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Ins kalte Wasser. Im kommenden Schuljahr sollen wieder Hunderte Quer- und Seiteneinsteiger den Pädagogenmangel in Berlin ausgleichen.

© Julian Stratenschulte/dpa

Zwischen Himmel und Hölle: Quereinsteiger ins Lehramt berichten aus Berlins Schulalltag

Der eine fühlt sich nach einer Woche, als hätte er zwei Weltkriege überlebt. Die andere hat ihr Glück gefunden. Zwei Lehrer erzählen vom Neustart.

Fünf Jahre Krise und keine Besserung in Sicht: Im kommenden Schuljahr sollen wieder Hunderte Quer- und Seiteneinsteiger den Pädagogenmangel in Berlin ausgleichen. Sechs der zehn neuen Lehrer werden keine didaktische Ausbildung haben. Können die das überhaupt? Hier berichten zwei von ihnen von der besten und der schlimmsten Entscheidung ihres Lebens.

Für Florian Kugel fühlte sich die erste Woche wie ein Überlebenskampf an. Und auch wenn er viele der Kinder ins Herz schließt, gibt er nach einem Jahr auf:

Es ist wie ein Schlag ins Gesicht

"In meiner ersten eigenen Unterrichtsstunde stehe ich sofort allein vor einer aufgedrehten 4. Klasse. Etwa 25 Kinder außer Rand und Band. Es ist wie ein Schlag ins Gesicht. Ich fühle mich wie ein Dompteur, der ohne Vorwarnung plötzlich in der Arena steht – ohne Peitsche und nackt.

Auf diese Situation war ich so nicht vorbereitet. Wie bin ich hier reingeraten?

Im Frühjahr 2018 bin ich seit zwei Jahren mit dem Studium fertig. Meine Karriere als freier Schriftsteller möchte nicht so richtig in Gang kommen, so dass ich mich mit wechselnden Jobs über Wasser halte. Die Flüchtlingsunterkunft, in der ich zuletzt als Sozialbetreuer gearbeitet habe, hat gerade geschlossen. Ich bin 32 Jahre alt und arbeitslos. In meinem Kopf höre ich die Stimmen meiner Eltern. „Such dir eine sichere Arbeit.“ „Denk an deine Zukunft.“ Das ist mir eigentlich zu bourgeois, aber ich möchte auch nicht als der arme Narr enden, der alles für seinen Traum opfert und dem am Ende nichts bleibt als die Gosse und das Gelächter des Universums.

Ausgerechnet mich lassen sie auf Grundschüler los

Immer wieder höre ich, dass Berlin verzweifelt Lehrkräfte sucht. Und immer wieder höre ich dieses magische Wort: „Quereinsteiger“. Niemals, denke ich. Und schicke eine Bewerbung ab. Nur zur Sicherheit. Falls sich nichts anderes findet.

Am 2. Juli sitze ich beim Senat und unterschreibe meinen Arbeitsvertrag. Plötzlich bin ich Lehrer und werde wenig später auf die Schülerschaft einer Grundschule in Spandau losgelassen. Ausgerechnet ich.

Vorne und hinten: Anfänger. Sechs der zehn neuen Lehrer werden keine didaktische Ausbildung haben. Können die das überhaupt?
Vorne und hinten: Anfänger. Sechs der zehn neuen Lehrer werden keine didaktische Ausbildung haben. Können die das überhaupt?

© Daniel Reinhardt/dpa

Sie bereiten einen schon vor, auf das, was einen erwartet. Sie versuchen es zumindest. Am Anfang des Quereinstiegs stehen sieben Tage Einführungsseminare in brütend heißen Räumen, viele Stockwerke über der Friedrichstraße, abgekoppelt von jeglicher Realität.

Eine Lehrerin quält uns mit Rollenklischees

In den Seminaren berichten größtenteils pensionierte Lehrkräfte von ihren Erfahrungen, erzählen, was zu beachten ist. Darunter Tipps, wie, dass man sich im Lehrerzimmer nicht einfach irgendwohin setzen solle, um es sich nicht mit Kollegen zu verscherzen. Oder dass man nicht einfach Dinge aus dem Gemeinschaftskühlschrank futtern solle. Eine Lehrerin quält uns mit Rollenklischees über Mädchen und Jungen aus den 50er Jahren. Um konkrete Methoden und die Organisation der Unterrichtsplanung geht es in den Einführungsseminaren leider nur in homöopathischen Dosen, obwohl es das einzig Sinnvolle ist. Dafür gibt es immer wieder Warnungen vor dem Kollegium: „Sie als Quereinsteiger haben da einen schweren Stand.“ An diesen Satz muss ich später oft denken – denn er trifft absolut nicht zu.

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Zumindest an meiner Schule werden wir Quereinsteiger (außer mir sind es drei andere) wirklich herzlich aufgenommen. Nur einmal kommt ein Schüler zu mir und erzählt, ein Kollege habe zu ihnen gesagt, ich sei kein richtiger Lehrer. Ich stelle den Kollegen zur Rede. Er dementiert. Es ist der einzige Zwischenfall dieser Art.

Mein Pate ist ein Glücksfall

Glücklicherweise bin ich in der Anfangszeit an der Schule nicht vollkommen allein. Uns werden Paten zur Seite gestellt. Es sind meist pensionierte Lehrkräfte, die uns über die ersten zwei Monate hinweg in je zwei Stunden die Woche begleiten, um Tipps zu geben. Mein Pate ist ein Glücksfall: Er nimmt sich viel Zeit, wirkt ruhig, abgeklärt, analysiert nie von oben herab. Von anderen weiß ich, dass das nicht immer so konstruktiv abläuft.

Eigentlich gehören zum Quereinstieg auch die berufsbegleitenden Studien – ich soll Mathe und Naturwissenschaften studieren. Leider sind nicht genug Studienplätze verfügbar, weshalb ich im ersten Jahr einfach so unterrichten soll.

Meine einzige echte Qualifikation ist mein Germanistikstudium. Angeblich werden dringend Grundschullehrer für Deutsch gesucht. Doch neben zahllosen Vertretungsstunden unterrichte ich vor allem Musik und Kunst. Zu Ersterem befähigt mich, dass ich Gitarre spiele – vornehmlich lange psychedelische Improvisationen. Notenlesen habe ich nie gelernt. Die Ehre, Kunst unterrichten zu dürfen, verdanke ich dem Umstand, dass ich seit dem 7. Schuljahr während der Schulstunden vor Langeweile häufig gezeichnet habe.

Plötzlich macht der Job fast Spaß

Neben Kunst und Musik darf ich einen sogenannten WUV-Kurs geben, also „verbindlichen Wahlunterricht“. Weil ich gerne schreibe, biete ich eine Schreibwerkstatt an. Drei Kinder kommen. Warum sind sie da? Der Kurs, in den sie eigentlich wollen, sei voll. Es läuft trotzdem gut. Sie zeichnen einen Comic. Sie sind so mit Leidenschaft dabei, dass mir der Job fast Spaß macht.

Daneben habe ich noch eine 4., eine 5. und eine 6. Klasse. Auch wenn ich sie alle mag, sie sind nicht die Einfachsten. Ich lerne zu schreien, dass ich mich vor meiner eigenen Stimme erschrecke. Die Kinder nehmen mich nicht wirklich ernst. Wie sie abgesehen von der Schulleitung und manchen Klassenlehrerinnen niemanden wirklich ernst nehmen. Sie mögen mich, eine Autorität bin ich nicht – will es wohl im Grunde meines Herzens auch nicht sein. Nach nicht einmal drei Wochen ist es auch mit der Ruhe in meiner Schreibwerkstatt vorbei, weil Kinder, die sich in anderen Kursen nicht benehmen, zu mir geschickt werden.

Militärischer Drill? So will ich nicht werden

Wenn ich bei anderen Lehrkräften hospitiere, stelle ich fest, dass dort nicht selten ein nahezu militärischer Drill regiert. So will ich nicht werden, aber ich verstehe, woher dieser Stil kommt.

Ein Beispiel: Ich unterrichte Musik in meiner 4. Klasse. Es ist Freitag, 6. Stunde. Das zweite Mal, dass ich diese Klasse habe. Schon als ich auf den Raum zugehe, höre ich, dass drinnen Tumult herrscht. Ein Junge rastet völlig aus. Er ist aggressiv, nicht ansprechbar. Fünf Kinder versuchen, ihn zu bändigen, hängen wie ein Klumpen an ihm, während er sich rot und wund schreit. Auf meine Intervention hin blickt ein Junge zu mir auf und sagt: „Der rastet immer aus. Wir dürfen ihn nicht aus der Klasse lassen, weil er sich sonst vor ein Auto wirft.“

Stress und Streit. Viele Berufsanfänger fühlen sich überfordert, wenn die Schüler untereinander kämpfen.
Stress und Streit. Viele Berufsanfänger fühlen sich überfordert, wenn die Schüler untereinander kämpfen.

© Imago/Photothek

Ich bin geschockt. Vor ein Auto? Ich gehe zum Pult, stelle meine Tasche ab und mich tot. Vollkommene Überforderung. Allein die Lautstärke. Da erblicke ich in der Ecke einen anderen Jungen, der an der Lippe blutet. Mit Wut in den Augen schaut er mich an und brüllt: „Ich bringe ihn um! Der hat mich getreten!“

Jetzt ist Schluss! Hinsetzen!

Nun brülle auch ich: „Jetzt ist Schluss! Lasst ihn sofort los! Alle hinsetzen!“ Kaum folgen die Kinder meiner Anweisung und lassen von ihm ab, rennt der aufgedrehte Junge aus dem Klassenzimmer. „Niemand läuft ihm nach!“, rufe ich, doch bevor ich das letzte Wort beendet habe, sind mindestens sieben Kinder schon draußen. Riesengeschrei auf dem Gang. Andere Lehrer kommen aus den Klassen. Ich stehe inmitten des Chaos. „Könnte mir vielleicht jemand helfen?“ Alle drehen sich um und verschwinden hinter sich schließenden Türen.

Unterdessen haben die Schülerinnen und Schüler den einen Jungen, der noch immer tobt und schreit, wieder gepackt und schleppen ihn wie eine Geisel zurück in die Klasse. Ich gehe hinterher und überwache das Ganze. Ich fühle mich hilflos. Was soll ich machen? Am Ende der Stunde halte ich eine kräftige Standpauke. Endlich habe ich es geschafft: Es herrscht kurz betroffene Stille. Es ist meine erste Woche an der Schule und ich fühle mich bereits als hätte ich zwei Weltkriege überlebt.

Ich zweifle sehr an meiner Kompetenz, erfahre aber bald, dass es selbst bei etablierten Kollegen oft nicht besser läuft. In einer Klasse gibt es mindestens vier schwerst-verhaltensauffällige Kinder – mindestens eines mit Medikation. Und ich werde als Quereinsteiger auf diese Kinder losgelassen, absolut nicht pädagogisch ausgebildet, ahnungslos, was den Umgang mit Kindern betrifft. Nach dem Motto: „Sie machen das schon. Hauptsache kein Unterrichtsausfall.“

Ich bin gerührt – und peinlich berührt

Natürlich gibt es auch schöne Erlebnisse. Da ist zum Beispiel ein Mädchen mit FAS (Fetales Alkoholsyndrom). Sie hat einen Narren an mir gefressen. Es geht soweit, dass sie mir ins Lehrerzimmer nachläuft, was einem Sakrileg gleichkommt. Unter anderem hospitiere ich in ihrer Klasse in Deutsch. Einmal sollen die Kinder Geschichten verfassen. Sie schreibt eine Geschichte mit dem Titel: „Ein Einhorn namens Herr Kugel“. Dieses Einhorn rettet die Welt und sein Kot besteht aus Muffins. Ich bin gerührt – und peinlich berührt. Die Klasse findet es ziemlich witzig.

Dann ist da eine 4. Klasse, die ich nur ein einziges Mal in Vertretung habe. Die Kinder dürfen eine Art Improvisationstheater veranstalten. Danach feiern sie mich wie einen Star. Bei uns hat es gefunkt. Als ich einmal in der Pause Aufsicht habe, werde ich mit Sprechchören auf dem Sportfeld empfangen.

In meiner 5. Klasse bin ich in einer Musikstunde vollkommen unvorbereitet. Zwei offensichtlich übersinnlich veranlagte Mädchen kommen vor der Stunde nach vorn, um mich zu retten. Sie wollen etwas vortanzen, bevor wir anfangen. Ich zucke die Achseln: nur zu. Wir starten das Youtubevideo – es ist einer der wenigen Klassenräume mit Smartboard – und los geht’s.

Ich will sie umarmen

Anschließend wollen alle etwas vorführen. Ich muss nichts machen, als das Ganze in geordnete Bahnen zu lenken. Es wird eine der kreativsten Stunden. Natürlich sind auch lächerliche Nummern darunter, wie der Junge mit dem Teddybärengesicht und der Vogelstimme, der einen auf dicke Hose, Gangsterrapper macht. Zum Schluss singt ein Mädchen ganz allein einen ziemlich rührenden Song. Nach der Stunde kommt sie zu mir und sagt, dass es das erste Mal gewesen sei, dass sie sich getraut habe, vor anderen zu singen. Ich will sie umarmen.

Da sind wirklich viele Kinder, die ich ins Herz geschlossen habe, egal welchen Intellekts, welchen Geschlechts, welcher Herkunft. Interessierte Kinder. Kreative und aufgeweckte Kinder. Extrem mitfühlende Kinder. Aber sie gehen unter in dem allgemeinen Rauschen der Missstände. Da wird baggerschaufelweise Potenzial für diese Gesellschaft verschenkt. Jeder beteuert, es zu sehen. Aber man muss es einmal selbst erleben, um den Ernst der Lage wirklich zu erkennen.

Stille, Kopfschütteln: Das geht so nicht weiter

Das Klischee vom faulen Lehrer ist definitiv ungerechtfertigt. Doch manche einst glänzende Augen sind stumpf und gleichgültig geworden. So gut wie alle sind mit den Nerven am Ende.

Der Mangel an Respekt und die Neigung zu Aggressivität unter der Schülerschaft sind hoch: Einmal bricht auf dem Sportplatz eine echte Massenschlägerei aus. Mehrere Klassen dürfen in den Wochen danach das Sportfeld nicht mehr betreten.

In der Pause stehe ich draußen mit den anderen. Manche Kollegin raucht drei Zigaretten nacheinander. Stille, Kopfschütteln: Das geht so nicht weiter.

Doch, denke ich, wahrscheinlich schon. Aber nicht mit mir.

Mir fehlt die Strenge, die Konsequenz und vor allem das, was man landläufig ein dickes Fell nennt. So funktioniert das nicht. Leider.

Ich lasse meinen Blick durch die qualmende Runde schweifen und denke an Allen Ginsberg: „I saw the best minds of my generation destroyed by madness …“. Ob diese Leute auch Lehrer waren?"

"Ich freue mich auf jeden neuen Tag": eine Quereinsteigerin im Glück

Cool at school. Es heißt, die älteren Quereinsteiger hätten oft einen Vorteil: Sie lassen sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen.
Cool at school. Es heißt, die älteren Quereinsteiger hätten oft einen Vorteil: Sie lassen sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen.

© Foto: Julian Stratenschulte/dpa

30 Jahre war Anna Blume in der Verlagsbranche, dann wollte sie einfach etwas Neues. Seitdem sie an einer Berliner Schule unterrichtet, ist ihr Leben auf den Kopf gestellt. Anfangs dachte Blume, sie kriege die Schüler nie in den Griff. Doch dann kam die Rettung:

Ich freue mich auf jeden neuen Tag

"Und dann stehe ich auf dem Pausenhof für meine Aufsicht. Die 1. Klasse, die ich unterrichte, umringt und umarmt mich. Sogar die Jungs, die im Unterricht nie aufpassen, kommen vom Fußballplatz angelaufen, um mich in ihre kleinen Arme zu schließen. Eigentlich ist es verboten, die Kinder anzufassen. Aber der Ansturm lässt sich kaum abwehren. Mein Herz quillt über. Und ich weiß, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe.

Ich bin seit Kurzem Lehrerin. Quereinsteigerin, wie man das so nennt. Drei Jahrzehnte habe ich in der Verlagsbranche gearbeitet, bis mir das zu langweilig wurde. Seit ich an dieser Schule unterrichte, ist mein Leben auf den Kopf gestellt. Und ich freue mich auf jeden neuen Tag.

Es fing damit an, dass ich etwas Neues machen wollte. Unsere Tochter war aus dem Haus und mir wurde es in meinem Büro zu still und zu einsam. Ich hatte es geliebt, Bücher zu machen, aber die immer geringer werdenden Honorare ließen mich an der Wertschätzung für meine Arbeit zweifeln. Ich wollte einen Job, der sinnvoll ist, vernünftig bezahlt. Daran, Lehrerin zu werden, dachte ich nicht.

Lehrerin? Wollte ich nie werden

Ich bin selbst Lehrerkind, viele Freundinnen sind Grundschullehrerinnen geworden. Während meines Studiums hatte ich mich ganz bewusst dagegen entschieden. Doch dann hörte ich im Sommer 2018 einen Bericht über Quereinsteiger im Radio. Und konnte ich nicht tatsächlich gut mit Kindern? Hatte ich nicht ohnehin Spaß daran gehabt, mich an der Schule meiner Tochter ehrenamtlich zu engagieren? Ein Freund, pensionierter Grundschullehrer, mit dem ich über die Idee sprach, bestärkte mich. Ich malte mir aus, was ich den Kindern alles beibringen, was für Projekte wir machen könnten. Social Media, Computerkurse, Schülerzeitung ...

Die Realität, sollte ich noch herausfinden, würde mir allerdings ganz andere Herausforderungen bescheren.

Neustart mit 57? Kein Problem

Ich fand heraus, dass ich mit dem Magister in Germanistik und Geschichte sofort ins Referendariat gehen konnte. Mein Alter – ich bin 57 Jahre alt, – sei kein Problem, sagte mir meine Ansprechpartnerin in der Bewerbungsstelle der Senatsverwaltung. Oft kämen ältere Kollegen sogar besser zurecht als jüngere, weil die schon Erfahrungen gesammelt hätten. Im Beruf, als Eltern, im Leben. Leute wie uns könne nichts so leicht aus der Ruhe bringen. Sie hatte Recht.

Schwerer Start. In den Brennpunktschulen kommen viele Kinder ohne Unterrichtsmaterialien in die Klasse.
Schwerer Start. In den Brennpunktschulen kommen viele Kinder ohne Unterrichtsmaterialien in die Klasse.

© Philipp Schulze/dpa

Ich bewarb mich für das zweite Halbjahr, wurde angenommen und freute mich auf das Casting im Dezember, von dem ich schon viel gehört hatte: Massen an Schulleitern säßen wenigen Quereinsteigern gegenüber, wer sich nicht total doof anstelle, könne sich vor Angeboten kaum retten.

Am Tag des Castings saßen fünf Schulleiter etwa 50 Bewerbern gegenüber. Keine Chance. Zuvor war ich bereits durch einige Schulen im Berliner Südwesten getingelt. Nein, Quereinsteiger bräuchten sie nicht, hieß es. Oder sie bräuchten schon welche, hätten aber keine Zeit, sich um sie zu kümmern. Ich lernte, dass die Schulen umso weniger bereit waren, Quereinsteiger zu akzeptieren, je besser der Stadtteil war. Bedarf hatten zu diesem Zeitpunkt nur Marzahn-Hellersdorf und Spandau.

Ich fuhr also im Januar durch Spandau. In meiner ersten Runde gab ich meine Unterlagen in zehn Schulen ab. Vier Tage später saß ich meiner zukünftigen Schulleiterin gegenüber.

Die erste Stunde: Ich gleich alleine ran

Die Schüler könnten schwierig sein. „Bei uns steht nicht so sehr die Bildungsarbeit, als vielmehr die Beziehungsarbeit im Vordergrund“, hatte die Schulleiterin gesagt. 70 Prozent von ihnen sind nicht deutscher Herkunftssprache, wie das im Verwaltungsdeutsch heißt. Doch die Stimmung an der Schule war freundlich. Hier, dachte ich, könnte ich mich wohlfühlen. Ich sagte zu.

Am 11. Februar hatte ich meine erste Stunde. Eigentlich war geplant, dass ich in den Anfangstagen gemeinsam mit der Mathelehrerin in den Unterricht gehen sollte, mir einen Überblick verschaffen, mich an die Situation gewöhnen. Doch die Lehrerin lag krank zuhause im Bett. Ich hatte keine Zeit mich vorzubereiten. Ich musste sofort ran.

Ist ja ganz einfach! Von wegen

Ich stellte mich also der Klasse vor und ließ die Kinder von sich, ihren Familien und ihren Haustieren erzählen. Ist ja ganz einfach! So verbrachte ich alle meine ersten Stunden in den neuen Klassen.

Die Schulleitung hatte mir den Stundenplan gebastelt: Ich sollte Mathe, Englisch, Kunst und Gesellschaftswissenschaften unterrichten, war in einer 1., einer 4. und einer 5. Klasse eingeteilt. In der 1. Klasse bin ich Co-Klassenlehrerin. 16 Stunden unterrichtete ich allein, 7 Stunden war ich SoPäd, das heißt ich war als zweite Lehrkraft in der Klasse zuständig für Kinder mit einem besonderen Förderbedarf. Dann arbeitet man im Team und kann den erfahrenen Lehrern einiges abschauen.

Die ersten Tage liefen ganz gut. Doch ich spürte, wie die Kinder mich testeten. Sie waren laut, machten nicht das, was sie sollten. Hat man sie zur Ruhe gebracht, fangen andere wieder an, den Lautstärkepegel anzuheben. Ans Arbeiten ist in diesen Momenten nicht zu denken. Ich musste mir also etwas einfallen lassen.

Es war das reinste Chaos

In meiner zweiten Woche hatte ich die 1. Klasse gut im Griff. Doch in der 5. wollte es nicht ruhiger werden. Es war das reinste Chaos. Ich kam mir vor wie Uschi Glas bei „Fack ju Göhte“.

18 Kinder waren in dieser Klasse. Vier konnten kaum Deutsch lesen und schreiben. Zwei hatten einen sogenannten Förderschwerpunkt Lernen, das heißt, früher wären sie an einer Sonderschule gewesen. Mindestens zwei Kinder waren verhaltensauffällig und mussten Medikamente nehmen. Die Schüler stammten aus halb Ost-Europa, der Türkei, Syrien und Irak, drei waren deutsch. Die Kinder liefen ständig herum, brüllten sich an, manchmal kloppten sie sich auch.

Ich versuchte es mit Freundlichkeit. Dann mit Schreien, mit Strafen. Aber am Ende zieht man so immer den Kürzeren. Und noch wichtiger: So eine Lehrerin wollte ich nicht sein.

Die anderen Lehrer hatten ihre Hilfe angeboten. 40 Lehrer und 20 Erzieher sind in meinem Kollegium. Alle sehr hilfsbereit. Aber man muss genau wissen, was man wissen will. Es gibt kaum Handreichungen. Das meiste muss man für sich selbst herausfinden. Und die Kinder aus der 5. Klasse beschäftigten mich noch weit nach Feierabend.

Die Rettung kam in Form eines Hörbuchs

Die Rettung kam in Form eines Hörbuchs: „Für mich ist auch die 6. Stunde – Überleben unter Schülern“ von Frau Freitag. Sie ist eine Gesamtschullehrerin, die unter Pseudonym über ihren Schulalltag schreibt. Auf dem Heimweg hörte ich ihre Geschichten und es war, als spräche sie über meine Schüler. Aber nicht verzweifelt, sondern weise und lustig. Es war zum Totlachen.

Den ein oder anderen Tipp konnte ich mir abschauen. Zum Beispiel den, die eigene Pausenaufsicht zur Imagepflege zu nutzen.

Die Kids schubsen, ärgern, treten sich ständig. Richtig schlimme Situationen habe ich nicht erlebt, aber diese generelle Aggression nervt kolossal und beginnt schon in der ersten Klasse, zu 99 Prozent sind es Jungs. Fortan, wann immer sich so eine Situation abspielte, baute ich mich also vor den Kindern auf, verschränkte die Arme und sah sie an.

Das reichte meistens schon. Wenn nicht, zitierte ich die Schläger zur Klassenlehrerin oder zur Schulleitung. Und in den folgenden Wochen grüßte ich diese Typen immer übertrieben freundlich mit Namen. Sie grüßten nur widerwillig zurück, doch es ging darum, dass sie wussten, dass ich wusste, wer sie waren und dass ich sie beobachtete.

Ich lasse mir nicht auf der Nase herumtanzen

Es wirkte. Die Kinder merkten, dass ich zwar nett bin, mir aber nicht auf der Nase herumtanzen lasse. Meiner schwierigen 5. Klasse brachte ich Schreibpapier mit, damit sie sich Arbeitsmappen anlegen konnten. Zuvor hatten sie auf Schmierpapier, das in der Klasse auslag, geschrieben. Auch mein Unterricht wurde spannender. Was auch an der Hilfe der Kollegen und der Weiterbildung lag.

Ich durchlief mehrere Qualifizierungsmaßnahmen des sogenannten QuerBer, in denen ich über Unterrichtsplanung, Methoden und Konfliktlösung lernte. Außerdem wurde ich von einem Paten begleitet. Seit Sommer 2018 bekommen Quereinsteiger eine (meist pensionierte) Lehrkraft an die Seite gestellt. Mein Pate besuchte meinen Unterricht und anschließend gab es Feedbackgespräche.

Er hat mir viel beigebracht darüber, wie eine Stunde idealerweise organisiert ist: Einführung, Impuls, erarbeiten, vertiefen, resümieren und Wissen sichern. Wenn das gut geplant und vorbereitet ist, laufen die Stunden auch oft ganz gut. Denn dann kann man sich für die schwierigen Kinder etwas überlegen und sie beschäftigen.

Der wichtigste Tipp: keine Ablenkung!

Ich hatte nicht die eine drängende Frage an meinen Paten. Es waren 100. Aber der wichtigste Tipp – neben guter Vorbereitung – war vielleicht, keine Ablenkung zuzulassen. Es ist so banal! Auf den Tischen darf sich nichts befinden außer den Arbeitsmaterialien. Keine Trinkflasche, keine Glibberknete, Kippeln ist absolut verboten, niemand darf aufstehen, um etwas zum Papierkorb zu bringen, nicht in den Heften rumkrickeln, in den Büchern schon gar nicht.

Die Qualifizierungsmaßnahmen gingen acht Wochen. Immer häufiger bestellte ich meinen Paten in die 5. Klasse. Er sah, dass ich Fortschritte machte.

In den Osterferien hatten wir schließlich unsere Einführungswoche. Da hatten wir bereits einige Wochen unterrichtet. Von 8 Uhr bis 17 Uhr gab es endlich Seminare zu allen Belangen des Schullebens, von Recht über Alltag bis Unterrichtsplanung. Ein bisschen spät vielleicht, aber so konnten wir das Gelernte auf unsere Praxis beziehen. Alle Dozenten waren früher selbst Lehrer gewesen und begeistert von ihrem Beruf. Das übertrug sich.

Ich erfuhr viel über deutsche Rapper

Plötzlich funktionierte alles viel besser, strukturierter. Mit meiner 1. Klasse übte ich Gruppenarbeit. Eine 4. Klasse, die immer sehr laut gewesen war, ließ ich Teile des Unterrichts selbst organisieren, was mich viel über deutsche Rapper erfahren ließ. Und die schlimme 5. Klasse beschäftigte ich mit Puzzles zu Ägypten und dem Abschreiben von Hieroglyphen. Es war mucksmäuschenstill.

Ich bin professioneller geworden. Aber vor allem habe ich auch die Kinder besser kennengelernt und sie mich. Ich möchte, dass sie etwas lernen und ich weiß von Tag zu Tag besser, was ich tun muss, damit sie das auch tun.

Ich weiß: Ich werde wieder stolz sein

Am letzten Tag des Schuljahres machte ich für jede meiner Klassen etwas Besonderes. Meiner 5. Klasse gab ich ein Eis aus. Es war rührend, wie sehr sie sich freuten. Plötzlich plauderten sie über ihre Zukunft. Darüber, dass sie Polizist werden wollten, Friseur oder Ingenieur. Hatte ich nicht Wochen zuvor noch gedacht, aus denen würde nie etwas?

Nun gehen die Sommerferien zu Ende. Mein Referendariat beginnt. Und ich werde es genießen wieder von allen Seiten belagert zu werden. Werde stolz sein, wenn eine Stunde gelingt. Zusehen, wie die Kinder täglich ein Stück klüger werden. Und ich auch.

Anna Blume schreibt unter Pseudonym, damit Kollegen, Eltern und vor allem Kinder nicht von Außenstehenden erkannt werden können."

Florian Kugel, Anna Blume

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