zum Hauptinhalt
Der Wartebereich der Praxis KU 64 am Kurfürstendamm.

©  Thilo Rückeis

Zahnärzte für Kinder: In der Höhle von Karies und Baktus

Kinder haben oft Angst vor dem Zahnarzt. Weil sie während der Behandlung völlig machtlos sind. Mehrere Praxen in Berlin haben sich auf die kleinen Patienten spezialisiert. Ein Besuch am Kurfürstendamm und in Mitte.

Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee erfüllt den Raum. Ein Vater spielt Tischkicker mit seinem Sohn. Rechts sitzen Mutter und Tochter und malen. Überall Spielgeräte, fröhliche Kinderstimmen. Die zischende Kaffeemaschine, in leuchtendem Orange gestrichene Wände und die surrealistisch runden Formen der Räume erzeugen den Eindruck, dass man sich einem Familiencafé aufhält. Plötzlich rennt ein Kind vorbei. In dem breiten Grinsen zeigen sich viele Zahnlücken. Klar: Das hier ist keine Wellnessoase, sondern eine Zahnarztpraxis für Kinder. Sie gehört zu KU 64, einer großen Praxis in Charlottenburg.

Das Wellnessoasen-Flair, die Spielgeräte, die Maltische sind bewusst gewählt. Sie haben nur ein Ziel: Kindern die Angst zu nehmen. Die haben Spaß und sind abgelenkt. Offenbar funktioniert das Konzept. Wenn das Interieur schon Erwachsene so täuschen kann, die Kinder wohl sicher. Aber warum treibt die Praxis, die gern damit wirbt, außergewöhnliche Innendesigns auch für Erwachsene zu bieten, hier so einen immensen Aufwand? Sie folgt dem Motto: Entspannte Patienten sind gute Patienten. Deshalb können die Kinder erst mal frei rumrennen und spielen. Es gibt sogar ein „Kino-Bällebad“, ein großes Becken mit vielen bunten Bällen und High-tech-Spielzeug wie eine Playstation.

Das Kinderparadies ist nicht der einzige Raum speziell für Kinder und Eltern. Die Praxis verfolgt auch einen didaktischen Ansatz, sichtbar zum Beispiel in der „Karieshöhle“. Dieser dunkle Raum ist nicht viel größer als zwei Duschkabinen. Unter der Raumdecke leuchten kleine Modelle der Zahnfeinde Karies und Baktus im Schwarzlicht. Überall bedecken Spiegel die Wände, so dass mehrere Kinder gleichzeitig den Mund auf Plaque untersuchen können. Das Schwarzlicht macht es sichtbar. „Wenn die Kinder mit eigenen Augen sehen, dass sich tatsächlich Schmutz auf den Zähnen befindet, engagieren sie sich mehr für die Gesundheit ihrer Zähne“, sagt Inke Supantia, Kinderzahnärztin in der Praxis KU 64. Außerdem kontrollieren sie, ob sie ihre Zähne richtig putzen. Dafür gibt es gleich neben der Karieshöhle ein Waschbecken mit neuen Kinderzahnbürsten und Zahnpasta. Sind die Kleinen dort fertig, geht es wieder zurück in die Höhle für einen letzten Check. Der Effekt der Mühe ist direkt sichtbar.

Naemi fühlt sich sicher und braucht keine weitere Ablenkung

Naemi ist acht und hat heute einen Termin bei Inke Supantia. Sie trägt eine blaue Hose und die dunkelblonden Haare zum Zopf geflochten. Bis eben noch hat sie am Kletterseil in der Wartezone gespielt. „Ich kann schon ganz nach oben klettern“, sagt die Kleine stolz. Ihre ganze Familie – Vater, Mutter, kleiner Bruder – sind mitgekommen, um sie zu unterstützen. Aber das wäre wohl gar nicht nötig gewesen. Denn heute geht es nur um eine harmlose Zahnkontrolle. Und Naemi kennt ihre Zahnärztin, vertraut ihr – obwohl sie ihr vor ein paar Wochen einen kariösen Milchzahn ziehen musste. Dagegen ist die Kontrolle heute ein Kinderspiel.

Zum Behandlungszimmer führt ein in hellem Orange gestrichener Flur. Auch im Zimmer selbst prangen bunte Bilder an den Wänden. Wäre da nicht der der Zahnarztstuhl mit einer an einen Tentakel erinnernden Untersuchungslampe, man könnte denken, immer noch in einem Spielzimmer zu sein. An der Decke hängt ein Fernseher, auf dem ein Trickfilm läuft. Aber Naemi hat keinen Blick dafür, sie fühlt sich sicher und braucht keine weitere Ablenkung. Lieber fokussiert sie sich auf die Zahnärztin. Einen distanzierenden Arztkittel trägt Supantia nicht. Stattdessen ein helles T-Shirt mit fröhlichen Worten in bunten Buchstaben: „West Coast Kids“. Mit breitem Lächeln begrüßt sie Naemi, reicht ihr „Kroko“, das Krokodil. Das Kuscheltier erfüllt zwei wichtigen Aufgaben: Erstens können die Kinder an dessen großen Zähnen zeigen, wie sie sich die Zähne putzen. Zweitens können die Kleinen sich ankuscheln und bekommen so die tröstliche Botschaft, nicht alleine im Zahnarztstuhl zu sitzen.

Im äußersten Fall kommt Narkose zum Einsatz

Der Wartebereich der Praxis KU 64 am Kurfürstendamm.
Der Wartebereich der Praxis KU 64 am Kurfürstendamm.

©  Thilo Rückeis

Nun geht’s los. Die Zahnärztin greift zum ersten Instrument. Sie erklärt dem Kind jeden Schritt, den sie tun wird. „Zuerst puste ich mit der Dusche zwischen deinen Zähnen, o. k.?“ Naemi nickt. Mit dem Hochdruckgerät, groß wie eine elektrische Zahnbürste, sprüht die Zahnärztin eine Mischung von Luft und Wasser erst einmal auf Naemis Hand, zur Demonstration, dass das nicht schlimm ist. Dann geht Inke Supantia mit dem Gerät zu den Beißerchen des Mädchens. „Die meisten Kinder sind im Zahnarztstuhl extrem sensibel für Geräusche und Berührungen, deshalb gewöhne ich sie immer erst an die Apparate. Ich möchte vermeiden, dass sie sich erschrecken.“ Supantia kontrolliert mit einem von Naemi ausgesuchten Spiegel die Zähne. Mit einer Zahnsonde entfernt sie, wo nötig, letzte Reste Zahnbelag. Die Prophylaxe dauert nicht länger als 15 Minuten. Vater David schaut still zu, was die Zahnärztin macht. Er hat seinen Sohn, mit dem er vorhin Tischfußball spielte, auf dem Schoß. Selber hatte er früher immer Angst vor dem Zahnarzt. „Ich hatte eher einen ,Metzger‘ als einen Zahnarzt“, erzählt er lachend. Heute würden Zahnärzte ganz anders mit Kinder umgehen.

Doch nicht immer laufen die Besuche für die Kinder so glimpflich ab. Eine Treppe tiefer liegt ein anderer Behandlungsraum. Der Abstieg hinunter muss sich für viele Kinder unerträglich anfühlen. Dieser Ort macht ihnen oft Angst, denn hier ziehen, füllen oder versiegeln die Ärzte die Beißerchen. Trotz aller Ablenkungen und beruhigender Maßnahmen gibt es natürlich immer widerspenstige Kinder. Sie sind sehr ängstlich und wollen ihren Mund nicht öffnen. „Im allerletzten Fall bringe ich das Kind unter Narkose“, erklärt Supantia. Was sie ungern macht, denn mit Anästhesie sei immer auch Risiko verbunden. In ihrer Kinderpraxis behandelten die Ärzte jedes zehnte Kind – etwa einmal in der Woche – unter Vollnarkose. Bei längeren Behandlungen, etwa einer fortgeschrittenen frühkindlichen Karies, sei immer eine Sedierung notwendig. Der Eingriff dauert um die anderthalb Stunden.

Kinder- und Jugendzahnärztin Inke Supantica mit der 8-Jährigen Naemi.
Kinder- und Jugendzahnärztin Inke Supantica mit der 8-Jährigen Naemi.

© Thilo Rückeis

Um eine solche komplexere Behandlung zu beobachten, aber auch, um ein anderes Konzept in Augenschein zu nehmen, haben wir eine zweite Kinderzahnarztpraxis aufgesucht. Die Praxis Heise in der Torstraße scheint auf den ersten Blick sehr viel weniger eine Spielwelt zu sein als die KU 64. Mit kleinen Zimmern, cremeweiß gestrichenen Wänden und engem Altbauflur entspricht sie eher der Erwartung an eine Arztpraxis. Nicht überraschend: Hier behandeln die Mediziner auch Erwachsene. Doch man spürt die Bemühung, die Strenge des Interieurs zu lindern. An der Wand: Tierbilder, auf den Möbeln: bunte Blumen. Annegret Heise, Leiterin der Praxis, verzichtet bewusst auf weitere ablenkende Dinge. „Sobald sie im Stuhl sitzen, gibt es bei jedem Kind eine bestimmte Anspannung“, sagt die Kinderzahnärztin. „Irgendwelche Ablenkungen haben dann nur noch wenig Effekt.“

Trotzdem gibt es auch in ihrem Warteraum eine Kinderecke mit Kuscheltieren und Spielzeug. Auf einem kleinen Tisch können die Kinder malen. Daneben: ein Regal mit Büchern. Doch der siebenjährige Alfie ignoriert das Angebot, liest lieber Marvel Comics. Auf seinem grauen, langarmigen Shirt steht „Star Wars“. Halblange schwarze Haare bedecken seine Ohren. Wie Naemi hat er heute eine Prophylaxe. Ohne zu zögern setzt Alfie sich in den Zahnarztstuhl, lehnt sich zurück. Mit einem Knopfdruck bewegt Annegret Heise den Stuhl nach hinten, bis Alfie praktisch horizontal liegt. Oberhalb des Sitzes baumelt ein kleines Holzflugzeug. Hier gibt es keinen Fernseher oder andere Ablenkungen, hier könne es nur um die Zusammenarbeit zwischen Kind und Zahnärztin gehen, sagt Heise. In den folgenden 30 Minuten führt die in Türkis gekleidete Ärztin die Dentalkontrolle gewissenhaft durch.

Es fällt auf, dass weder Naemi in der schicken Charlottenburger Praxis noch Alfie in der etwas schlichteren Praxis in Mitte überhaupt Probleme mit ihrem Zahnarztbesuch hatten. Haben sich die Methoden professioneller Zahnreinigung bei Kindern so verändert in den letzten Jahren oder ist eine Prophylaxe für Kinder wirklich nicht so schlimm im Vergleich zu einer richtigen Behandlung? Schauen wir nach. Auch Zahnärztin Heise hat wie die Kollegen in Charlottenburg noch einen zweiten Behandlungsraum für schwierigere Fälle. Sie strahlt eher robuste Behandlungsfreude aus als zurückhaltende Sanftheit, weiß aber genau, wie sie mit den Kleinen umgehen muss. „Es ist sehr wichtig, dass man ehrlich zu den Kindern ist, denn manchmal tut es einfach weh, wenn man kranke Zähne behandeln muss“, sagt Heise. Dann zählen hauptsächlich die Kompetenz der Ärzte und der direkte Umgang mit dem Kind.

Hörbücher sind die Hauptwaffe

Das zeigt sich auch in diesem Behandlungsraum. In 20 Minuten zieht Annagret Heise hier bei Rama ( 7) einen Zahn, versiegelt einen anderen, muss bei zwei weiteren bohren und eine Füllung einsetzen. Hier sieht man, warum Kinder oft Angst haben vor dem Zahnarzt. Es ist dem Mädchen sichtlich unangenehm, was Heise tun muss. Sie weint, wimmert, und tritt mit ihren Beinen. Immer wenn sie zu zappelig wird, versucht die Ärztin, sie sofort zu beruhigen, aber konzentriert sich hauptsächlich auf die Behandlung. Es sind weniger die Schmerzen, die das Mädchen beunruhigen – die Spritze wirkt natürlich –, sondern der Druck im Mund, die Geräusche und dass sie so lange ihren Mund offenhalten muss. Um die unangenehme Situation durchzustehen, hört Rama eine Geschichte mit Kopfhörern. „Hörbücher sind meine Hauptwaffe“, erklärt Heise. „Kinder brauchen im Zahnarztstuhl immer irgendeine Möglichkeit, Kontrolle auszuüben.“ Denn während der Behandlung seien sie völlig machtlos – und fühlten sich auch so. Doch die Kontrolle der Geschichten, die sie hören, liegt bei ihnen. Die Kleinen visualisieren Bilder zu den Erzählungen und sind damit meist gut abgelenkt. Trotzdem kann Rama die zwei Frauen, die sich um ihre Zähne bemühen – Heise und eine Assistentin – hören. Sie reagiert auf jedes Wort. Auf ihren Kinderhänden ruhen die besänftigenden Hände der Assistentin. Doch all die aufklärenden Worte, ablenkenden Hörbücher und beruhigenden Berührungen haben weniger Bedeutung, wenn es sich wirklich unangenehm anfühlt. Dann zählt für das Kind nur noch eines: dass es schnell vorbei ist.

Endlich ist Heise mit der Behandlung fertig. Rama kann es gar nicht abwarten, sich zu trösten, und öffnet blitzschnell die kleine Schatzkiste, in der ein kleines Geschenk als Belohnung fürs Tapfersein auf sie wartet. Es ist eine holzgeschnittene Puppe. Die Tränen versiegen, ihr trauriges Gesicht strahlt wieder. Der CD-Player liegt unbeachtet auf dem Behandlungsstuhl. Er wird nicht mehr gebraucht. So wie alle anderen Ablenkungen.

In Berlin gibt es mehr als 40 Zahnärzte, die auf die Behandlung von Kindern spezialisiert sind. Finden kann man sie mithilfe der Zahnarztsuche der Zahnärztekammer Berlin, online unter zaek-berlin.de/patienten/zahnarztsuche.html. Weitere Artikel zum Thema Zahngesundheit finden Sie auch im neuen Magazin „Tagesspiegel GESUND ZÄHNE“. Es erscheint am 3. März und kostet 12,80 Euro, für Tagesspiegel-Abonnenten 9,80 Euro. Das Magazin ist erhältlich im Tagesspiegel-Shop, www.tagesspiegel.de/shop, Tel. 29021-520, und im Zeitschriftenhandel.

Von Floris Kiezebrink

Zur Startseite