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Die Staatliche Ballettschule beginnt mit der fünften Klasse. Dann sind die Kinder neun oder zehn Jahre alt.

©  Stephanie Pilick/dpa

Update

Berlins Eliteschule für Ballett und Artistik: Kindeswohlgefährdung unter staatlicher Aufsicht

Drill, Magersucht – und junge Frauen, die „zu hässlich“ sein sollen: In Berlins Staatlicher Ballettschule herrschte jahrelang eine „Kultur der Angst“.

Sie hat sich gut erholt von den Jahren an der Ballettschule. Janine, 22 alt, lacht gern und hat ihr Selbstbewusstsein zurückgewonnen. Sie arbeitet an einer Karriere als Model. Es war die Berichterstattung im Rundfunk Berlin-Brandenburg über die Zustände an der Staatlichen Ballettschule in Pankow, die sie dazu gebracht hat, über ihre Erfahrungen zu sprechen.

„Es war immer mein Wunsch, das Ganze öffentlich zu machen“, sagt sie, „aber ich war sehr, sehr labil.“ Vor ein paar Wochen hat sie Worte gefunden. Sie sprach und lud das Video im sozialen Netzwerk Instagram hoch.

Es waren drei Begriffe, die am 23. Januar 2020 die Berliner Ballettwelt ebenso durcheinanderschüttelten wie die Berliner Bildungsverwaltung. Sie lauteten „Drill, Bodyshaming, Magersucht“ und dienten als Beschreibung von Zuständen an Berlins Staatlicher Ballettschule und Schule für Artistik.

Die drei Worte sollten auf den Punkt bringen, was das RBB-Fernsehen wochenlang recherchiert hatte. Irgendwann am Ende wurde eine Schülerin mit der Bemerkung zitiert, es gebe „eine Grenze zwischen Härte und Unmenschlichkeit“.

Auftritte – trotz Verletzungen

Janine heißt in Wirklichkeit anders. Dass sie ihren Namen nicht in der Zeitung veröffentlicht sehen will – wenn sie schon als eine von wenigen überhaupt mit Journalisten spricht –, hat mit den juristischen Dimensionen des Ballettschul-Skandals zu tun. Deren Leiter wurde gekündigt, eine Expertenkommission und eine sogenannte Clearingstelle sammeln Aussagen von Schülerinnen und Schülern, Ehemaligen und Eltern.

Das, was davon an die Öffentlichkeit gelangt, ist so massiv wie vage – und vieles davon wohl schwer zu beweisen.

Für Transparenz sollte die Stahlskulptur vor dem Gebäude der Staatlichen Ballettschule und Schule für Artistik stehen.
Für Transparenz sollte die Stahlskulptur vor dem Gebäude der Staatlichen Ballettschule und Schule für Artistik stehen.

© Mike Wolff

Der Berliner Landesschülerausschuss hat ihm gegenüber gemachte Aussagen zu Papier gebracht, in allgemeiner Form ist darin die Rede von „Lehrer*innen“, die „Schüler*innen trotz Verletzungen weiter auftreten haben lassen“ sollen, von Drohungen, ihnen sonst Bühnenauftritte vorzuenthalten und die „Förderung ihrer Ballett- oder Artistikkarriere“ zu vernachlässigen. „Lehrer*innen sollen Schüler*innen zur Einnahme von Abführmitteln zur Senkung des Gewichts genötigt haben (eine Schülerin soll davon unfruchtbar geworden sein).“

SPD-Bildungssenatorin Sandra Scheeres, unmittelbar zuständig für diese staatliche Schule, gibt sich entschieden und entschlossen. Wer pädagogisch versagt hat, soll mit Folgen rechnen.

Strafanzeigen – die einzige Methode

Das gilt allerdings auch für sie: Eltern haben vor Kurzem Strafanzeige gegen Scheeres erstattet – wegen Vernachlässigung der Fürsorgepflicht und Kindeswohlgefährdung. In einem sieben Seiten langen offenen Brief begründen sie das und enden mit dem Vorwurf: „Wir haben einen Senat, der nicht reagiert beziehungsweise handelt, um die Kinder zu schützen .“

Der Berliner Anti-Mobbing-Coach Carsten Stahl hat schon vor einem Monat das Gleiche gemacht. Strafanzeigen, glaube er, seien die einzige Methode, die Verantwortlichen wirklich zu erreichen.

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„Jeder Verantwortliche einer Schule, im zuständigen Schulamt oder in einer politischen Position des Schul- und Bildungssystems, der den Ruf einer Schule und seine eigene Position über das Wohl von Kindern und Schutzbefohlenen stellt, ist eine Gefährdung für den Schutz unserer Kinder und muss mit personellen oder strafrechtlichen Konsequenzen für sein Fehlverhalten rechnen oder wenn nötig dafür auch zur Rechenschaft gezogen werden.“

Verdorbenes Fleisch. Um sich übergeben zu können

Janine erzählt vom Drill, vom Runtergemachtwerden wegen des Aussehens, wegen der Figur, der Frisur. Sie spricht über Mitschülerinnen, die Essstörungen hatten. Eine, sagt Janine, habe mal verdorbenes Fleisch gegessen, um sich besser übergeben zu können.

Bildungspolitiker der Berliner Parlamentsfraktionen wie die CDU-Abgeordnete Emine Demirbüken-Wegner, Vorsitzende des Bildungsausschusses im Abgeordnetenhaus, oder FDP-Mann Paul Fresdorf halten das alles für einen fragwürdigen Zustand an einer Schule, die Ballerinen, Tänzer und Artisten im Kindesalter aufnimmt und zu Profis mit großen Karrierechancen ausbilden will. Und vielen offenbar vor allem gezeigt hat, wie gnadenlos das Leben später werden kann.

Die Artistikschüler der Staatlichen Eliteschule haben eine große eigene Halle zur Verfügung.
Die Artistikschüler der Staatlichen Eliteschule haben eine große eigene Halle zur Verfügung.

© Kai-Uwe Heinrich

Janine sagt, sie habe Tanzunterricht genommen, seit sie drei Jahre alt war. Mit 16 sei sie an die Ballettschule gekommen, mit 18 beschloss sie, die Schule abzubrechen. Janine ist eine von zwei Ehemaligen, die sich dem Anti-Mobbing-Coach Carsten Stahl anvertraut haben. Der hat sie ermutigt, offen über ihre Erfahrungen zu sprechen. Der andere ist ein 18 Jahre alter junger Mann. Er soll hier Tonio heißen.

Beim Gespräch in einem Café am Potsdamer Platz spricht er über die Jahre zwischen zwölf und 16, als er sich zum Akrobaten ausbilden lassen wollte, zum Artisten, der anschließend im Varieté Pyramiden aus Körpern bilden kann und andere Kunststücke.

„Zehn Runden laufen!“

Tonio erinnert sich, dass ihm nach dem ersten halben Jahr an der Artistikschule jede Freude am Unterricht vergangen war – auch weil „das ganze Team“ mit Strafen überzogen worden sei, wenn Übungen nicht gut klappten. Sah etwa die Pyramide nicht gut aus, habe es geheißen: „Warum seid ihr so schlecht?“ und „zehn Runden laufen!“

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FDP-Bildungspolitiker Paul Fresdorf hat parlamentarische Anfragen zur Schule gestellt, er habe den Eindruck gewonnen, „dass das Selbstwertgefühl junger Menschen gebrochen wird. Das geht doch nicht – staatlich organisiert!“

CDU-Bildungspolitikerin Emine Demirbüken-Wegner, die früher Staatssekretärin für Gesundheit und Soziales war, erinnert im Gespräch über die Ballettschule an ein Konzept gegen sexuelle Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen, das sie vorgelegt hatte. Als Scheeres ins Amt kam, landete es in der Schublade.

Auch Demirbüken-Wegner gegenüber haben sich Schülerinnen und Schüler der Ballettschule anvertraut. Sie habe ihnen striktes Schweigen versprochen.

Auch der Landesschülersprecher sprach mit Betroffenen

Offener ist Landesschülersprecher Miguel Góngora. Nach vielen Gesprächen an der Schule verfügt er über ein eng bedrucktes Dossier über mutmaßliche Vorfälle in der Einrichtung, das hauptsächlich auf Aussagen aus der Schülerschaft beruhe. Darin ist auch die Rede von sexueller Anzüglichkeit mehrerer Lehrer gegenüber Schülerinnen und Schülern, von Belästigungen, einer sexualisierten Sprache und Affären.

Der krasseste Vorfall, sagt Miguel Góngora, beträfe eine junge Frau, sie habe sich operativ die Ohren verkleinern lassen, nachdem ihr eine Lehrerin gesagt habe, sie sei „zu hässlich“ und „eine Schande“. Die junge Frau sei noch immer „traumatisiert“.

Bedenke man, dass bei allen Vorwürfen, der Arbeit der Expertenkommission an der Aufklärung und den Ermittlungen der Clearingstelle der Schulbetrieb weiterlaufe, habe er „einige Vorwürfe zu erheben gegen die Senatorin“.

Am Mittwoch geht es vor Gericht unter anderem um die Doppelbelastung der Schüler durch abendliche Auftritte - etwa an der Staatsoper - und morgentlichen Unterricht.
Am Mittwoch geht es vor Gericht unter anderem um die Doppelbelastung der Schüler durch abendliche Auftritte - etwa an der Staatsoper - und morgentlichen Unterricht.

© Mike Wolff

Der Zwischenbericht der Expertenkommission ist ein Desaster für die politisch Verantwortlichen – und die Schulaufsicht: „Die erhobenen Vorwürfe lassen sich als Gefährdung des seelischen und körperlichen Wohls von Schülerinnen und Schülern und als Bestehen einer ,Kultur der Angst‘ an der Schule zusammenfassen“, heißt es da.

Scheeres muss den Abschlussbericht der Kommission im August abwarten. Man kann Scheeres – seit dem RBB-Bericht – nicht mehr vorwerfen, zu wenig zu tun. Im Gegenteil: Nicht nur die Unterstützer des gekündigten Schulleiters Ralf Stabel werfen ihr vor, dass sie dessen Stelle zu früh neu ausgeschrieben habe. Und dann hat sie ihm sogar fristlos gekündigt, ohne dass klar ist, ob sie dafür arbeitsrechtlich genug in der Hand hat.

63 Mitarbeiter, ein Brief

Vorgewarnt war sie dennoch längst. Regina Kittler, Bildungsexpertin der Berliner Linken-Fraktion, hatte der Senatorin im Herbst von Missständen an der Eliteschule berichtet. Zudem gibt es seit Januar ein umfangreiches „Statement der Schülerschaft“, in dem geschildert wird, wie Schüler von Pädagogen schikaniert wurden.

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Von besonderer Wucht aber war ein auf den November 2019 datierter Brief von 63 Mitarbeitern, gerichtet an die „Verantwortlichen in Schulleitung und Senatsverwaltung“. In ihrem „Antrag auf Gewährleistung der Fürsorgepflicht“ beschreiben sie eine „extreme Erschöpfung“ der Kinder, die aber Angst hätten, sich mit der Bitte um Entlastung an die Schulleitung zu wenden. Sie befürchteten „Sanktionen“.

Die Mitarbeiter schlossen daraus, dass eine „Kultur der Angst“ herrsche, selber unterschrieben sie den Brief kreuz und quer, „als solle man nicht sehen, wer zuerst unterzeichnet hatte“, sagt eine ehemalige Lehrkraft. Man habe ja gewusst, wie an der Schule mit Kritikern umgegangen werde.

Originaldokumente zum Thema:

Das Papier zeigte Wirkung, es waren zu viele Unterzeichner, als dass man sie hätte ignorieren können. Stabel und der Leiter des an der Schule angesiedelten Landesjugendballetts, Gregor Seyffert, wurden noch im Februar freigestellt und erhielten Hausverbot. Hausverbot für zwei bekannte Ballettleute – da glaubte wahrscheinlich mancher aus der Szene zwischen Dresden und München, zwischen Chemnitz und Havanna, er habe sich verhört.

Hausverbot und „Rufmord“

Dem Hausverbot und der Freistellung folgte kurz darauf die Neuausschreibung der Direktorenstelle und zwei Monate später Stabels Kündigung. Juristen sehen Scheeres’ Vorgehen mit Grausen: Sie warnen, die Senatorin habe nicht genug in der Hand, um Stabel loszuwerden. Ein früherer Abteilungsleiter spricht von „Rufmord“ und „rechtsstaatlich unangemessenen Schritten“ der Schulbehörde und setzt sich öffentlich für die Wiedereinsetzung Stabels und Seyfferts ein.

Dutzende Schüler und Eltern gaben zu Protokoll, dass sie mit der Schule hoch zufrieden seien - schon im März hatte eine Angestellte der Schule die Positivberichte zusammengetragen.

Getrenntes Trio. Bildungssenatorin Scheeres mit Schulleiter Stabel (r.) und Ballettleiter Seyffert.
Getrenntes Trio. Bildungssenatorin Scheeres mit Schulleiter Stabel (r.) und Ballettleiter Seyffert.

© picture alliance/dpa/Christophe Gateau

Schulleiter Stabel hatte von Anfang an öffentlich mitteilen lassen, dass die im RBB-Bericht vorgetragenen Vorwürfe nicht zuträfen. Seitdem lässt er seinen Anwalt sprechen - und seine Unterstützer. Aus ihrer Darstellung ergibt sich folgendes Bild: Mobbing und schädigendes Verhalten seien ausschließlich von einzelnen Mitarbeitern ausgegangen. Stabel habe nichts gewusst.

Stabel selbst ließ auf Anfrage mitteilen, es treffe nicht zu, dass Schüler, die Kritik äußerten, bei Auftritten benachteiligt würden. Im Übrigen habe „der überwiegende Teil der Lehrkräfte, die direkt mit der Fürsorgepflicht im Rahmen ihrer Dienstpflicht betraut sind“, den Antrag nicht unterschrieben. Einige der Unterschriften seien später sogar zurückgezogen worden. Auch den Vorwurf, der allgemeinbildende Unterricht sei zu stark den Ballettproben und Auftritten untergeordnet worden, lässt Stabel nicht gelten, sondern verweist auf die guten Ergebnisse der Absolventen.

Tatsächlich waren auch in diesem Jahr die Abiturienten der Ballettschule unter den überdurchschnittlich guten. Wobei man allerdings beachten muss, dass es gemäß der Übersicht der Bildungsverwaltung dieses Jahr nur insgesamt 13 Absolventen an der Schule gab, woraus eine extrem günstige Lehrer-Schüler-Relation resultiert.

„So kann man eine Schule nicht leiten“

Da bis heute nicht klar ist, ob sich mutmaßliche Opfer von Misshandlungen vor Gericht als Zeugen gegen Stabel zur Verfügung stellen, muss die Bildungsverwaltung mit anderen Kündigungsgründen agieren – wie einem Defizit an erteilten Unterrichtsstunden oder zu Unrecht erteilten Zeugnissen. Ob das ausreicht vor dem Arbeitsgericht, ist offen.

Aber auch Scheeres hat Unterstützer. Besonderes Gewicht hat der Chef der Expertenkommission. Kaum jemand im Berliner Bildungswesen gilt als derart autark wie Klaus Brunswicker. „So kann man eine Schule nicht leiten“, entfuhr es dem langjährigen erfolgreichen Direktor der Sophie-Scholl-Sekundarschule in Berlin-Schöneberg angesichts dessen, dass Stabel die Mitwirkungsrechte von Gremien „systematisch unterwandert und behindert“ habe.

Die Expertenkommission zur Aufklärung des Ballettschulskandals tagt unter der Leitung von Klaus Brunswicker.
Die Expertenkommission zur Aufklärung des Ballettschulskandals tagt unter der Leitung von Klaus Brunswicker.

© Kitty Kleist-Heinrich

Als Brunswicker im Mai den Zwischenbericht der Kommission vorlegte, resümierte er, Schüler seien „persönlichen Beleidigungen und Androhung von individuellen Repressalien“ ausgesetzt gewesen.

Stabels Thema: Politik und Tanz

Zum Gesamtbild der Schule gehörten für die von Scheeres berufenen Experten auch „hierarchisches Denken, autoritäre Führung und Elitebildung“. Durch Intransparenz bei wichtigen Entscheidungen werde „der Eindruck einer Günstlingswirtschaft“ erzeugt. Unstrittig sei, dass an der Schule das Kindeswohl gefährdet sei, fasst Brunswicker die Befunde zusammen.

Und das – es mag nicht unbedingt ein Randaspekt sein – unter finanziell guten Bedingungen: Die Expertenkommission schreibt, die Schulleitung scheine bei der Bewirtschaftung „große Gestaltungsspielräume“ zu haben. Offenbar sei Berlins Bildungspolitikern bei der Tanzausbildung kein Preis zu hoch, schlussfolgert ein Lehrer.

Wohl niemand wie Ralf Stabel hat so genau beschrieben, wie sich die Politik darin gefällt, sich mit der Ballettkunst zu schmücken. Stabel hat diesem Phänomen als Tanzhistoriker hinterhergespürt – vor allem am Beispiel der Palucca-Schule in Dresden, einer der berühmtesten Tanzadressen der Welt. An ihr lässt sich – entlang ihrer Geschichte von 1925 bis heute – gut zeigen, zu welchen Winkelzügen die jeweiligen Machthaber bereit waren, um den Tanz in ihrem Sinne zu beeinflussen.

Der kritische Blick der Schulaufsicht ging verloren

Stabel hat Jahre damit verbracht, dieser Symbiose von Tanz und Politik auf die Spur zu kommen, und ihr im Jahr 2002 seine Dissertation an der Universität Bremen gewidmet. Auch danach blieb er dem Thema treu. In seinem Buch „IM ,Tänzer‘: Der Tanz und die Staatssicherheit“ geht es um die Einflussnahme von SED-Schnüfflern auf die Berliner Lindenoper.

Da mag es Stabel wahrscheinlich auch nicht gewundert haben, dass das „Arm, aber sexy“-Berlin des damals Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit in Prenzlauer Berg das modernste, größte und bestausgestattete Ballettausbildungszentrum des Landes bauen ließ. Das war 2002 – auf dem Höhepunkt der Berliner Sparpolitik.

Die Staatliche Ballett- und Artistikschule ging aus zwei Spezialschulen der DDR hervor.
Die Staatliche Ballett- und Artistikschule ging aus zwei Spezialschulen der DDR hervor.

© promo

Angesichts von so viel Euphorie der Senatsspitzen für den Tanz muss der kritische Blick der Schulaufsicht verloren gegangen sein. Als die Schulinspekteure 2015 ein mangelndes Qualitätsmanagement und mangelnde Mitwirkungsmöglichkeiten beanstandeten, gingen die Schulaufsichtsbeamten dem nicht nach. Die Inspekteure wiederum versäumten es, in ihrem Bericht nach der Fluktuation der Schüler und den Gründen dafür zu fragen.

Ein etwas strengerer Blick, der nicht zu viel Rücksicht nehmen musste, fiel auf die Schule anlässlich der Akkreditierung des Bachelorstudiengangs „Bühnentanz“. Die Akkreditierungskommission beanstandete 2016 die hohen Abgängerzahlen der ausländischen Schüler – und empfahl, das berufliche Fortkommen der Absolventen zu evaluieren.

"Ein Neustart kann nur mit neuen Personen gelingen“

Zu denen, die als Mitglied der Akkreditierungskommission der Schule auf den Grund gehen konnte, gehörte damals Margrit Bischof von der Universität Bern. Was denkt sie über den aktuellen Skandal?

„Die Staatliche Ballettschule Berlin und die Hochschule für Bühnentanz Berlin haben in der Vergangenheit vieles geleistet und vieles erreicht“, sagt Bischof. Allerdings machten „die derzeitige Krise und die Vorwürfe deutlich, „dass dem Tanz und den vielen Tanzschülern und Tanzschülerinnen zuliebe“ eine Reform „dringend angezeigt“ sei. Für Bischof steht fest, dass die Schule ein zeitgemäßes Konzept brauche, „das eine Kultur des Dialogs fördert, das Transparenz ins Zentrum stellt und alle Ausbildungseinrichtungen zur Selbstreflexion ermutigt“. Sie ist davon überzeugt, „dass ein Neustart mit einem neuen Konzept nur mit neuen Personen gelingen kann“.

Die meisten Schüler bleiben auf der Strecke

Ebenso wie die Akkreditierungskommission ist auch der FDP-Abgeordnete Fresdorf der Frage der hohen Schülerfluktuation nachgegangen. Aus der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage vom März 2020 geht hervor, dass manchmal nicht einmal ein Drittel eines Jahrgangs die Ausbildung abgeschlossen hat. 2006/2007 hatten 25 Schülerinnen und Schüler ihre Ausbildung begonnen – zehn schafften nach sechs Jahren den Abschluss. Der Jahrgang 2010/11 begann mit 33 Schülerinnen und Schülern – elf brachten ihre Ausbildung 2018/19 zu Ende.

Die Kultur der Angst, die die Expertenkommission bestätigt hat, kann möglicherweise nur deshalb bestens gedeihen, weil diese Schule einzigartig und konkurrenzlos ist. Wer etwas werden will als Tänzerin, Tänzer oder Artist, muss hier bestehen – und sei die Schule noch so hart.

Janine, die ehemalige Schülerin, die sich selbst befreit hat, sagt zu den Reaktionen auf ihr Instagram-Video, eine weitere Ex-Schülerin der Ballettschule habe sich bei ihr gemeldet. „Ihr sind die Tränen gekommen.“

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