedererkannt hätte. Es ist kein Tag vergangen, an dem er sich nicht um seine Familie sorgte.

Als der Muezzin verstummt, steht Ibrahim Diones Schwester Marianne auf und erklärt: „Du musst uns aus dieser Wohnung holen“.

Die Wohnung, aus der Dione seine elfköpfige Familie holen soll, liegt in der letzten Etage eines vierstöckigen Hauses nicht weit vom Zentrum von Dakar. Sie hat zwei Zimmer und höchstens 30 Quadratmeter. Auf den Schränken, auf dem Fernseher und auf dem einzigen Bett stehen Töpfe und Eimer. Sie fangen Wasser auf, das von der Zimmerdecke tropft. Am Nachmittag hat es geregnet. Wasser aus dem Hahn gibt es nicht, der Strom fällt immer wieder aus, vor allem nach einem Wolkenbruch.

Dione bleibt stumm. Seine Schwester Marianne nimmt zwei große Eimer und öffnet die Tür. „Ich geh Wasser holen“, sagt sie. Ibrahim Dione schaut ihr hinterher, seine Schultern hängen herab, sein Oberkörper ist nach vorn gebeugt.

Er wusste, dass es seiner Familie nicht gut geht, sagt er später. Aber er habe nicht geahnt, wie schlecht es läuft.

Nur zwei Stunden zuvor ist Ibrahim Dione in Dakar gelandet. Im Flugzeug betrachtete er jede Seite des Bordmagazins, studierte die Zeitung, die die Stewardessen verteilt hatten, auch das Kinoprogramm. Sein Versuch, sich abzulenken, war mäßig erfolgreich. Drei Nächte hatte er wach gelegen vor Aufregung. Auch jetzt war an Schlaf nicht mehr zu denken. Also blätterte er. Und als er Magazin und Zeitung durchhatte, dachte er nach.

Über seinen Plan, den er nach dem Kauf des Flugtickets vor drei Monaten gefasst hatte. Mit seiner Familie wollte er über die schwierige Situation in Europa reden. Am Telefon wagte er das nie, wollte seine Mutter nicht beunruhigen, eine herzkranke Frau. Jetzt ging er die Dinge durch, die er sagen wollte. Zuerst würde er allen erklären, wie schlecht es für ihn gerade in Europa läuft, dass es immer weniger Arbeit gibt für Immigranten, dass die Löhne sinken. Dann würde er seine jüngeren Geschwister auffordern, mehr zum Familienhaushalt beizutragen. Er würde die Wahrheit sagen. Er würde sagen, dass er mehr einfach nicht tun kann.

Als er sich all das einmal aufgesagt hat, spricht er im Flugzeug über die Erwartungen, die er hatte, als er nach Spanien aufbrach. Damals dachte er, er würde nach spätestens drei Jahren das erste Mal zurückkommen. Mit richtig viel Geld und einem Auto voller Geschenke. Er war überzeugt, dass nur der Weg nach Europa beschwerlich sei. Dass er, einmal in Spanien angekommen, arbeiten, viel Geld verdienen und seiner Familie schnell ein besseres Leben bescheren würde, mit einer Wohnung, die ihr gehörte. Dass seine Schwestern und seine Frau nie mehr arbeiten müssten.

Der Bruder arbeitet nicht, er flucht über die Ausbeuter

Ibrahim Dione ist der älteste Sohn. Seit sein Vater die Familie vor 20 Jahren verlassen hat, ist er verantwortlich für die Mutter und die Geschwister. Als er noch in Dakar lebte – er hatte sich als Installateur selbstständig gemacht – gab er seiner Mutter 50 Euro, jeden Monat. Damit konnte sie das Essen bezahlen und einen Teil der Miete. Doch das war Ibrahim Dione nicht genug, er wollte mehr tun.

Er zahlte einem Schlepper tausend Euro für die Reise nach Europa. Dione stieg auf ein Holzboot, das ihn und etwa 30 andere in drei Tagen auf die Kanaren bringen sollte. Obwohl er Angst vor dem Ozean hat, obwohl er leicht seekrank wird und obwohl er wusste, dass viele der Holzboote, die jedes Jahr aufbrechen, nie in Spanien ankamen. Heute sagt er, dass er an Land geblieben wäre, wenn er geahnt hätte, wie alles kommen würde. Damals sagte er sich, „in drei Tagen bist du in Spanien, dann ist alles einfach“.

Vier Tage hat er weder getrunken noch gegessen

Von Anfang an kam es anders. Das schmale, lange Holzboot ist sieben Tage unterwegs, bevor es an der Küste der Kanareninsel La Gomera landet. Vier Tage lang hat er da weder getrunken noch gegessen, wie alle anderen Passagiere hat er nur für drei Tage Proviant eingesteckt. Zwei Mal ist er unterwegs in Ohnmacht gefallen und nur deshalb nicht über Bord gegangen, weil ihn einer der Mitreisenden festhält.

Auf Gomera wartet schon die spanische Grenzpolizei, die Beamten bringen ihn in ein Abschiebegefängnis in Madrid. Nach 40 Tagen lässt man ihn frei – länger durften illegal Eingereiste in Spanien vor sieben Jahren nicht festgehalten werden – und ein Mitarbeiter des Roten Kreuzes rät ihm nach Almeria zu gehen, zu den Gewächshäusern. „Dort kannst du auch ohne Papiere arbeiten“, sagt der Mann und gibt ihm ein Busticket.

Von Almeria hat Ibrahim Dione in Senegal schon mal gehört. Aber er ahnt nicht, wie es dort aussehen würde. Überall Plastikplanen, überall Afrikaner, nirgends Spanier. Er findet tatsächlich einen Job als Erntehelfer, Stundenlohn: fünf Euro, zieht zu zwei anderen Senegalesen in ein Zehn-Quadratmeter-Zimmer über einer schäbigen Diskothek, in der die afrikanischen Erntehelfer ihr weniges Geld ausgeben. Dort lebt er bis heute, zahlt 180 Euro, geht nur raus, um zu arbeiten und einzukaufen. Am Strand ist er noch nie gewesen, obwohl das Meer gleich um die Ecke ist. Auch in der Disko war er kein einziges Mal. Ibrahim Dione ist strenggläubiger Muslim.

Im ersten Jahr in Spanien arbeitet er noch fünf Tage in der Woche, acht Stunden täglich. Jeden Monat kann er 150 Euro nach Hause schicken, mindestens. Seit 2008 aber, seit Spanien in der Krise ist, wird die Arbeit knapp, der Stundenlohn liegt nur noch bei vier Euro. Zu viele Immigranten für zu wenig Arbeit. Und jedes Jahr wird die Situation ein wenig schwieriger. Mittlerweile kann Dione seiner Familie höchstens hundert Euro im Monat schicken, manchmal gar nichts. Für Notfälle hat er seine Ersparnisse aus den ersten beiden Jahren, knapp tausend Euro, bei einem seiner besten Freunde in Dakar deponiert, der verwaltet das Geld für die Familie.

Obwohl sich Ibrahim Dione seit seiner Ankunft in Spanien danach sehnt, nach Hause zurückzukehren, zögert er lange, bis er es dann wirklich tut. Das Flugticket kostet 420 Euro. Die Entscheidung fällt, als seine Mutter ihm am Telefon wieder mal unterstellt, er habe eine neue Familie in Spanien und schicke deshalb kein Geld mehr.

Bis vor einem halben Jahr hätte Ibrahim Dione gar nicht nach Hause zurückkehren können. Er lebt illegal in Spanien, wie nach Schätzungen der spanischen Regierung fast eine Million anderer Afrikaner. Dann hat er Glück, er erhält über einen Bekannten, der sich für die „Sans-Papiers“, die Illegalen, einsetzt, einen Arbeitsvertrag – die Sozialversicherung, 250 Euro, zahlt Ibrahim allerdings selbst. Damit hat er eine Aufenthaltsgenehmigung und kann wieder einreisen. Ohne diesen garantierten Behördenstempel hätte Ibrahim Dione die Ausreise niemals gewagt.

"Ich habe sie doch schon jetzt enttäuscht"

„Wenn ich für immer mit leeren Händen zurückkäme, würde ich meine Familie wahnsinnig enttäuschen. Das kann ich nicht machen“, sagt er, während er seiner Schwester Marianne zusieht, die gerade den fünften Eimer Wasser in Plastikflaschen füllt. Nach einer Pause fügt er hinzu: „Ich habe sie doch schon jetzt wahnsinnig enttäuscht.“

Dann steht er auf, um beim Wasserholen zu helfen. Als er auf der Straße den vollen Eimer auf seinen Kopf wuchtet, verschüttet er die Hälfte, strauchelt. Er trägt den halb vollen Eimer die vier Stockwerke nach oben, legt sich aufs Sofa und starrt auf die Umzugskisten. Er fragt, wie er es ihnen bloß sagen solle, „dass sie sich auf mein Geld nicht mehr verlassen können? Dass ich doch selber nicht weiß, wie ich meine Miete zahlen soll?“

An seinem ersten Tag jedenfalls sagt er nichts. Stattdessen erinnert er sich daran, dass seine Familie in einer größeren Wohnung mit fließend Wasser lebte, als er fortging.

Das Leben im Senegal ist teuer, vor allem in Dakar. Und die Preise steigen jedes Jahr. Ein 50-Kilo-Sack Reis kostet heute 35 Euro, als Ibrahim Dione nach Europa ging, waren es noch 20 Euro. Die 30-Quadratmeter-Wohnung, in der seine Familie lebt, kostet 150 Euro im Monat. Auch sonst ist das Leben nicht einfach. Es gibt kaum Jobs, jeder Zweite verdient seinen Unterhalt in der Schattenwirtschaft. Eine Krankenversicherung können sich nur Angestellte, also die Hälfte der Bevölkerung, leisten.

Keiner von Diones sechs Geschwistern hat eine offizielle Arbeitsstelle. Zwei seiner Brüder verkaufen auf der Straße Schuhe, zwei Schwestern Saft und Tee. Jeder von ihnen verdient knapp 50 Euro im Monat.

Am zweiten Tag versucht Ibrahim Dione mit seiner Schwester Marianne zu reden. Seit sie vor drei Jahren ihre Stelle als Putzfrau bei einer französischen Familie verloren hat, wo sie 50 Euro an fünf Tagen verdiente, arbeitet sie nicht.

Die Mutter schenkt den Armen Reis - so will es die Tradition

„Wieso suchst du dir nichts Neues?“, fragt er, als sie gerade die Handtücher wäscht. „Ich suche doch“, antwortet sie empört. „Aber alles, was ich finde, ist indiskutabel. Ich soll um sechs morgens aufstehen, sechs Tage den ganzen Tag arbeiten. Und dafür bekommt man gerade mal 50 Euro im Monat!“ „Das ist Missbrauch“, ruft der jüngste Bruder, der daneben auf dem Boden sitzt und noch nie in seinem Leben gearbeitet hat. Ibrahim Dione sagt nichts. Er denkt: „50 Euro sind nicht wenig.“

Auch in den nächsten Tagen wird Ibrahim Dione seiner Familie nichts von dem sagen, was er sich vorgenommen hat.

Am dritten Tag fährt Ibrahim Dione in einen Vorort von Dakar, wo die Straßen nicht asphaltiert und die Häuser nicht verputzt sind, eine Stunde mit dem Bus vom Zentrum entfernt. Er will eine günstigere Wohnung für seine Familie suchen. In schwarzer Adidas-Trainingshose, in weißem Adidas-Trikot und mit schwarzen Adidas-Turnschuhen läuft er die staubigen Straßen entlang, an seiner Seite seine Frau in einem knallgelben, neu geschneiderten Kleid, um ihn herum eine Traube von Menschen. Alle wollen Geld von ihm. Ibrahim Dione schüttelt den Kopf. Seine Frau zieht an seinem Arm, sagt, „gib doch ein bisschen“. Er gibt ein bisschen. Später findet er in dem Ort eine großzügige Dreizimmerwohnung für 150 Euro.

Die Familie will nicht umziehen

Als Ibrahim Dione am Abend davon erzählt, schweigen die Mutter und die Geschwister. Schließlich sagt seine Schwester Marianne, „wir gehen nicht an den Stadtrand. Wir haben uns an die Gegend hier gewöhnt. Außerdem ist hier der größte Straßenmarkt“.

Am Morgen des vierten Tages weckt ihn seine Mutter früh, sie will 35 Euro für einen Sack Reis. Der muslimische Fastenmonat Ramadan geht zu Ende und die Tradition will, dass bessergestellte Familien an diesem Tag den ärmeren Nachbarn Reis schenken. „Ich habe bald kein Geld mehr“, sagt er, als er die Scheine aus seinem Portemonnaie zieht. Seine Mutter antwortet: „Das werden wir ja sehen“. Für die Heimreise hat er 300 Euro abgehoben. 200 Euro ließ er auf seinem Konto, für die Miete im September.

An Tag fünf ruft Ibrahim Dione den Freund an, der die tausend Euro für ihn verwahrt. „Ich brauche mein Geld“, sagt er. Der Freund sagt lange nichts. Schließlich erklärt er, er habe das Geld ausgegeben. „Tut mir leid. Ich hatte einen Engpass.“ Als Ibrahim Dione später seiner Mutter davon erzählt, sagt sie, „sei großzügig“.

Am zehnten Tag heiratet sein jüngster Bruder. Den Termin hat der so gelegt, damit der große Bruder dabei sein kann. Diones hat drei Hühner schlachten und allen Frauen der Familie neue Kleider nähen lassen. Am Abend zieht die Frau zur Familie ihres Mannes, so wie es im Senegal üblich ist, zur Familie von Ibrahim Dione. Und der kleine Bruder erklärt der gesamten Familie, er werde seinen ersten Sohn nach dem großen Bruder nennen, Ibrahim. „Schließlich wird er dir viel zu danken haben“, sagt er in Richtung von Ibrahim Dione. Der schweigt.

Er hat noch zehn Tage Zeit, um etwas zu sagen. Dann fliegt er zurück.

Der Text erschienen auf der Dritten Seite und wurden mit dem Axel-Springer-Preis ausgezeichnet.

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