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Und ab und zu gibt’s einen Kuss: Ines Pavlou vom Familiencafé Amitola mit ihren Mitarbeitern Malte (l.) und Alex (r.).

© Kitty Kleist-Heinrich

Bestes Kleinunternehmen 2015: Bunte Truppe unterm Regenbogen

Im Second-Hand-Laden und Familiencafé Amitola wird Inklusion jeden Tag gelebt. Der Betrieb hat vielen Menschen mit Behinderung durch Praktikums- oder Ausbildungsplätze eine Chance gegeben.

Es passiert schon mal, dass Ines Pavlou von ihrem Angestellten Malte im Vorübergehen einen Kuss auf die Wange bekommt. „Ich hab’ dich lieb“, sagt er noch kurz, bevor er sich wieder seiner Arbeit als Servierer zuwendet. Die spontane Sympathiebekundung ist wie eine kleine Aufhellung des Alltags. Welcher Chefin würde so etwas nicht gefallen? „Ich hab' dich auch lieb, Malte“, sagt Ines Pavlou dann. Und strahlt übers ganze Gesicht.

Es gibt aber auch Tage, an denen Maltes Laune nicht so gut ist. Dann gehen dem 27-Jährigen mit Down-Syndrom seine Aufgaben in Küche und Gastraum des Familiencafés Amitola nur mühsam von der Hand. Manchmal muss er sich für ein Stündchen zurückziehen und in einem Nebenraum des Cafés ausruhen, um neue Kräfte zu sammeln. Ob der Laden gerade brummt oder leer ist, ist in dem Moment völlig egal.

Doch Pavlou und ihr Team haben im Laufe der Zeit gelernt, mit solchen Situationen umzugehen. „Ich könnte mir überhaupt nicht vorstellen, dass Malte nicht mehr bei uns arbeitet“, sagt sie, „er ist die Seele unseres Geschäfts.“ Auch viele Kunden sehen das so. Wenn Malte mal ein paar Tage Urlaub hat, fragten Mütter und Kinder im Café gleich nach ihm. So sehr haben sie den außergewöhnlichen Kellner mit seinem besonderen Charme lieb gewonnen.

Malte ist nie krank - und absolut loyal

Malte gehört nun schon seit so vielen Jahren zu ihrer Belegschaft, dass Pavlou gar nicht mehr ganz genau sagen kann, wann er zu Amitola kam. Seit 2007 betreibt sie ihren Second-Hand-Laden für Kinder in Friedrichshain, 2009 kam nach dem Umzug in die Krossener Straße auch das Familiencafé hinzu. Irgendwann in dieser Zeit stand plötzlich die Mitarbeiterin eines freien Bildungsträgers im Laden: Ob sie sich nicht vorstellen könne, Menschen mit Behinderung ein Praktikum zu ermöglichen? Ines Pavlou überlegte nicht lange und sagte zu.

So wurde Malte zu einem festen Bestandteil ihres Geschäfts. Erst machte er über einen längeren Zeitraum ein Praktikum, dann nahm er an einer Arbeitsqualifizierung teil, inzwischen ist er längst als „ganz normaler“ Arbeitnehmer angestellt. Und für seine Kollegen ein echtes Vorbild: „Malte ist nie krank, er ist immer da und absolut loyal“, schwärmt seine Chefin. Einen solchen Mitarbeiter könne sich jeder Betrieb nur wünschen. Ganz zu schweigen von der emotionalen Intelligenz, die Malte mitbrächte. „Wenn einer von uns mal einen schlechten Tag erwischt hat oder irgendwelche Sorgen mit sich rumschleppt, ist Malte der erste, der das bemerkt.“

Über die Jahre hat Amitola vielen weiteren Menschen mit Behinderung oder eingeschränkten Lernfähigkeiten durch Praktikums- oder Ausbildungsplätze eine Chance gegeben. Aktuell absolviert zum Beispiel Alex eine Ausbildung zur Fachkraft im Gastgewerbe, sein Kollege Felix qualifiziert sich zum Fachpraktiker Küche. Beide jungen Männer sind um die 20 und ohne Schulabschluss, galten auf dem Arbeitsmarkt als kaum vermittelbar.

Bei Amitola aber ist es ihnen gelungen, sich in das Team und die Arbeitsabläufe zu integrieren, ihre Aufgaben anzunehmen und zu erfüllen, neue Dinge dazu zu lernen. Am wichtigsten aber sei, so hat es Ines Pavlou immer wieder beobachtet, dass die Praktikanten oder Auszubildenden allmählich selbstbewusster würden, sich mehr zutrauten, neuen Mut schöpften. Davon profitierten auch die schulischen Leistungen. „Wenn jemand wie Alex am Ende seiner Ausbildung sagt, er möchte weiterziehen und sich das nächste berufliche Ziel setzen, dann macht mich das froh“, sagt Pavlou.

"Amitola" heißt in der Sprache der Navajo "Regenbogen"

Natürlich hat es in den zurückliegenden Jahren auch Rückschläge gegeben, schwierige Fälle, bei denen das Amitola-Team an seine Grenzen geriet. Überdies verfängt sich Pavlou manchmal in den Mühlen der Bürokratie und im Kleingedruckten von Ausbildungsvorschriften – was viel Zeit und Nerven kosten kann. Einer jungen Frau mit Lernbehinderung, die sich während ihres Praktikums im Laden beim Verkauf sehr bewährt hatte, wollte Pavlou kürzlich eine entsprechende Ausbildung ermöglichen. Schnell stellte sich heraus, dass es für eine Verkäuferin mit Förderschwerpunkt in ganz Berlin keinen passenden Berufsschulplatz gab. Erst mit tatkräftiger Unterstützung des Arbeitgeberservice beim Jobcenter konnte die Annedore-Leber-Schule als Kooperationspartner gewonnen werden.

Trotz solcher Hindernisse möchte Pavlou die Zusammenarbeit mit den vermeintlich schwierigen Praktikanten und Azubis nicht missen. „Ich habe in den letzten Jahren viele interessante Menschen und ihre Geschichten kennengelernt, die mich selbst sehr bereichert haben“, sagt Pavlou. Sie bewundere, wie Malte oder andere Menschen mit Behinderung in stressigen Situationen die Ruhe bewahrten, wie viel leichter sie manchen Problemen des Alltags begegneten. „Davon nehme ich viel mit.“

Warum sich Mitarbeiter mit eingeschränkten Fähigkeiten gerade bei Amitola so wohl fühlten, darüber kann Pavlou nur mutmaßen. Vielleicht habe es damit zu tun, dass sich das Team aus sehr verschiedenen Persönlichkeiten mit ganz unterschiedlichen Biographien zusammensetze, in dem man viel Verständnis für Lebenswege mitbrächte, die nicht immer ganz geradlinig verlaufen. Insofern ist der Begriff „Amitola“ als Name für den Laden und seine bunte Truppe gut gewählt. Er stammt aus der Sprache der nordamerikanischen Navajo und bedeutet: „Regenbogen“.

Klaus Grimberg

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