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Im Farbrausch. Der Technicolorfilm „The Wizard of Oz“ von 1939 läuft in der Retrospektive der Berlinale.

© George Eastman House/Turner Entertainment Co

Berlinale - 100 Jahre Technicolor: Schönfärberei - Was Farben mit uns machen

Die Berlinale feiert 100 Jahre Technicolorfilm. Axel Buether erforscht, was Farben mit uns machen. Er weiß, warum Energiesparlampen jedem Gespräch schaden, und Filmregisseure so gerne die Farbe Blau einsetzen.

Nachmittags um vier in Wuppertal, die Schwebebahn, aus der einst ein grauer Elefant in die Wupper fiel, stakst auf ihren grünstählernen Beinen der Länge nach durch die Stadt. Der blaue Bus der städtischen Betriebe fährt hinauf zur Bergischen Universität, ein Betonklotz, gehirngrau, als wolle er sagen: Willkommen in der Theorie.

Schon bleichen die Farben aus der Stadt, wie allabendlich auf der ganzen Erde, doch in Gebäude I, Raum16.22, reflektiert bei geöffneter Tür ein unwahrscheinliches, geradezu sonniges Gelb von der Wand in den Gang: Der Farbforscher hat Sprechstunde.

Die Berlinale stellt in diesem Jahr in der Retrospektive den Einzug des Farbfilms ins Kino vor, Technicolor. Die Erfindung ist genau 100 Jahre alt. „Vom Winde verweht“ kennt die Welt. Aber tatsächlich ist ja eben unsere ganze Wirklichkeit ein Farbenrausch. Axel Buether, Reiseleiter in der Welt der Farben, sagt, sie lenken unseren Blick. Und das nicht nur im Film. Es gibt Experten für die Anwendung von Farbe und die Wahrnehmung – und sogar Experten für Farbe speziell im Film. Buether lehrt visuelle Kommunikation und ist „in Deutschland der Experte für die Wahrnehmung“.

Wir alle, sagt Buether, reagieren ständig auf Farben, bis hinein in unseren Stoffwechsel. Nachgewiesen sei zum Beispiel eine direkte Reaktion des Organismus auf Cremebeige und Beerentöne. Der Körper meldet: Unterzucker. Den könne man messen und spüren. Weshalb zum Beispiel die Einrichtung eines Cafés in diesen Farben direkt an den Appetit der Gäste gekoppelt ist.

Europa wird kälter - und blauer

Buether lehrt in einem Zeitalter, in dem die Farben kälter werden. Das Jahrhundert ist für den europäischen Kontinent blauer geworden, spätestens nach der Abschaffung der alten Glühbirne.

Jedoch sei Rot die wichtigste Farbe in der nonverbalen Kommunikation. „Gesichtsröte bei Menschen signalisiert optische Bestätigung.“ Es sind feine Signale gemeint, keine tiefe Schamesröte – sie sorgen für emotionale Glaubwürdigkeit. Blaues Licht, sagt Buether, gefährde deshalb Glaubwürdigkeit, Grundlage für jedes gute Gespräch. „Sie würden nie warm werden.“ Aber darüber, dass Energiesparlampen in einem körperlichen Sinn die Kommunikation der Menschen behindern, redeten die Hersteller nie.

Durch Farben, sagt Buether, ordnen wir ja auch dem Essen eine Qualität und einen Nährwert zu. Rotfärbungen im Fleisch signalisieren Frische – „wir waren ja einmal Aasfresser“. Angenommen, in der Küche brennen Energiesparlampen? „Dann haben sie auch keinen Appetit mehr“, sagt Buether.

Das Potenzial der Energiesparlampe als Diät-Birne ist offenbar noch gar nicht ausgeschöpft.

Farbforschung ist ein Gebiet von schwankender Relevanz. Es kann geschehen, dass Axel Buether, Jahrgang 1967, mit seinen Studenten über Jahre an einem Projekt forscht, eine Million Bilder generiert, das alles passiert im Stillen. Plötzlich rufen gleich mehrere Medien an einem Tag an, die wissen wollen, was es bedeutet, wenn die FDP sich einen neuen Anstrich in Magenta gibt.

Frische und Aktion solle das symbolisieren, sagt Buether. Aber Magenta hin, Magenta her. Die Aussage der Farbe muss durch Inhalt abgedeckt sein. Er selbst ist natürlich ein Ausweis seiner Profession, die Farben kräftig, „wertige“ Farbtiefe in Pullover, Jacke und Hose. Der Sättigungsgrad eine Farbe, ihre Tiefe, würden heute viel deutlicher den Wert einer Sache zeigen als ihre Farbrichtung. Obwohl auch die direkt mit Status gekoppelt ist. „Lackieren Sie mal einen Daimler rosa – da haben Sie sofort 20 000 Euro vernichtet.“

Das "Rentnerbeige" ist wissenschaftlich belegbar

Im Farbrausch. Der Technicolorfilm „The Wizard of Oz“ von 1939 läuft in der Retrospektive der Berlinale.
Im Farbrausch. Der Technicolorfilm „The Wizard of Oz“ von 1939 läuft in der Retrospektive der Berlinale.

© George Eastman House/Turner Entertainment Co

Farben vermittelten noch heute Orientierung in sozialen Hierarchien. Selbst in Turkmenistan seien die Schaffelle der Reichen die hellsten. Solvenz kann die Farbe von dunkelblauen hanseatischen Dufflecoats oder alten, wachsgrünen englischen Barbour-Jacken annehmen. Das ist natürlich ein Vorurteil.

Buether hat dagegen das viel belachte Rentnerbeige empirisch nachgewiesen. Mit seinen Studenten hat er mit hunderten Fotos „Farbmilieus“ in Halle erstellt: für das Bordell, das Seniorenheim, das Theater, den Kindergarten. In der Diakonie herrschten eindeutig Beige-Ocker-und Grüntöne.

„Man beschränkt sich selber“, sagt Buether über das Alter. Der Ältere meide Schwarz. Suche hellere Naturfarben. Eine edlere Version von Beige, Violett, Chromoxid, „Schlösser-Farben“, leuchtend, aber nicht grell. Alte Leute wollten optisch nicht so laut sein und trügen deshalb gebrochene, „abwartende“ Farben. „Erziehung im Kollektiv“ nennt Buether das. Und Kollektive wirken überall.

Die Branche bestimmt den Dresscode

Buether berichtet von Studenten, die ihr Studium bunt beginnen und dann in den jeweiligen Dress-Code einer Branche hineinwachsen: gedeckt und dezent für geistige Tätigkeiten, bunter für kommunikative, Wissenschaftler seien in der Regel „sehr entfärbt“. Ja, das sei auch Gruppendruck. Nur die Trotzigen bleiben bunt. In der Pubertät, sagt Buether, gebe es oft knallige Fehlgriffe beim Kleiderkauf, Symptom der Suche und der Rebellion. Dann sagt er den schönen Satz: „Erwachsensein ist auch eine Art der Entfärbung.“

Entfärbung stellte er auch in Unterschichtenmilieus fest, aus denen aber einzelne Dinge sehr grell hervorstechen. Schuld daran ist auch die schlechte Qualität günstiger Pigmente, zum Beispiel die verblassenden Teer-Pigmente schlechter Straßen. Die grau-bräunliche Palette, nicht lichtecht, werde so tatsächlich zur Vorstadt-Farbe.

Buether selbst mischte vor zwei Jahren Abtönfarbe ins Weiß und strich die Wand gegenüber von seinem Schreibtisch sonnengelb. Das war kein Trotz, sondern Kenntnis über die euphorisierende Wirkung künstlichen Sonnenscheins in einem Wuppertaler Dozentenbüro. Darin sitzt er nun in seinem Pullover zwischen Petrol und Türkis und leuchtet sogar ein bisschen von innen. Die Identität und die Ausstrahlung einer Stadt war lange die Frage ihrer typische Baumaterialien: Dresden leuchtet in der Farbe seines Sandsteins, Marmor charakterisiert Venedig, der Ziegel Berlin und der dunkle Schiefer Wuppertal im Bergischen Land.

Es gibt Farben, die Jahrzehnte signalisieren, man kann sie sich inzwischen als Zitat bei der Foto-App Hipstamatic über die eigenen Bilder legen. Das Orange der 70er zum Beispiel, das ja von ganz verschiedenen Quellen herrühre: der Musik, den Drogen, den Reisen nach Indien, wo die Religion in Orange herkomme.

Der Berliner Osten erschien gelb, der Westen blau

Noch lange Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung konnte man oben vom Berliner Fernsehturm unten den Osten und den Westen der Stadt wegen ihrer unterschiedlichen Färbung klar voneinander trennen: gelblicher der Osten, bläulicher der Westen.

„Quecksilberdampflampen entfärben alles sofort“, sagt Buether. Alles erscheine gelb in ihrem Licht, das Farbspektrum schrumpft zusammen, die Kontraste treten schlechter hervor, alles sehe einfarbig, gelblich und trist aus. Die Tristesse der DDR war also auch ein Problem der Beleuchtung. Während einige noch fanden, die Farbtemperatur stünde auch für die jeweilige soziale Wärme oder Kälte der Systeme, wurden Stück für Stück die Laternen des Ostens durch die des Westens ersetzt.

Warum die Erde vom All aus immer grauer wirkt

Im Farbrausch. Der Technicolorfilm „The Wizard of Oz“ von 1939 läuft in der Retrospektive der Berlinale.
Im Farbrausch. Der Technicolorfilm „The Wizard of Oz“ von 1939 läuft in der Retrospektive der Berlinale.

© George Eastman House/Turner Entertainment Co

Auch Kaufkraft und Wert sei schon von Anfang an direkt über Farbe vermittelt worden – nicht etwa als Symbol. Es war zunächst die Farbe selbst, die so teuer war: Purpurrot zum Beispiel, das Sekret einer Meeresschnecke. Purpur war deshalb lange nur Würdenträgern vorbehalten, weshalb ein direkter Weg von dem Farbsekret einer Meeresschneckenart über die Mächtigen in Rom zum Roten Teppich der Berlinale führt.

Auch Blau, hergestellt aus zerstoßenem Lapislazuli, verströmte noch lange, quasi aus Gewohnheit, seinen kulturell geprägten Wert. Da war es schon längst durch günstiges Indigo ersetzt.

Blau, sagt Buether, sei ideal, um für Vertrauen zu werben, es steht für Stabilität, denn Blau verbinden wir instinktiv mit den Dingen, die wir nicht verändern können, denen wir deshalb eine ewige Wahrheit attestieren: Meer und Himmel, Tagesschau und Deutsche Bank.

Man könnte meinen, erst mit der massentauglichen Wiedergabetechnik Technicolor habe die Farbe vor 100 Jahren laufen gelernt. Aber weit gefehlt. In der zweiten Hälte des 19. Jahrhunderts, als man auf einmal Farben günstig in Tuben füllen konnte, rannten die Maler mit ihnen sogleich nach draußen. Prompt entstand der Impressionismus: Das Licht und die Farben selbst wurden ihr Thema. Wie der gleiche Gegenstand zu jeder Tageszeit in anderem Licht und damit in einer anderen Farbe erscheint ... Die faszinierten Maler versuchten mit Lichtpunkten, die Farben zu fassen. Der Pointilismus entstand. Die Cote d'Azur, die Bretagne wurden Malernester, in denen die Branche gemeinsam der Farbe huldigte.

Die Farbe der Menschheit? Grau

Und trotzdem, sagt Buether, sei die Farbe der menschlichen Kultur auf diesem Planeten ausgerechnet: Grau.

Fast 70 Prozent aller auf der Erde durch den Menschen hergestellten Farben seien nämlich schwarze und titanweiße Pigmente, die sich über die Jahre immer mehr auf der Erdoberfläche verteilen. Satellitenbilder zeigten, wie insgesamt eine Vergrauung der Erde durch den Menschen stattfindet: durch die Versiegelung von Flächen, die Papiere, Baumaterial. Die Pigmente diffundierten überall hin, ihre Zunahme lasse sich selbst in den Körpern von Lebewesen nachweisen. Vielleicht ist das die wahre Grausamkeit des Menschen in Bezug auf seinen Planeten.

Buether hat jetzt in Gedanken einmal eine farbige Panorama-Kinoleinwand um den ganzen Globus gespannt. Er hat herein- und herausgezoomt. Die Welt ist ein Kessel Buntes. Doch bevor allen schwindelig wird, wird es schlagartig wieder blasser.

Denn schon ist Buether bei der Moderne angelangt: Die Moderne habe ja in ihrem Prinzip des Purismus die Farbe als Ornament verbannt. „Anstriche gingen gar nicht – aber Form und Farbe gehörten immer zusammen, bis die Moderne die Farbe abgespalten hat.“ Diese ästhetische Strömung habe einen großen Teil der Bedeutungen in der Welt negiert. Die Moderne macht Buether deshalb für die Verkümmerung einer Kulturtechnik verantwortlich. Der Purismus der Moderne bezog sich ja auf die Antike, sagt Buether, und die hielt man damals für weiß. „Aber Sie kennen es ja: Die Tempel waren in Wahrheit alle farbig!“

Was ist nun im Film, mit der Farbe im Film? Weil in dieser künstlichen Welt nichts automatisch gegeben ist, muss alles eine Entscheidung sein. Im Film werde Farbe deshalb bewusst eingesetzt, sagt Buether. Seit mit Technicolor der Farbfilm flächendeckend eingeführt wurde, ist Farbe zur Regieentscheidung geworden: inhaltliche Bindungen, Anschlüsse, Schnitte – Farbe ist immer ein Hilfsmittel für die Orientierung. Abstrakte Handlungen und blitzschnelle Schnitte seien nur mit Hilfe von Farbführung zu verstehen.

Im Film ist Farbe ein dramaturgisches Mittel

Filme würden heute sogar überhell gedreht, um später bei der Bearbeitung noch eine Regie-Entscheidung zu haben: Mit einer Nachbearbeitung, einer Farbkorrektur namens „Color-Grading“, werde Farbe ein dramaturgisches Mittel.

Ab heute, während der Berlinale, wird es wieder tausendfach zu sehen sein: Farbe wird wie eine Geste benutzt zur Vorwegnahme von Handlungen. Wiederkehrende Symbole in Rot. In Blau: Offenbarungen. Blau ist die Stunde der Wahrheit. „Achten Sie mal drauf.“

Wenn heute die Filmfestspiele starten, ist die Regie deshalb nicht auf die Leinwand beschränkt. Das ganze Orchester aus körperlicher Reaktion und sozialer Orientierung spielt auf. In der Hauptrolle: die Farben. Kleider reflektieren, im Gespräch erröten die Menschen, das Grau Berlins macht nur Kulisse und aus dem Purpur der Mächtigen ist längst die Farbe des Roten Teppichs geworden.

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

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