Zwei potenziell tödliche Angriffe: Zahl der antisemitischen Vorfälle in Berlin steigt weiter
2021 hat die Recherche- und Informationsstelle RIAS 1052 antisemitische Vorfälle in Berlin registriert – die meisten in Neukölln. Viele Taten spielten sich in sozialen Medien ab.
Der Mann lief einfach nur in Spandau die Straße entlang, er dachte an nichts Böses. Er ahnte nicht, dass ihm eine verhängnisvolle Begegnung bevorstand. Drei Jugendliche kreuzten plötzlich seinen Weg, sie brüllten ihn an, er solle „Free Palestine“ rufen, „Freiheit für Palästina“. Der Mann weigerte sich, die Jugendlichen schlugen zu, ihr Opfer erlitt lebensgefährliche Kopfverletzungen. Es war ein Tag im Oktober 2021.
Und es war einer der 1052 antisemitische Vorfälle im vergangenen Jahr, den die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS Berlin) dokumentiert hat. Die Körperverletzung gehörte zu den schlimmsten Ereignissen in dieser Bilanz. „Zum ersten Mal, seit wir 2015 die Daten erheben, gab es in einem Jahr zwei Fälle von antisemitischer Gewalt, die potenziell tödlich hätten enden können“, sagte Benjamin Steinitz, Projektleiter des RIAS, als seine Organisation am Dienstag die Bilanz 2021 vorstellte.
Der zweite Vorfall ereignete sich im August, als man bei Reinigungsarbeiten in einem jüdischen Gemeindehaus in Mitte feststellte, dass eine Kugel eine Fensterscheibe im Flur durchschlagen hatte. Verletzt wurde niemand.
RIAS registrierte 2021 insgesamt 22 Angriffe, 28 Bedrohungen, 43 Sachbeschädigungen, 895 Fälle von verletzendem Verhalten sowie 62 antisemitische Massenzuschriften. 2020 wurden in Berlin 1019 antisemitische Vorfälle registriert, 2019 waren es 886.
„Antisemitismus war und ist ein zentrales Problem in der Bundeshauptstadt“, sagte Julia Kopp, Projektreferentin bei RIAS. „Juden werden in sozialen Medien offen angefeindet, das geht hin bis zu Morddrohungen.“ Gleichzeitig biete die Diskussion um Covid-19-Maßnahmen einen Vorwand für antisemitische Vorfälle „Die meisten Angriffe in der Öffentlichkeit passieren bei zufälligen Begegnungen“, sagte sie. Zudem würden antisemitische Begründungen verwandt, wenn es um die Suche nach Profiteuren und Verursachern der Pandemie gehe.
Die meisten Vorfälle gab es 2021 in Neukölln
Das Problem der antisemitischen Vorfälle betreffe zwar ganz Berlin und alle Gesellschaftsschichten, sagte Kopp, aber die meisten Vorfälle habe es im vergangenen Jahr in Neukölln gegeben. Dort habe RIAS 65 Taten registriert, 35 mehr als im Jahr zuvor. Auch in Lichtenberg ist die Zahl der dokumentierten antisemitischen Vorfälle stark gestiegen, von elf im Jahr 2020 auf 36 im vergangenen Jahr.
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Mehr als die Hälfte der von RIAS erfassten Fälle geschahen im Internet und in sozialen Medien. Auch bei konkreten politischen und gesellschaftspolitischen Ereignissen ist die Zahl der Vorfälle gestiegen. 181 antisemitische Vorfälle registrierte RIAS, als im Frühjahr 2021 der israelisch-palästinensische Konflikt aufflammte. Und traditionell steigen im Mai jeden Jahres die Zahlen, weil es dann besonders viele anti-israelische Demonstrationen von Palästinenser-Gruppen gibt.
RIAS erhält von der Polizei keine Informationen mehr
Projektleiter Steinitz beklagte, dass seine Organisation inzwischen aus Datenschutzgründen von den Strafverfolgungsbehörden keine Informationen über Vorfälle erhalte, die von der Polizei aufgenommen werden. Damit sei es nicht möglich, eine Gesamtübersicht der registrierten Fälle von 2021 zu erstellen. Sigmount Königsberg, der Antisemitismusbeauftragte der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, bezeichnete die Informationssperre als „Rückschritt“. In diesem Fall sei „Datenschutz Täterschutz“.
RIAS, 2015 gegründet und vom Senat finanziell gefördert, sammelt Daten auf Grundlage von Meldungen übers Internet, Beobachtungen und arbeitet mit Opferberatungsstellen. Bis zum vergangenen Jahr hatte RIAS auch noch Informationen von der Polizei erhalten.
Zumindest gibt es für es für Organisation Hoffnung, dass der Datenaustausch mit der Polizei in Zukunft wieder besser funktioniert. Die Fraktionen von SPD, Grüne, CDU, Linke und FDP im Abgeordnetenhaus erklärten, sie sollten sich um eine Lösung des Problems kümmern.
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