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Wenn das Virus spaltet. Nicht jeder trägt die Maske aus Überzeugung, manche auch nur aus Höflichkeit.

© REUTERS/Fabrizio Bensch

Zwischen Gehorsam und Widerstand: Wie umgehen mit Verschwörungsgläubigen?

Die Unsicherheit ist gewaltig. Jeder schnitzt sich seine eigenen Regeln. Das ist kein Wunder. Aber ohne Rücksicht geht es nicht! Ein Appell.

Am Freitag lag ein Zettel im Briefkasten. Er kam von der Gegenöffentlichkeit, in Gestalt einer Autorin, die auf Zeitreisen und Wikinger spezialisiert ist. Ihre Corona-Botschaft, adrett gestaltet mit Quellenhinweisen, QR-Codes und Impressum: Ein „verfassungsrechtlich nicht legitimierter Zirkel“ habe „den wirtschaftlichen Kollaps beschlossen“.

Nun mag man das abtun als Geschwurbel einer Frau, die ungesund viel Zeit mit den verfassungsrechtlich in keiner Weise legitimierten Wikingern verbracht hat. Aber es bleibt doch die Verwunderung darüber, dass gebildete, lebenserfahrene Menschen den in der Tat unzureichenden und von Widersprüchen und Fehlern begleiteten Kampf einer gewählten Regierung auf unsicherem Terrain in eine zielgerichtete Verschwörung umdeuten.

Aber auch jene, die die Maßnahmen der verantwortlichen Politiker als Regieren auf Sicht anerkennen, müssen zugeben, dass die Unsicherheit gewaltig ist. Das dürfte am grünen Wohnsitz der erregten Autorin nicht anders sein als in den grauen Berliner Straßen.

Der unablässige Strom von Nachrichten, Statistiken und apokalyptischen Prophezeiungen bringt nie Klarheit, löst aber Depressionen aus, entzweit Freunde und setzt Familien unter Druck – Kontakte werden abgebrochen, Streit bricht aus. Und nicht selten scheint das Recht des Stärkeren zu gelten, wenn Kinder ihre gefährdeten Eltern praktisch in der Wohnung festhalten, um sie zu schützen und sogar eher risikolose Einkaufsgänge zu unterbinden. Das sei indiskutable Bevormundung, finden die einen, und die anderen sagen: Das hätte ich mit meinem Vater auch so machen sollen, denn jetzt liegt er auf der Intensivstation.

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Das über Jahrzehnte doch vermeintlich so einträchtige Berliner Bürgertum tut sich schwer beim Zusammenleben in der Krise. Dafür gibt es ganz verschiedene Gründe, einer ist rein politischer Art: Gerade wer die DDR-Diktatur hinter sich gebracht hat, wird allergisch auf alle vermeintlichen oder tatsächlichen Versuche reagieren, die grundgesetzlich garantierte Bürgerfreiheit einzuschränken; vom Ober-Apokalyptiker Karl Lauterbach ist ja bereits zu hören, dass sich das jetzt ausprobierte Instrumentarium auch gut zum Kampf gegen die Klimakrise eignen würde, und das natürlich ad infinitum.

In der Tat merkt man einigen der führenden Krisenstäbler die Lust am starken Staat an und mag mit Gründen anzweifeln, ob sie die gewonnene Macht nach Durchimpfung freiwillig wieder hergeben.

Es ist kein Wunder, dass Bürger sich eigene Regeln schnitzen

Der widersprüchliche Charakter der Maßnahmen ist ein weiterer Grund: Ein Kind darf die Eltern besuchen, aber die Eltern nicht das Kind? Der Lockdown soll so hart wie möglich sein, aber in den Schulen wird trotzdem Präsenzunterricht angesagt? Was ist der genaue Grund fürs Ziehen einer 15-Kilometer-Zone bezogen auf ebenso willkürlich gesetzte Präzedenzwerte? Und warum gelten die angeblich so irre dringenden Verschärfungen immer erst nächste Woche?

Es ist wirklich kein Wunder, dass sich jeder Bürger da seine eigenen Regeln schnitzt – nicht nur die kategorischen Leugner jeder Gefahr, sondern auch jene, die zwar in Sorge sind und die Gefahr ernst nehmen, aber mit den Verboten dann doch so pragmatisch umgehen wie ein Radler, der allein in der Nacht auf eine rote Ampel zufährt.

Unverständlich ist dennoch, dass eine Mischung aus Gedankenlosigkeit und Rücksichtslosigkeit nicht oft, aber doch merklich den Alltag bestimmt. Wer im Supermarkt einkauft, hat große Mühe, einen Bogen um andere Kunden zu machen, die die Maske als Alibi für komplette Rücksichtslosigkeit nehmen und drängeln, als sei noch 2019.

Bleiben jetzt doch zu: die Berliner Schulen.
Bleiben jetzt doch zu: die Berliner Schulen.

© dpa

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Der Ansturm auf die Ausflugsgebiete ist eine Folge des gefühlten Eingesperrtseins, und vermutlich fallen andererseits draußen im Grünen alle Vorsichtsmaßnahmen – wer auf einem schmalen Weg einer fröhlichen Familie mit allerhand Verwandten begegnet, die überhaupt nicht daran denkt, anderthalb Meter Platz zu machen, der weiß, was gemeint ist.

Und selbst wenn wir selbst das Hausrecht haben, ist gar nichts klar: Wenn der lang ersehnte Handwerker fröhlich ohne Maske ins Haus latscht wie immer seit Jahrzehnten, können wir ihn natürlich rausschmeißen. Aber wann kommt er dann wieder? Viele dieser Egoismen sind jüngeren Menschen zuzurechnen, deren Krankheitsrisiko gering ist.

Jeder von uns hat längst einen oder mehrere schwer Erkrankte in seinem Umkreis, meist sehr alt und vorerkrankt, aber jeder kennt auch viel mehr vor allem Jüngere, die die Krankheit ohne Symptome oder wie einen heftigen Schnupfen überwunden haben und nun allenfalls darüber klagen, dass das Glas Wein noch nicht wieder richtig schmeckt. Was kann einem 17-Jährigen da schon passieren?

Erst der Widerstand der Lehrer stoppte den Präsenzunterricht

Bereits im ersten Lockdown war eigentlich unübersehbar, dass das fröhliche Treiben auf den Schulhöfen und Schulwegen nicht mit den Zielen des Lockdowns übereinstimmte. Umso seltsamer, dass nun dieses Einfallstor für das Virus weit geöffnet bleiben sollte – erst der entschlossene Widerstand der Lehrer stoppte die verwegene Idee vom Präsenzunterricht. Pädagogen, die zwar persönlich vor die Schüler treten sollen, aber ihre eigenen Kinder nicht einmal privat besuchen dürfen – mit welcher inneren Überzeugung werden sie wohl den anderen Corona-Vorschriften folgen? Das Ergebnis ist Spaltung, ist Zwietracht.

Und die Lage dürfte sich mit zunehmenden Impfzahlen nicht grundsätzlich verbessern, denn dann folgt die Spaltung der Berliner in die Geimpften und die Nichtgeimpften, eine Kluft, die unsere Politiker anscheinend gewaltsam zusammenhalten wollen, verständlicherweise.

Das Impfzentrum im Velodrom bei einem Probelauf.
Das Impfzentrum im Velodrom bei einem Probelauf.

© Christophe Gateau/dp

Aber wie könnte rechtssicher begründet werden, dass man Bürgern, die weder in Gefahr sind noch eine Gefahr für andere bedeuten, elementare Grundrechte vorenthalten will? Und noch problematischer wird es, wenn die Geimpften die Masken von sich werfen und frohgemut durch Supermärkte und Arztpraxen laufen, ohne dass ihr Status erkennbar wäre; das wird passieren und gibt garantiert Ärger.

Es geht wohl auch auf Dauer nur mit gegenseitiger Rücksicht, mit der Bereitschaft, die Sorgen und Ängste anderer ernst zu nehmen, auch wenn sie im Einzelfall übertrieben oder unbegründet erscheinen.

Wer eine Maske nicht aus Überzeugung, aber wenigstens aus Höflichkeit trägt, wer den Abstand hält, nur um andere zu beruhigen und nicht als besserwisserischer Provokateur aufzutreten, der handelt richtig im Sinne des Gemeinwohls.

Im Kopf hinter der Maske darf er dann ja notfalls immer noch glauben, die Politiker hätten den wirtschaftlichen Kollaps des Landes beschlossen. Auch wenn das Unfug ist und bleibt. Ab Sonntag gelten erneut verschärfte Regeln.

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