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Ausgezeichnet: Robert Ehrenpfordt, Marion Schulze, Michael Witte und Liane Merkel (v.l.n.r.) von den Kindergärten Nordost.

© Doris Spiekermann-Klaas

Bestes Großunternehmen 2015: Voneinander lernen

In den Kindergärten Nordost arbeiten seit Jahren Behinderte und Nichtbehinderte zusammen. Für ihre kleinen Schützlinge ist das ohnehin ganz normal.

Liane Merkel war heute mal wieder im Außeneinsatz. Die Kollegen haben die Schwerbehindertenbeauftragte zu Hilfe geholt. Da eine Erzieherin an Krebs erkrankte und nun Unterstützung bei der Betreuung der Kleinsten braucht, herrscht Unmut im Kita-Team. Die zusätzliche Zeit, die der kranken Mitarbeiterin zusteht, konnte nicht immer so organisiert werden, dass alle Beschäftigten zufrieden sind. Es fehlt an Personal, an Zeit, an Hilfsmitteln, damit kranke und gesunde Kollegen gut miteinander arbeiten können. Merkel hört zu, vermittelt, sucht nach Auswegen. Es wird eine Lösung geben, da ist sie sich sicher.

Die 59-Jährige ist die Vertrauensperson für die Schwerbehinderten bei den Kindergärten Nord-Ost. Sie ist so etwas wie die Brückenbauerin zwischen den Kollegen und Kolleginnen, vermittelt zwischen denen mit und ohne Handicap. Merkel kennt die Vorgaben der Behörden, weiß, welche Finanztöpfe angezapft werden können, wenn es um behindertengerechte Umbauten geht. Sie kann helfen, wenn die Bedürfnisse der Kranken noch nicht zum Jobprofil passen.

Mehr als 200 Menschen mit körperlichen wie psychischen Behinderungen arbeiten für die Kitas des Berliner Eigenbetriebs. Das sind rund elf Prozent aller Mitarbeiter. Erzieher und Erzieherinnen sind dabei, Leitungspersonal, Küchenkräfte: Mitarbeiter mit Handicap sind in allen Arbeitsbereichen zu finden. Viele werden erst durch die Arbeit oder im Alter mit einer Behinderung eingestuft. Das heißt, sie sind schon seit Jahren für den kommunalen Träger tätig und werden erst dann krank. „Sie können nicht mehr zu 100 Prozent die Leistung erbringen, die im Job gefordert ist“, sagt Marion Schulze, verantwortlich für Personalfragen. „Wir als Arbeitgeber müssen dafür sorgen, dass es den Menschen besser geht und sie einsatzfähig sind.“

Auch einfache Dinge können die Arbeit erleichtern

Manchmal sind es die ganz einfachen Dinge, die die Arbeit weniger beschwerlich machen. Beschäftigte, die an einer Muskelskeletterkrankung leiden, hilft es etwa, wenn sie die Kleinkinder nicht auf den Wickeltisch heben müssen. Leichter geht es, wenn die Jungen und Mädchen über eine Treppe selbst den Weg an der Hand der Erzieherin schaffen. Die Küchenkräfte freuen sich über einen Lastenaufzug, um das Mittagessen zu den Kindern im oberen Stockwerk zu bringen. Auch Vorrichtungen, die den Lärm dämpfen, nehmen Belastungen heraus. Ein neuer Krippenwagen, leichtere Kinderwagen, eine Rampe, rückenfreundliche Stühle. Liane Merkels Wunschliste ist lang.

Bis das was gebraucht wird, auch gebaut und beschafft wird, vergeht oft viel Zeit. In vielen Gesprächen versucht die Behindertenbeauftragte herauszufinden, welche Hilfen sinnvoll und auch bezahlbar sind. Die finanziellen Mittel, die die Behörden stellen, werden seit Jahren gekürzt. Manche Posten wurden umgeschichtet oder werden nur noch teilweise bezahlt. Die Arbeitgeber sollen verstärkt einspringen und für die Umbauten aufkommen. Merkel kennt die erbitterten Kämpfe um die Finanzen nur zu gut. „Das ist ein harter Weg“, sagt sie. „Wir brauchen bessere Rahmenbedingungen, mehr Geld und vor allem auch einen persönlicheren Umgang der Behörden mit den Einzelfällen.“

Merkel sieht vor allem die Politik in der Pflicht, ganz praktisch für mehr „Teilhabe Behinderter am Arbeitsleben“ zu sorgen. „Wir wollen die Leute so lange es geht halten.“ Wer als Erzieher oder Erzieherin krank wird, der wird beim Kita-Träger nur schwer einen anderen Job finden können. „Wir haben hier kaum Ausweichmöglichkeiten“, sagt Merkel. Aus der pädagogischen Fachkraft einen Buchhaltungsexperten oder IT-Spezialisten zu machen, wäre zwar möglich. Doch in der Praxis können kaum neue Stellen geschaffen werden. In der Kita werden schließlich vor allem Erzieher und Erzieherinnen gebraucht.

Der Personalmangel stellt die Solidarität mit kranken Kollegen auf die Probe

Dass bei der Einstellung auch Bewerber mit Behinderung aber gleicher Qualifikation berücksichtigt werden, hält Michael Witte, der die pädagogische Geschäftsleitung inne hat, für selbstverständlich. Für ihn ist das Thema Behinderte am Arbeitsplatz eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. „Integration ist für uns Pflicht. Das gilt für die Integration von Kindern, wie für die Beschäftigten“, sagt der Pädagoge. Kinder könnten sowieso am besten für ein Stückchen „Normalität“ sorgen. „Sie sind viel offener Menschen gegenüber, die eine Behinderung haben“, sagt er. „Wir sollten uns stärker mit dem Thema Inklusion in der pädagogischen Praxis auseinandersetzen.“ Das heißt beispielsweise in der Aus- oder Fortbildung sollte klar werden, dass trotz seiner Behinderung dieser Beschäftigte genauso wichtig für den laufenden Betrieb ist wie einer ohne Handicap.

Schwierig wird es, wenn die Solidarität mit den kranken Kollegen und Kolleginnen im Joballtag an Grenzen stößt. In den Einrichtungen herrscht bereits akuter Personalmangel. Die Arbeit mit den Kindern ist für die Beschäftigten erfüllend und fordernd zugleich. Unterstützung im Joballtag könnten schließlich alle gut gebrauchen. „Dafür sind viele Konfliktgespräche notwendig“, sagt der Pädagoge. Die Schwerbehindertenbeauftragte Merkel muss also viel Überzeugungsarbeit leisten. Beim Personal, den Chefs, den Behörden. Bisher hat sie noch jeden Fall gelöst. Dass Behinderte und Nichtbehinderte zusammen arbeiten, soll in den Kitas schließlich eine Selbstverständlichkeit bleiben.

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